âdra
Volume I, Column 54
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âdraAWB f. ō- und n-St. bezeichnet fast immer
ein den menschlichen oder tierischen Körper
durchziehendes Gefäß oder Band, also Ader,
Blutgefäß
(vena), aber auch Sehne, Nerv,
Muskel
(fibra, filum, nervus) und einmal Wur-
zelfaser
(fibra); außerdem vier- oder fünfmal
(davon einmal pl.) Eingeweide (ilia, viscera)
dieselbe Bedeutung hat ahd. innâdiri, inâdri
(Starck-Wells 303); dazu kommt dreimal Ver-
wendung im Sinne von Wasserader (vena), die
einzige Bedeutung, in der sich ahd. âdra mit
ahd. ida (s. d.) überschneidet (s. E. Karg-Ga-
sterstädt, PBB 63 [1939], 1304); Var.: adr-,
ader-, athr-. Mhd. âder(e), âdre Ader, Sehne,
auch Bogensehne, und im pl. gelegentlich Ein-
geweide
, übertragen Sinnesart: zêhe âdern
(Passional, ed. Köpke 281, 75); auch mhd. ist
noch eine Ableit. in-æder(e) st. n. Eingeweide
bezeugt. Nhd. Ader.

Ahd. Wb. I, 30 ff.; Schützeichel³ 2; Starck-Wells 15.
273 (herz-). 303 (inn-); Graff I, 156 f.; Schade 3. 444;
Lexer I, 21 f. 1428; Benecke I, 9 f.; Dt. Wb. I, 178 ff.;
Kluge²¹ 7.

Dem ahd. Wort fehlt es nicht an Entsprechun-
gen in den anderen westgerm. Dialekten sowie
im Skandinavischen; nur Wulfila hatte keinen
Anlaß, in den uns erhaltenen Teilen seiner Bi-
belübersetzung das Wort zu gebrauchen (Ver-
wandtschaft mit got. idreig-, so K. F. Johansson,
Gött. Gel. Anz. [1890], 750. 766 ff., scheidet
aus): as. nur in Komp. wintathren (Gl. 3, 430,
33) arteriae, ināthiri Brüss. Prud., *innathiri n.
ja-St., ausgelöst aus dem pp. vt-ge-innathridimo
eviscerata, ausgeweidet Prud. Gl. 57b (Gallée,
As. Gr.² § 130, 2; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm.
97, 20 f.; anders E. Sievers, PBB 5 [1878], 531),
dazu hartinnēth(e)re wohl n. ja-St. (Gl. 3, 431,
45 f.) viscera, vitalia, hertāthere (Gl. 3, 722, 21)
fibrae, Starck-Wells 273; mndd. āder (pl. auch
Eingeweide); andfrk. innēthron dat. pl. n. ja-
St. visceribus (Lipsius’sche Gl.: Helten, Aost-
ndfrk. Psalmenfragmente 75 [Nr. 454] und 154);
mndl. ād(e)re, nndl. āder; afries. ddre vena.

Im Aengl. lautet die wests. Form ǣdre (ǣder)
arteria, vena, ren mit -d-, später auch æddre
(ædder) mit Konsonantendopplung und Kür-
zung des Vokals vor r (Sievers-Brunner, Ae.
Gr.³ § 229; Campbell, OE Gr. § 453), die merci-
sche Form ēdr (Vesp. Ps.): urg. -þr- erscheint
ae. je nach der lautlichen Umgebung als -dr-
oder -ðr-, die resultierenden Ausgleichsformen
sind dann mundartlich aufgeteilt (Sievers-Brun-
ner, Ae. Gr.³ § 210, 3 und Anm. 7; Campbell,
OE Gr. § 422).

Auch im Nordgerm. ist das Wort seine eigenen
Wege gegangen: da man das ausl. -r in aisl. ǽðr
als nom. sg.-Endung mißdeutete, so wurden die
übrigen Kasus zu einer reduzierten Stammform
ǽð-, entsprechend den iō- bzw. i- (und ō-)
Stämmen, gebildet, also gen.sg. ǽðar, dat.acc.
ǽði, nom.pl. ǽðir, ǽðar (so schon J. Schmidt,
Idg. Neutra 198; Noreen, Aisl. Gr.⁴ § 384. 390),
nisl. ǽð Ader, Sehne, Wasserlauf; anorw. ǣðr,
daneben ǣð Blut-, Wasserader, nnorw. aader,
åre; ndän. aare; aschwed. ādher und mit n-Er-
weiterung āþra Ader, Sehne, nschwed. åder
und ådra.

