agresse
Band I, Spalte 93
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agresse st.sw.f. (nur einmal belegt, Gl. 3, 568,
46, Innsbrucker Hs. 355 aus dem 14. Jh., und
zwar ist die mhd. Glosse, wie Steinmeyer an-
merkt, eigens neu gemacht zu lat. vinea)
(Stock oder Saft von unreifen) Weintrauben.

An paralleler Stelle dieses alphabetischen Pflanzen-
glossars hat Clm. 615 das lat. Lemma vsnea, gefolgt
von einem unverständlichen und schon in der Hs.
korrigierten grenzce (Starck-Wells, Ahd. Gl.wb. 239
restauriert ein ahd. *grenizza, s.d.). Aber auch ein lat.
vsnea, das sonst immer = muscus, ahd. mos, mies ist,
paßt nicht in den Zusammenhang, und man ist ver-
sucht, als ursprl. Lesart *Vrtica Eiternessel zu ver-
muten, das auch sonst ungefähr an dieser Stelle des
Alphabets erscheint. Allerdings ist Vrtica kurz vorher,
568, 24 schon einmal erwähnt, aber dieselbe Wieder-
holung (mit Beiwort) in fast demselben Abstand be-
gegnet auch sonst, etwa im Summarium Heinrici Gl. 3,
263, 30 Vrtica und 263, 69 Vrtica *grenatica (die Hs.
hat fälschlich grenanica): sollte gar dieses bei Vrtica
übliche lat. Beiwort in dem noch immer unerklärten
grenzce eine irrtümliche Verdeutschung erfahren ha-
ben? Wie dem auch sei, der Verlegenheitseinfall von
Fischer, Mittellat. Pflanzenkunde 281, das an sich
sinnvolle lat. Lemma vsnea des Clm. 615 (mit Rück-
sicht auf mhd. agresse der Innsbrucker Hs.!) in *Vva
spina Stachelbeer zu emendieren, sollte fürderhin
keinen Glauben mehr finden (wie noch Ahd. Wb. I,
63
); ja, aus der ganzen Parallelstelle in Clm. 615 sind
für die Analyse des nur in der Innsbrucker Hs. 355
verzeichneten mhd. agresse und seines lat. Lemma vi-
nea keinerlei Folgen zu ziehen und der Wandel von
Vrtica zu Vinea ist für einen Schreiber, der eben
noch vinca für vinea verlesen hat, paläographisch un-
schwer hinzunehmen (Gl. 3, 568, 4).

Umso wichtiger ist jedes zusätzliche Zeugnis
aus literarischen Quellen: so gebraucht etwa
Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival
238, 27 mhd. agrâz (im Reim mit vrâz) in der
Bedeutung Saft von sauren Trauben (und
Obst)
; dieselbe Wortform ist auch in mittelal-
terlichen Kochrezepten überliefert, so in dem
Buch von guter Speise der Würzb. Hs. (heute in
München), Mitte 14. Jh., hrsg. von Maurer-
Constant (Bibl. d. Lit. Ver. 9), 1844, 13 f. Nr.
32 a und 35. Auch in nhd. Zeit ist das Wort
samt seinen Varianten und mit verschiedenen
Bedeutungen noch in den Mundarten des Sü-
dens, vor allem des österr. Südostens bezeugt
(s. u.).

Ahd. Wb. I, 63; Starck-Wells 17; Schade 6; Lexer I,
28; Benecke I, 13; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 19; Dt.
Wb. I, 190 (agrasz 14971539 und agrest a. 1491.
1716).

Die mask. Form agrâz (auch agraz) mit der Be-
deutung Saft aus sauren Trauben (und Obst)
ist die genaue Wiedergabe eines aprov. agras,
das zusammen mit afrz. aigras, katal. agras,
span. agraz u. a. in seinem Anfangsteil auf mlat.
ācer in der Bedeutung sauer, scharf (im Ge-
schmack)
zurückzuführen ist und dessen En-
dung nach Wartburg mlat. *-aceus voraussetzt.
Nun wurde aber diese Wortgruppe schon in
den roman. Einzelsprachen vielfach von der
Weintraube auf andere Beerenfrüchte übertra-
gen, vor allem auf die meist unreif gepflückte
Stachelbeere, und diese Bedeutung zeigt sich
mehr und mehr im Gebrauch des dt. Lehnwor-
tes und seiner Abkömmlinge in späterer Zeit.

