arg¹
Band I, Spalte 321
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arg¹AWB adj. feige, träge, ignavus; verderbt,
schlecht, böse, verwerflich, perversus, nequam;
unzüchtig, geil, depravatus; geizig, habgierig,
avarus, tenax, parcus; falsch; unheilvoll
Var.:
arc, arak-, arug, areg-, arig-, z. T. mit Sekundär-
vokal zwischen r und Guttural, s. Braune, Ahd.
Gr.¹³ § 69 b. Mhd. arc (arger) ist noch sehr le-
bendig in der Bed. von nichtswürdig, böse, ge-
legentlich auch karg, geizig; im Sinne von
feig wird es durch zage verdrängt oder auch
mit ihm gepaart. In der Gegenwart ist das Wort
hochsprachlich auf wenige Redensarten be-
schränkt, sonst ersetzt durch böse, schlimm u. a.,
lebt aber mdartl. besonders im Süd(west)en des
dt. Sprachgebiets kräftig weiter (s. u.).

Ahd. Wb. I, 632 ff.; Schützeichel³ 10; Starck-Wells
33; Graff I, 411 ff.; Schade 26; Lexer I, 89; Benecke I,
54; Dt. Wb. I, 545 ff.; Klappenbach-Steinitz, Wb. d.
dt. Gegenwartsspr. I, 211; Kluge²¹ 29. Dt. Rechtswb.
I, 812; s. auch H. Rupp, PBB 79 (Halle, 1957), 355.

Ahd. arg hat sprachliche Verwandte in sämtli-
chen germ. Dialekten. Und wenn Langob. als
ältestes Westgerm. gelten darf, so steht am An-
fang unserer Überlieferung das im Edictus Ro-
thari § 381 (a. 643) wie auch in des Paulus Dia-
conus Historia Langobardorum VI, 24 (2. Hälfte
des 8. Jh.s) bezeugte arga, dessen Bedeutung
vom Chronisten mit lat. iners et inutilis wie-
dergegeben wird; die Endung -a (in jüngeren
Hss. des Edictus Rothari viermal -am) hat man
seit J. Grimm, Dt. Rechtsalt.⁴ (1828) 644 und,
ihm folgend, mit W. Bruckner, Spr. d. Langob.
190, G. Baesecke, PBB 59 (1935), 91. 97 und E.
Schwarz, ZMF 21 (1952/53), 134 f. als sw.nom.
bzw. voc.sg.m. des Adj. erklärt, eine noch der
ae. (-a) und as. (-a/-o) entsprechende nordsee-
germ.
Form statt der späteren ahd. mit -o,
bis H. Kuhn (ZfdA. 86 [1955/56], 4 f.) nahe-
legte, doch auch die Möglichkeit eines fem.
Schmähsubstantivs in Betracht zu ziehen
nach dem allerdings ein halbes Jahrtausend jün-
geren und spezifisch nordgerm. Muster etwa
von aisl. bleyða f. Feigling, Memme f. (=
bleyðimaðr). Das langob. Wort fällt bei Paulus
Diaconus nur deshalb, weil in einem Wortstreit
auf Argait, den Namen des verhöhnten Part-
ners, angespielt wird, parallel dem got. Arg-ai-
thus in Jordanes’ Gotengeschichte 81, 16 (a. 552),
einer Zus.setzung aus arg-, das im Got. sonst
nicht überliefert ist (doch vgl. span. [h]aragán
müßig, Faulenzer < *ar[a]ga-, Körting, Lat.-
rom. Wb.³ Nr. 791 und Grienberger, Unters. z.
got. Wortkunde 103) und höchstwahrscheinlich
-haiþus m. Art, also ahd. argheit vergleichbar
PN auf -heit waren ursprl. nicht fem. (s. Bach,
Dt. Namenkunde I, § 84, 1).