Fick III (Germ.)⁴ 24 f.; Holthausen, As. Wb. 4
(-āthiri). 39 (in-āthiri, -innāthrian). 82 (ūt-inn-
-āthrian); Lasch-Borchling, Mndd. Handw. I, 1, 14
(pl. Inneres, Eingeweide, Mutterleib); Schiller-Lüb-
ben, Mndd. Wb. I, 15; Holthausen, Afries. Wb. 18;
Richthofen, Afries. Wb. 697; Helten, Aostfries. Gr.
§ 15. 150γ; Holthausen, Ae. et. Wb. 9; Bosworth-
Toller, AS Dict. 9. 239. Suppl. 10; Vries, Anord. et.
Wb.² 680 (aus urn. *āðī ist falscher Ansatz); Jó-
hannesson, Isl. et. Wb. 52. 57; Holthausen, Vgl. Wb.
d. Awestnord. 354; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 7
und 787; Torp, Nynorsk et. ordb. 11; Hellquist,
Svensk et. ordb.³ 1416.

Eine dem ahd. âdra zugrundeliegende Form
*ǣþrō(n) führt auf einen idg. r-Stamm *ēt
(**[H]ēHt oder **[H]ēt) zurück, wie er
am klarsten in gr. ἦτορ Herz (äolisch statt
*ἦταρ < *ēt) zutage tritt (J. Schmidt, Idg.
Neutra 117 Anm. 1. 198; Brugmann, Grdr.² II, 1
§ 242; Sommer, Zur Gesch. d. gr. Nom.komp.
135; Schwyzer, Gr. Gram. I, 519). Meillet (tu-
des sur l’ét. du v. slave 167 f.) war geneigt, in idg.
-t, -ter, -tor eine Kennzeichnung der inneren
Organe eines Körpers zu sehen (so auch Brug-
mann, a.a.O. und Specht, Ursprung d. idg. Dekl.
81). Während aber derlei Körperteilnamen im
frühen Idg. als neutrale r-Stämme fungierten,
sind sie später oft zu o/ā-Stämmen erweitert, so
gr. ἦτορ zu ἦτρον Bauch, Unterleib; J. Schmidt
(a.a.O.) stellt sogar die Gleichung auf: gr.
ἦμαρ: ἡμέρα wie gr. ἦτορ (oder *ἦταρ <
*ēt): ahd. âd(a)ra.

Eine idg. Basis *ēt- (vielleicht besser Kollekt.
n.pl. *ētrǝ [**(H)ētH₂], s. E. Hamp, Zfvgl.
Spr. 93 [1979], 3 Fn. 6) wurde von Pedersen,
Vgl. Gr. d. kelt. Spr. II, 44 auch für air. in-athar
Eingeweide vermutet, < älterem *enitro, was
jedoch von W. Cowgill (briefl.) zurückgewiesen
wird, der statt dessen anlautendes *en- oder
*in- voraussetzt. Auch Berneker, Slav. et. Wb.
I, 270, J. Loth, Rev. celt. 43 (1925), 369, Po-
korny 344 gehen von einer idg. Form mit -ō-
Ablaut (zu *ēt-) aus, *en-ōt-, die nicht nur zu
mkorn. en-ēder-en extum, sondern auch in
Analogie zur Präp. in zu air. in-athar, nir. io-
nathar geworden wäre.

