arm²AWB adj. ‚arm, besitzlos; elend, von Leiden
geplagt; gering (an Ansehen), niedrig, unwür-
dig, demütig; pauper, miser, parvus‘ 〈Var.: aram-,
arem- mit Sekundärvokal, aber selten; s.
Braune, Ahd. Gr.¹³ § 65〉; mhd. und nhd. arm.
Ahd. Wb. I, 644 ff.; Schützeichel³ 10; Starck-Wells
34; Graff I, 420 f.; Schade 24; Lexer I, 92 f.; Benecke
I, 57; Dt. Wb. I, 553 ff.; Kluge²¹ 30.
Das Wort ist in sämtlichen germ. Dialekten ver-
treten und, da r und m nicht oft einem lautli-
chen Wandel unterliegen, weitgehend in dersel-
ben Form: as. mndd. arm; mndl. arm, auch
aerm, arem, erm, nndl. arm; afries. erm, arm; ae.
earm, auch ærm, arm (s. Sievers-Brunner, Ae.
Gr.³ § 79), me. (bis etwa 1200 im Gebrauch)
arm, daneben erm ‚poor, poverty-stricken; mise-
rable, unfortunate; unhappy, sad‘; anord. armr
‚unglücklich, elend, schlecht, verächtlich‘; auch
in den anderen skand. Sprachen bedeutete arm
ursprl. meist ‚elend, beklagenswert‘ und über-
nahm erst unter dem Einfluß von dt. arm die
Bed. ‚mittellos‘; got. ist nur der Superl. armostai
(allaizē mannē) einmal belegt für gr. ἐλεεινό-
τεροι, also im Sinne von ‚bemitleidenswert‘, eine
wohl christlich beeinflußte Parallele zu aisl.
allra manna armastr (Egilssaga Kap. 71, 24);
dazu kommt aber, daß das Wort im Anord.
nicht nur ‚Unglück leidend‘ sondern auch ‚Un-
heil wirkend‘ bedeutet, während altengl. und
allgemein westgerm. zunächst die Bed. ‚verein-
samt‘, dann auch ‚bedürftig‘ und erst im Laufe
der Zeit der Sinn von ‚mittellos‘ mehr im Vor-
dergrund steht (vgl. J. Weisweiler, IF 41 [1923],
304 ff.; Schücking, Ags. Dichtersprache 32 f.; H.
Beck [u. K. Strunk], Eggers-Festschrift 18 ff.).
Ins Finnische entlehnt ist armas im Sinne von
‚gratus, carus‘, ins Lappische als armes ‚miserab-
ilis‘; dazu das Subst. finn. armo, lapp. arbmo
‚gratia, favor‘ (s. Thomsen, Einfluß d. germ. Spr.
131, dazu H. Osthoff, PBB 18 [1894], 251 ff.;
E. N. Setälä, Finn.-Ugr. Forsch. 13 [1913], 358
[Bibliographie]).
Holthausen, As. Wb. 4; Sehrt, Wb. z. Hel.² 34. 737;
Berr, Et. Gl. to Hel. 35; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. I, 1, 121; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. I,
126; Verdam, Mndl. handwb. 44; Franck, Et. wb. d.
ndl. taal² 21; Vries, Ndls. et. wb. 19 f.; Holthausen,
Afries. Wb. 21; Richthofen, Afries. Wb. 713; Holthau-
sen, Ae. et. Wb. 86; Bosworth-Toller, AS Dict. 234;
Suppl. 172; ME Dict. A—B, 381; OED I, 450; Vries,
Anord. et. Wb.² 14; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 89 f.;
Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 6; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 32 f.; Torp, Nynorsk et. ordb. 7;
Hellquist, Svensk et. ordb.³ 32. 1460 (öm); Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 57.
Etymologien, die idg. *orm- (:*erm-) vorausset-
zen, ergaben wenig Überzeugendes, da außer-
germ. Entsprechungen immer nur ganz verein-
zelt auftraten oder ihrerseits ungeklärt waren,
wie etwa gr. ἐρῆμος ‚einsam, unbewohnt, ver-
lassen‘ (so Fick III [Germ.]⁴ 24; Persson, Stud.
z. Wurzelerw. 26 Fn. 2; dazu kritisch Boisacq,
Dict. ét. gr.⁴ 278), oder das von A. Meillet,
MSLP 10 (1898), 280 und H. Pedersen, Zfvgl.
Spr. 39 (1906), 416 befürwortete arm. oł-orm
‚Mitleid‘, oł-ormim ‚misereor‘. Vollends unhalt-
bar waren rein spekulative Konstruktionen wie
ein Nomen agentis urg. *armaz von der Wz.