Bruckner, Spr. d. Langob. 47 (mit abwegiger Etym.).
190; Schönfeld, Wb. d. agerm. PN 25; Baesecke, Hil-
debrandlied 26; Rhee, Germ. Wörter in langob. Geset-
zen 31 ff.

Dazu kommen noch folgende Belege aus dem
weiteren germ. Umkreis: as. arg (in PN), mndd.
arch (arich, arig); andfrk. arug perversa (Hel-
ten, Aostndfrk. Psalmenfrg. 60), mndl. arch, erch,
nndl. erg (veraltet u. mdartl. arg); afries. erg
böse, schlimm; ae. earg, -h feige, träge, tremi-
bundus (vor Angst bebend, s. u.); elend, erbärm-
lich; unnütz
; me. argh, ar(e)h, er(u)h u. ä.; ne.
(veraltet u. mdartl.) argh, arch u. ä.; aisl. argr,
mit euphemistischer Metathes. auch ragr (s.
Noreen, Urg. Lautlehre 89 [Wurzelvariation];
dagegen E. Noreen, Studier i fornvästnord. dikt-
ning [Uppsala, 1922], II, 60 ff. und Noreen,
Aisl. Gr.⁴ § 315 Anm. 3) feig, unmännlich, weib-
lich, sittlich entartet
(ragr bes. in letzterem
Sinne), aschwed. argher, nschwed. nnorw. ndän.
arg, ndän. auch arrig (ndd. Lehnwort?) bösar-
tig
; aus dem Nordgerm. entlehnt ist finn. arka
mit der altertümlichen Bed. feig (vgl. Thom-
sen, Einfluß d. germ. Spr. 131; E. N. Setälä,
Finn.-Ugr. Forsch. 13 [1913], 358 mit Lit.). Die
Übersicht ergibt eine germ. Grundform
*araz, deren ältere Bed. wohl feig, unmänn-
lich
war (so zweifellos im Langob. und im Hil-
debrandslied 58), die dann jedoch allgemeiner
minderwertig, untauglich, elend oder aber,
spezifisch auf Sexuelles bezogen wie bes. im
Anord. häufig, pervers bedeutete (dazu vgl.
N. Beckmann, Nord. tidskr. f. fil., 4. Reihe, 9
[1930], 103 ff.; Ark. f. nord. fil. 52 [1936],
78 ff.).

Fick III (Germ.)⁴ 19; Holthausen, As. Wb. 4; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. I, 1, 118 f.; Schiller-Lüb-
ben, Mndd. Wb. I, 123; Verdam, Mndl. handwb. 43.
166 (erch); Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 158; Vries,
Ndls. et. wb. 160; Holthausen, Afries. Wb. 21; Richt-
hofen, Afries. Wb. 711 (erch, erg, arg); Holthausen,
Ae. et. Wb. 85; Bosworth-Toller, AS Dict. 233 (earg,
-h); Suppl. 171 f. (tremibundus); ME Dict. AB,
368 f.; OED I, 441; Vries, Anord. et. Wb.² 13. 432
(ragr); Jóhannesson, Isl. et. Wb. 70; Fritzner, Ordb.
over d. gamle norske sprog I, 71 f.; III, 27; Holthausen,
Vgl. Wb. d. Awestnord. 6. 222; Falk-Torp, Norw.-dän.
et. Wb. 31; Torp, Nynorsk et. ordb. 7; Hellquist
Svensk et. ordb.³ 29 f. Zum Bed. wandel bes. J. Weis-
weiler, IF 41 (1923), 1627.

