alrûnAWB m. a-St., alrûnaAWB f. n-St. ‚Alraun(e)‘ (die
zauberkräftige Wurzel der Mandragora), ‚man-
dragora, bulaculon, bullaquillon‘ (zu gr. βομβό-
χυλον, vgl. Thes. ling. lat. II, 2238 s. v. bulboqui-
lon), häufig in Gl., auch bei Williram 128, 11;
einmal begegnet alarun 3, 475, 29; 13. Jh., ein
ander Mal alrunē rinde ‚cortex mandragorae‘ 3,
528, 10; 14. Jh., was als adj. (mhd. alrûnîn),
aber bei der späten Überlieferung auch als gen.
sg. von alrûna verstanden werden kann. — Mhd.
meist alrûne st. sw. f., daneben alrûn st. m. —
Nhd. Alraun m., häufiger Alraune f.
Ahd. Wb. I, 234; Starck-Wells 21; Graff II, 523; Lexer
I, 41; Nachtr. 18; Benecke I, 25; H. Collitz, MLN 34
(1919), 52 ff.; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 346; Dt. Wb.
I, 246; Trübners Dt. Wb. I, 65 f.; Kluge²¹ 16.
Das Wort, das aufs Westgerm. beschränkt zu
sein scheint, lautet mndd. sowohl wie mndl. al-
rūne, nndl. alruin; die neueren skand. Entspre-
chungen wie ndän. alrune, nschwed. alruna sind
aus dem Mndd. entlehnt.
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. I, 1, 61; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. I, 59 f.; Verdam, Mndl. handwb.
36; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 15; Vries, Ndls. et. wb.
13 f.; Wb. d. ndl. taal II, 236 ff.; Falk-Torp, Norw.-
dän. et. Wb. 22; Ordb. o. d. danske sprog I, 480 f.;
Svenska akad. ordb. A—1142 ff.
Für die Etymologie sind zwei Erklärungen her-
angezogen worden. Und zwar findet sich schon
anfangs des 17. Jh.s — wohl zuerst in Peter Lau-
rembergs Acerra Philologica (Rostock, 1637) —
die Gleichsetzung mit dem in Tacitus’ Germa-
nia Kap. 8 erwähnten Namen einer altgerm.
Weissagerin *Albruna, in der Folgezeit befür-
wortet von W. Wackernagel, der auch für die
textkritische Emendation des Passus verant-
wortlich war (Schweiz. Museum f. histor. Wiss. I
[1837], 109; vgl. dazu die eingehende Behand-
lung der Stelle bei R. P. Robinson, The ‚Germa-
nia‘ of Tacitus: A Critical Edition [Middletown,
Conn., 1935], 105 f. 284): die erst aus dem 15.
und 16. Jh. stammenden Hss. der Germania ha-
ben in der Hauptsache Aur-iniam und Alb-ri-
niam (aber nicht *Albruna), letztere Lesart
könnte sehr wohl erst eine Interpolation des
15. Jh.s sein.
Jedenfalls hat es, abgesehen von der textlichen
Unsicherheit, seine Bedenken, den Namen einer
altgerm. Seherin mit der im Hochmittelalter
überlieferten Bezeichnung einer in Deutschland
nicht heimischen zauberkräftigen Pflanzenwur-
zel zu identifizieren, selbst wenn man in dieser
Wurzel, je nach Bedarf, eine menschliche Form
männlichen oder weiblichen Geschlechts zu se-
hen geneigt ist (vgl. „hominis radice similis“ Gl.
3, 338, 31; 12. Jh.). Dabei hilft es auch wenig,
wenn ein paarmal urkundlich erwähnte Perso-
nennamen auf ahd. Albrûna oder ae. Ælfrūn
lauten, s. Förstemann, Adt. Namenbuch2—3 I, 71
(ein ebenda zitiertes anord. Alfrún ist im ge-
samten skand. Schrifttum nicht wiederaufzufin-
den).
Entscheidend ist das Gegenargument, daß in
der ganzen, erst im 11. Jh. einsetzenden, aber
dann sehr reichlich fließenden Überlieferung —
mehr als zwei Dutzend Glossenbelege allein bei
Steinmeyer-Sievers — die Lautgestalt mit dem
zu erwartenden -lbr- nicht ein einziges Mal zu-
tage tritt: nach A. T. Starcks gründlicher Unter-
suchung, Der Alraun (Baltimore, 1917), wird
die Wortform Albrune in seiner ganzen Samm-
lung volkstümlicher Zeugnisse nur einmal ge-
nannt und zwar in F. F. A. Kuhns Sagen, Ge-
bräuche und Märchen aus Westfalen (Leipzig,
1859) 148 im Sinne von „klugen Frauen“. Auch
lautgeschichtlich spricht wenig für die An-
nahme eines b-Schwundes in der Dreierkonso-
nanz -lbr-, noch weniger für die Vermutung,
daß die Vereinfachung von alb- zu al- bewußt
der „Verharmlosung“ einer übernatürlichen
Anspielung dienen sollte.
Ebenso fern liegt irgend ein Zusammenhang mit der
gelegentlich herangezogenen Stelle in Jordanes’ Go-
tengeschichte Kap. XXIV, wo von Zauberweibern die
Rede ist, magae mulieres, quas patrio sermone Haliurun-
nas ... cognominat (Hss. auch Alio-, Aliu-, -rumnas,
-runcas), von K. Müllenhoff mit got. *halja-rūna
gleichgesetzt (Getica, hrsg. von Th. Mommsen,
MGH: Bd. V, 1, 89. 150).
So bleibt wohl nur die andere Alternative, näm-
lich, in dem ersten Wortelement das ahd. al (s.
d.) in seiner verallgemeinernden oder intensi-
vierenden Funktion zu erblicken, ähnlich wie in
ahd. alawâr, alawâra, alamaht, alamahtîg, alanôt
(s. d. d.), so daß sich bei Zss. mit ahd. rûna ‚Ge-
heimnis, raunende Beratung, zauberhaftes We-
sen, geheimnisvolle Kraft‘ (s. d.) als Bedeutung
von ahd. alrûn(a) etwa ‚ganz und gar (durch-
aus, nichts als) geheimnisvolle Zauberkraft‘ er-
gäbe.
Vgl. Marzell, Wb. d. dt. Pflanzennamen I, 214;
Handwb. d. dt. Aberglaubens I, 311 ff.; Hoops Reallex.²
I, 198; Grimm, Dt. Myth.⁴ II, 334 f. 1005 ff.
Mdartlich ist das Wort noch weithin lebendig, vor al-
lem im bayer.-österr. Dialekt von Tirol, s. Kranz-
mayer, Wb. d. bair. Mdaa. in Österr. I, 150 f.; Schatz,
Wb. d. tirol. Mdaa. 16; Schmeller, Bayer. Wb.² I, 56.
II, 107. Aber vereinzelt und meist veraltend auch
sonst, s. Schweiz. Id. I, 174; Fischer, Schwäb. Wb. I,
148 („so gut wie †“); Jutz, Vorarlb. Wb. I, 167 f.;
Müller, Rhein. Wb. I, 127; Maurer-Mulch, Südhess.
Wb. I, 195 (veraltet); Jungandreas, Niedersächs. Wb. I,
303 (Alrūn f.; Alrünken); Mensing, Schleswig-holst.
Wb. I, 106. 108; Wossidlo-Teuchert, Meckl. Wb. I,
266 f.