*ar- ‚pflügen‘ im Sinne von ‚Ackerknecht‘ mit
allerlei weittragenden sozialgeschichtlichen
Konsequenzen, so Grienberger, Unters. z. got.
Wortkunde 27 ff.; R. Meringer, IF 17 (1904/05),
128 und 18 (1905/06), 246 ff.; dazu kritisch C.
C. Uhlenbeck, Tijdschrift 25 (1906), 252 f.
Kein Wunder, daß die zuerst von K. F. Johans-
son, PBB 15 (1890), 223 f. angeregte Verknüp-
fung der germ. Wörter für ‚arm‘ mit gr. ὀρφ-
ανός ‚verwaist‘, lat. orbus ‚beraubt‘ (dazu wohl
auch aind. árbha- ‚klein, schwach‘, F. A. Wood,
Mod. Lang. Notes 21 [1906], 39), zumal im
Rahmen von A. Noreens weiterführenden
Kombinationen seitdem alle anderen etym.
Versuche aus dem Feld geschlagen hat. Schon
Johansson ging von einer germ. Basis *arna-,
mit Assimilation *arma- aus, mit weiterer An-
gleichung und Reduktion > *armma-; auch ein
möglicher Zusammenhang mit den in ahd. ar-
beit oder erbi (< *arija-) (s. d. d.) vorliegen-
den Stämmen war schon angedeutet („armes
Waiserl“: Walde-Pokorny). Im selben Jahr wies
A. Noreen, Ark. f. nord. fil. 6 (1890), 313 f. (so
auch noch in seiner Aisl. Gr.⁴ § 234), auf die
parallele Entwicklung der Lautgruppe -aru- in
urg. *harusta- ‚Herbst‘ > anord. haust und in
urg. *aruma- > anord. aumr (nschwed. öm)
‚unglücklich, beklagenswert‘ hin, einem Wort,
das nicht nur selbst bed.mäßig mit anord. armr
identisch ist, sondern auch in zahlreichen Ablei-
tungen wie aumingi: armingi m., auma: arma f.,
aumligr: armligr semantische Dubletten auf-
weist (allerdings mit sonst nicht belegter Syn-
kope des unbetonten -u-). Wenn ahd. arm in
diesen sprachlichen Zusammenhang gehört, so
ist für seine Vorstufe eine flexionsbedingte Va-
riante *arm- neben dem für anord. aumr zu
postulierenden *arum- anzusetzen (wie ähn-
lich für got. auhmists und auhumists u. a.; s. O.
Szemerényi, PBB 82 [Tübingen, 1960], 1—30). —
Ausführlich und eindringlich zum ganzen, mit
besonderer Rücksicht auf die kulturellen und
sozialgeschichtlichen Hintergründe, N. Reiter,
ZfBalkanologie 13 (1977), 125 ff., mit einem lin-
guistisch wichtigen Nachtrag von E. Hamp,
ebd. 16 (1980/81), 32 f.
Wer diese Etymologie von ahd. arm nicht akzeptiert
— etwa weil die Zahl vergleichbarer Fälle zu gering er-
scheint, um darauf eine verläßliche Lautregel zu
gründen — der muß einerseits anord. aumr den in
auðr, ahd. ôdi ‚öde‘ (s. d.) oder den in aind. ūná- ‚er-
mangelnd‘, gr. εὖνις ‚dss.‘ vertretenen Wortstämmen
beigesellen (vgl. zuletzt F. Holthausen, IF 48 [1930],
262), andererseits ahd. arm mit Hilfe der obenge-
nannten wenig befriedigenden Etymologien zu erklä-
ren versuchen, denen sich jüngst eine weitere ange-
schlossen hat: Anknüpfung an aind. árma- (armaká-)
‚Ruinenstätte‘ (s. [H. Beck u.] K. Strunk, Eggers-Fest-
schrift 28 ff.), eine weithergeholte Analyse, die aber
letzten Endes auf die Sippe des schon früher herange-
zogenen gr. ἐρῆμος zurückführt (s. o.; vgl. auch
Walde-Pokorny I, 142; Pokorny 333). Nicht weniger
problematisch sind vorläufig Zusammenhänge mit
heth. irma-, arma- ‚Krankheit‘ etc., die natürlich den
Ansatz mit -bh- ausschließen würden, s. Cl. H. Car-
ruthers, Language 9 (1933), 159 ff.; Tischler, Heth. et.
Gl. 369 ff.; Puhvel, Hitt. Et. Dict. I—II, 159 f.
Walde-Pokorny I, 184; Pokorny 781 f.; Mayrhofer,
K. et. Wb. d. Aind. I, 52 (ármā-; árbha-); Frisk, Gr. et.
Wb. I, 557 (ἐρῆμος); Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. II,
219 f. (orbus).