Anschluß an außergerm. Verwandte ist weniger
befriedigend. Formal stimmt zu germ. *ara-
das gr. intens.-iter. Verbum ὀρχεῖσϑαι beben,
hüpfen, tanzen
(von ἔρχομαι kommen), das
nach Brugmann, Grdr.² II, 1159, Schwyzer, Gr.
Gram. I, 719 u. a. zu aind. ghāyáti bebt (aber
höchstens indirekt Frisk, a.a.O.) und weiter
zu av. ǝrǝyant- entsetzlich, abscheulich ge-
hört; auch toch. A erkāt, B erkatte geringschät-
zig
dürfte hier seine Stelle finden. Zweifelhaft
dagegen bleibt Anknüpfung an alb. erδa kam
(-δ- = idg. *-gh-) und, wegen des ursprl. Pala-
tals, doch wohl abzulehnen ist ein Zusammen-
hang mit der in gr. ὄρχις Hode, lit. eilas
Hengst, arùs lüstern, av. ǝrǝzi Hodensack
vorliegenden Wz. (*erhi-:) *orhi-: *hi-
(Walde-Pokorny I, 147. 182 f.). Auch das bei
Hesych I, 246 glossierte maked. ἀρκόν σχο-
λήν (von Hoffmann, Die Makedonen 64 f.
höchst fraglich auf gr. *ἀ-ερχον zurückge-
führt) bleibt besser aus dem Spiel. So wird man
sich mit dem Ansatz einer idg. Wz. *er(e)gh-:
*or(e)gh-: *regh- (s. Persson, Stud. z. Wurzeler-
weit. 236 Anm. 1) und für das davon abzulei-
tende germ. *ara- mit einer ursprl. Bed.
angstbebend zufriedengeben müssen, wie bei
Kluge²¹ 29 und zuerst wohl von H. Schweizer,
Zfgvl.Spr. 6 (1857), 452 vorgeschlagen.

Walde-Pokorny I, 147 f.; Pokorny 339; Frisk, Gr. et.
Wb. I, 572; II, 433; Boisacq, Dict. ét. gr.⁴ 720;
Chantraine, Dict. ét. gr. 830; Mayrhofer, K. et. Wb. d.
Aind. I, 119; Bartholomae, Airan. Wb. 349; Meyer, Et.
Wb. d. alb. Spr. 96; Fraenkel, Lit. et. Wb. 123; Winde-
kens, Lex. ét. tokh. 22; ders., Le tokharien I, 182; Sieg-
Siegling-Schulze, Toch. Gr. § 13 d. Vgl. auch C.
Watkins, BSLP 70 (1975), 11 ff.

Völlig abwegig J. Loewenthal, PBB 54 (1930), 157,
desgl. L. Sütterlin, IF 45 (1927), 307. Auch das viel-
fach herangezogene air. orgo töte bleibt fern (s.
Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. O30, sowie lit. rãgana
Hexe (s. Fraenkel, Lit. et. Wb. 684).

Während die dt. Hochsprache von heute das Adj. arg
kaum mehr gebraucht, scheint es umgangssprachlich
und mdartl. seine weite Streuung von ehedem durch-
aus bewahrt zu haben, zumal im Südwesten des dt.
Sprachgebiets. Zwar ist die schon im Mittelalter zu-
rücktretende Bed. feig, unmännlich heute von ande-
ren Adj. übernommen worden, aber der allgemeine
Sinn von schlecht, schlimm, übel, bös, boshaft, auch
neidisch, geizig hat sich erhalten und darüber hinaus
sogar eine Schattierung ins Positive: pfiffig, gewandt,
aufgeweckt, übermütig, besorgt
, ja verliebt; adver-
bial dient das Wort in der Umgangssprache wohl am
häufigsten zum Ausdruck eines hohen Grades. Vgl.
Schweiz. Id. I, 445; Martin-Lienhart, Wb. d. els. Mdaa.
I, 66; Ochs, Bad. Wb. I, 770; Fischer, Schwäb. Wb. I,
309 ff.; Schmeller, Bayer Wb.² I, 141; Kranzmayer,
Wb. d. bair. Mdaa. in Österr. I, 322 ff.; Müller, Rhein.
Wb. I, 238 ff.; Christmann, Pfälz. Wb. I, 323; Jung-
andreas, Ndsächs. Wb. I, 481 f.

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