agawisfirinriAWB m. ja-St. (Gl. 1, 233, 11 [R]; 9.
Jh.) ‚öffentlicher Sünder, publicanus‘ (vgl. Luk.
18, 9 ff.).
Zss. aus agawis adv. ‚öffentlich‘ und firinri
‚Sünder, Übeltäter‘, nomen agentis zu firina
‚Sünde, Verbrechen‘ (s.d.). Solche freien Über-
setzungen von publicanus — man könnte fast sa-
gen, solche Wortspiele, die den Begriff publicus
mit der Selbstbeschreibung des Zöllners als ei-
nes Sünders vereinigen — scheinen im Mittelal-
ter weit verbreitet gewesen zu sein: mit agawis-
firinri und dem einmal in der ahd. Bened.regel
vorkommenden achiuuizfirinari (Steinmeyer,
Spr.denkm. 217, 15—16) ist in erster Linie die er-
staunlich ähnliche Übersetzung ēawisfirina im
ae. Rushworth-Evangelium (10. Jh.) zu verglei-
chen. Ob es sich um eine Lehnbildung auf der
einen oder der anderen Seite handelt, ist nicht
festzustellen. Dazu kommen auch andere un-
verwandte Bildungen wie ahd. offensundâre
(Notker, Ps. gl.), ae. bærsynnig, aisl. bersyndugr
usw.
Ahd. Wb. I, 61 (agauuis-). 93 (achiuuis-); Schützei-
chel³ 3 (achiwiz-); Starck-Wells 17; Graff I, 136 f.;
III, 679; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 470 (publicanus);
Köbler, Lat.-germ. Lex. 345 (publicanus); Betz,
Deutsch u. Lat. 69 f.; H. Weyhe, Streitberg-Festgabe
211 ff. — Vgl. auch Sehrt, Notker-Gl. 150 (óffen-sún-
dâre); Bosworth-Toller, AS Dict. 67 (bær-synnig);
Fritzner, Ordb. over d. g. norske sprog I, 133 (bersyn-
dugr).
Der erste Teil der Zss. ist auch sonst belegt: als
akiuuis (Gl. 1, 224, 37 [K]) ‚öffentlich, offenbar,
publice‘; akeuuisso (Clm 14379; 9. Jh.) ‚sub certi-
tudine‘; ackiuuislihho (Gl. 1, 254, 2 [K]) ‚specia-
liter‘ (nach species ‚Aussehen‘); dazu im part.
prät. eines Verbums *ag(a)wissôn: ka-ac-uuissot
(Gl. 1, 107, 35 [R]) ‚publicatum‘.
Die Gl.hs. Ra, der offenbar die Form agi-, acki-
fremd war, ändert ackiuuis (K) in augiuuis, während
ackiuuislihho (K) durch kiuuislihho ersetzt wird.
Wie aus der Bed. klar hervorgeht, bestehen
diese Wörter aus einer Ableit. der idg. Wz.
*oku̯- ‚sehen, Auge‘ (→ ahta, ouga) und germ.
*-wis(s)- wie in ahd. giwis, giwisso ‚gewiß‘ (s.d.)
< idg. *u̯id-to-, Part.-Bildung zur Wz. *u̯ei̯d-
‚sehen‘ (→ wizzan).
Außerhalb des Germ. ist eine ähnliche Bildung in
russ. očevídnyj, poln. oczywisty usw. ‚augenscheinlich,
offenbar‘ zu vergleichen.
Neben den schon erwähnten Formen aga-, ake-,
acki-, achi- erscheint das erste Element auch als
ac- in acsiuni (Tatian 88, 12) ‚Aussehen, species‘
(von Sievers in aucsiuni korrigiert); awi-, awe-
in awizoraht (Gl. 1, 224, 36 [Ra]), awezoraht
(Gl. 2, 248, 43) ‚palam, evidens‘; au- ou- in au-
zor(a)ht (Gl. 1, 77, 20. 135, 9. [Ra]) ‚dss.‘, giou-
zorhtot (Tatian 237, 6) ‚manifestatus‘ (vgl. ae.
ēa[w]- in ēawisfirina, ēawunga ‚publice, manife-
ste, palam‘ usw.); und ouga- (auga-, auc-) in ou-
gazor(a)ht ‚evidens, palam‘, ougsiuni ‚Angesicht‘
usw.
Ahd. Wb. I, 61. 63. 93. 94. 753. 758; Schützeichel³
145; Starck-Wells 17. 19. 455 f.; Graff I, 136 f.; V,
705 f.; VI, 128.
Es besteht kein Zweifel, daß alle diese Varian-
ten auf idg. *oku̯- zurückzuführen sind, aber
die einzelnen Formen zeigen verschiedene z. T.
analogisch gestörte Entwicklungen des idg. La-
biovelars: 1) vor dunklen Vokalen *oku̯ó- >
aga-, obd. auch aka-; 2) vor i̯ *oku̯i̯á > *aggj-
> obd. acki-; 3) vor hellen Vokalen *oku̯í- >
awi-. Zu oug-, aug- → ouga.
Obgleich die Behandlung des Labiovelars im
Germ. in verschiedenen Umgebungen umstrit-
ten ist, scheinen diese Formen eine Bestätigung
von Brugmanns Grdr.² I, § 674. 676. 678 f. 681 f.
angegebenen Regeln zu liefern (s. auch s.v.
ouwa). Etwas anders bei Gröger, Ahd. u. as.
Komp.fuge 20 f.
Abzulehnen F. Specht, Zfvgl.Spr. 62 (1934—35), 210 ff.
(idg. *o- neben *oku̯-). Sicher verfehlt sind Verglei-
che von ahd. au(ue)-, ae. ēaw- mit aksl. (j)aviti ‚zei-
gen‘, aind. āví- ‚offenbar‘; vgl. Holthausen, Ae. et.
Wb. 87 und s. ouga.