Auch die Lautgestalt von agresse f. (im Gegen-
satz zu agraz m.) ist nicht ohne weiteres klar,
doch wird es sich wohl um eine Analogiebil-
dung zu movierten Feminina handeln nach dem
Muster von mhd. diep m. diupe f. Denkbar
wäre aber auch eine Verschmelzung von agrâz
mit einem verwandten Lehnwort aus dem Ro-
manischen: durch Kontamination von mlat.
ācer und agrestis wildwachsend, in der Meyer-
Lübke überhaupt den Ursprung der ganzen
Sippe von rom. agras etc. sehen wollte, ergab
sich schon im mittelalt. Latein das Wort agresta
f. (auch agg-, ac- geschrieben) mit der Bedeu-
tung Saft unreifer Trauben, omphacium, dazu
eine neutr. Nebenform agrestum, von der ita-
lien. agresto Säuerling, wohl auch afrz. aigret
abzuleiten sind.

Thes. ling. lat. I, 1417; Du Cange I, 150 (agresta); Mit-
tellat. Wb. I, 110 (ācer). 407 ff. (agresta, -um; agrestis;
agrestōsus); Körting, Lat.-rom. Wb.³ Nr. 114. 374;
Meyer-Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr. 92. 295; Wartburg,
Frz. et. Wb. (Neubearb.) XXIV, 94 ff.; Gamillscheg,
Et. Wb. d. frz. Spr.² 503 a.

Erstaunlich ist die Vitalität, mit der sich das rom.
Lehnwort in den heutigen Mdaa. des dt. Südostens
gehalten hat. Auch für die dt.-sprechende Schweiz,
Baden, Württemberg und Bayern wird fast durchge-
hends die Form Agrest, sowie Agres, etwa mit der Be-
deutung saure Brühe aus unreifen Weinbeeren und
anderem Obst
gemeldet bis herein in die frühnhd.
Periode. In österr. Mdaa. dagegen ist die Wortform
agraß, agrassel m. f. in dem speziellen Sinne von Sta-
chelbeere
lebendig bis auf den heutigen Tag. Die Va-
rianten auf -(e)l sind schwerlich bedingt durch rom.
agrassol (Toulouse) (Wartburg, Frz. et. Wb. I, 18 und
Anm. 6), sondern durch Analogie zu österr. Ribisel
u. ä.

Schweiz. Id. I, 219 (agres[t]); Martin-Lienhart, Wb. d.
els. Mdaa. I, 24 (Ag[g]rest); Ochs, Bad. Wb. I, 27
(Agrest a. 1566); Fischer, Schwäb. Wb. I, 118 ( Agrest
m. nicht zu mhd. agrâz, sondern zu mlat. agresta od.
des Genus wegen italien. agresto
); Schmeller, Bayer.
Wb.² I, 53; Kranzmayer, Wb. d. bair. Mdaa. in Österr.
I, 113 f.; Lexer, Kärnt. Wb. 4; Unger-Khull, Steir.
Wortschatz 14; Mitzka, Schles. Wb. I, 29; Ziesemer,
Preuß. Wb. I, 101 (Agristbeere < poln. agrest). Vgl.
auch Mitzka-Schmitt, Dt. Wortatlas II, Karte 7275
und S. 31 f.; E. Schwarz, Sudetendt. Wortatlas II, Karte
63, und S. 34 f.; Kretschmer, Wortgeographie 244.

Kein Wunder, daß das Wort aus jenen Gegenden fast
in alle östlich anliegenden slav. Nachbarsprachen
gedrungen ist und zwar meist in der Bedeutung Sta-
chelbeere
und vielfach mit ausl. -t: tschech., poln.,
kl.russ. agrest, russ. agrus, serbo-kroat. grȅs Säuer-
ling
. Ja, darüber hinaus fand es seinen Weg ins Unga-
rische und zwar als egres (mit Vokalharmonie). Und
aus dem Ungarischen tritt es dann, mit anl. e-, den
Rückweg an ins Slovak. (egre), Sloven. ēgri, ēgre,
hochspr. ágres, Kroat. ([j]egre, [j]egrit) und in die
dt. Sprachinseln um Preßburg und in Siebenbürgen,
genau so, wie auch das ins Poln. exportierte agrest
seinen Weg wieder zurück nahm in die preußisch-dt.
Mdaa. des Nordostens.

Berneker, Slav. et. Wb. I, 25; Miklosich, Et. Wb. d.
slav. Spr. 1; Vasmer, Russ. et. Wb. I, 5; Sadnik-Aitzet-
müller, Vgl. Wb. d. slav. Spr. Nr. 21; F. Bezlaj, Etimolo-
ki slovar slovenskega jezika (Ljubljana, 1976) 2. 125
(mit Lit.).

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