Dagegen ist höchst zweifelhaft, aus phonologischen
(-dr- statt idg. -tr-) wie semantischen Gründen, ob
slav. *edro, aksl. jadra n.pl., russ. nedro Inneres, Bu-
sen, Schoß
hierher gehören (s. F. Fortunatov, Arch. f.
slav. Phil. 12 [1890], 102 f.; S. Bugge, BB 18 [1892],
171; Berneker, Slav. et. Wb. I, 270 f.; A. Brückner,
Zfvgl. Spr. 45 [1913], 317; Vaillant, Gr. comp. des lan-
gues slaves II, 180; Vasmer, Russ. et. Wb. I, 208 f. III,
195. 499); wohl ebenso unsicher ist av. xvāϑra- εὐϑυ-
μία
aus *su-ātra Pokorny 344. Dasselbe gilt, trotz J.
Schmidts verlockender Gleichungen und H. Hirts weiter-
führender Parallelen, wohl auch von einem Anschluß an
aind. antrá- (mit Vddhierung ved. āntrá-) Eingeweide
(Mayrhofer, K. et. Wb. d. Aind. I, 35 f.), av. antarō, arm.
ǝnder-kՙ, gr. ἔντερα, lat. intestīna (zu interior), aksl. j-
tro Leber, man müßte sich denn zu einem sehr frü-
hen Nasalschwund vor -t- (oder einer nicht weniger
frühen Reduktion des Langdiphthongen -ēn- zu
-ē- im Wortinnern vor -t-) verstehen, und zwar unter
Bedingungen, die bislang noch nicht hinreichend ge-
klärt sind (J. Schmidt, Idg. Vokalismus 469; Hirt, Idg.
Gr. II § 96; Walde-Pokorny I, 117; E. Karg-Gaster-
städt, PBB 63 [1939], 134). Nur so wäre ein Zusam-
menhang zwischen germ. *ǣþr- und *inþr- (anord.
iðrar f.pl. Eingeweide < *innrar < *enþerōz, Jóh-
annesson, Isl. et. Wb. 57; Vries, Anord. et. Wb.² 283)
wahrscheinlich zu machen, den allerdings auch das
offenbare Fehlen verwandter Ablautstufen zu *ēt,
mit Ausnahme des umstrittenen *-ōt (s. o.), nahelegt.
Durchaus abwegig dagegen ist der Versuch von
Heinertz, Et. Stud. z. Ahd. 1 ff., ahd. âdra (vermeint-
lich < urg. *ǣþ-) auf die idg. Wz. *e-: *i- gehen
zurückzuführen, also etwa die sich bewegende, d. i.
schlagende Ader
(dazu E. Karg-Gasterstädt, PBB 63
[1939], 134; Specht, Ursprung d. idg. Dekl. 81 Anm.
2).

Fick I (Idg.)⁴ 366; Walde-Pokorny I, 117; Pokorny
344; Brugmann, Grdr.² II, 1 § 242; Mayrhofer, K. et.
Wb. d. Aind. I, 35 f.; Boisacq, Dict. ét. gr.⁴ 330; Frisk,
Gr. et. Wb. I, 645; Chantraine, Dict. ét. gr. 418; Cur-
tius, Grundzüge d. gr. Et.⁵ 309 (Nr. 425); Schwyzer,
Gr. Gram. I, 519 (mit falscher Lesung innidari);
Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. I, 746; Fick II (Kelt.)⁴
30 (entereto-); Miklosich, Et. Wb. d. slav. Spr. 99 (ja-
dro 2); Berneker, Slav. et. Wb. I, 270 f.; Trautmann,
Balt.-Slav. Wb. 69 f. (entra-); Vasmer, Russ. et. Wb.
II, 208 f. III, 499; E. Fraenkel, Arch. f. slav. Phil. 39
(1925), 73.

Was die Bedeutungsschwankungen und -über-
gänge Ader Sehne Eingeweide Unterleib
Magen Herz
anbelangt, so fehlt es nicht an
Parallelen aus alter und neuerer Zeit. So bedeu-
tet gr. ἦτορ Herz, ἦτρον Unterleib, ahd. her-
dar
Eingeweide, viscera (Notker) (s. d.), ae.
hreðer Brust, Leib, Busen; Herz, Sinn, Ge-
danke
, got. hairþra pl. Eingeweide, auch
Randglosse zu brusts, lit. kartóklis Blätterma-
gen
(s. Persson, Beitr. z. idg. Wortf. 957;
Walde-Pokorny I, 422).

Aber auch die heutigen Mundarten, zumal auf
obd. Gebiet, bestätigen den gelegentlichen
Wortsinn Eingeweide, wie etwa Kranzmayer,
Wb. d. bair. Mdaa. in Österr. I, 80 f.: Ader Blut-
gefäß
, seltener Sehne, Nerv, und außerdem
die unedlen Eingeweide oder Teile dieser in
Zss. wie Gekrös-, Farzader (= Rectum); letzte-
res auch bei Mitzka, Schles. Wb. I, 260; dazu
kommen Wasser-, Holz-, Gesteins-, Erzader.
Ähnliches verzeichnet das Schweiz. Id. I, 86 ff.,
aber Ingeäder nur für das Eingeweide der Fi-
sche. Bei Fischer, Schwäb. Wb. I, 104 f. heißt es
Blutader, ... übergehend in den Begriff des
Hohlraums im Körper
. In den weiter nördlich
gelegenen Mundarten scheinen nur die auch in
der Hochsprache geltenden Bedeutungen üb-
lich zu sein.

S. auch innôdi(li).

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