briafAWB, meist briefAWB, m. a-St.: ‚Schreiben,
Schriftstück, Verzeichnis, auch Erlaß, Verfü-
gung, Schutzbrief, liber, libellus, phylacterium;
Brief, Sendschreiben, epistola, litterae, breve,
documentum, pittacium; Blatt Papier, charta‘
〈Var.: p-, -ie-, -i-, zweimal -ei-, s. Braune,
Ahd. Gr.¹⁴ § 36 Anm. 3; Rauch, OHG Di-
phthongization 41 ff. 68 f. 114 ff.; -u-〉. — Mhd.
brief, -ves st.m. ‚Brief, Urkunde, überhaupt
Geschriebenes‘; frühnhd. brief ‚Verschreibung,
Mandat, Urkunde, Flugblatt‘; erneute Entleh-
nung im 15. Jh. ist Breve ‚päpstliches Send-
schreiben‘. — Nhd. Brief m.: außer in Zss. meist
nur im engeren Sinne von ‚übersandter Mittei-
lung‘ (wofür ehemals sende-, santbrief Lexer
II, 605).
Ahd. Wb. I, 1378 f.; Splett, Ahd. Wb. I, 104; Schütz-
eichel⁴ 81; Starck-Wells 77; Graff III, 301 f.; Schade
84; Lexer I, 352; Benecke I, 247 f.; Diefenbach, Gl.
lat.-germ. 103 (carta). 205 (epistola). 326 (libellus).
234 (fila[c]terium, -a). 433 (pictacium); Dt. Wb. II,
379 f.; Trübners Dt. Wb. I, 431 ff. (sehr ausführlich);
Kluge²¹ 100; Kluge²² 105; Pfeifer, Et. Wb. 214 f.
Ahd. briaf hat seine Gegenstücke in fast allen
germ. Sprachen außer dem Aengl. und Got.: as.
brēf (einmal brief, aber nur im Hel. Cott.)
‚Schrift, Urkunde‘, mndd. brēf (-v-) m. ‚Urkun-
de; Brief‘; mndl. brief, auch breef, nndl. brief
m.; afries. brēf, auch brief n., nfries. brief; aisl.
bréf n. ‚Brief, (schriftl.) Urkunde‘ (meist in
christlicher Lit.), seit Anfang des 11. Jh.s; aus
dem Ndd., trotz des verschiedenen gram. Ge-
schlechts? (s. Fischer, Lehnw. d. Awestnord. bes.
100), nnorw., ndän. brev, nschwed. bref n. Im
Aengl. begegnet nur die Verbalableitung gebrē-
fan ‚kurz aufschreiben, zusammenfassen‘, → gi-
briaven; me. brēf, auch brief, brefe, breve, bre-
we, ist Lehnwort aus afrz. brief, bref und nur
als amtlicher oder rechtlicher Fachausdruck ge-
braucht. Im Got. verwendet Wulfila anstelle der
Entsprechung von ahd. briaf des öfteren einen
lautgetreuen Reflex von gr. ἐπιστολή : aipistaule
f. ‚Brief‘ (zweimal im alttestamentl. Teil unter
lat. Einfluß mit -u-, Neh. 6, 17 und 19, s. Schul-
ze, Gr. Lehnworte im Got. 740 Fn. 2. 741 Fn. 1);
R. Lühr, Mü. Stud. z. Spr.wiss. 46 [1985], 140).
Holthausen, As. Wb. 9; Sehrt, Wb. z. Hel.² 61; Berr,
Et. Gl. to Hel. 64; Lasch-Borchling, Mndd. Wb. I, 1,
343 f.; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. I, 422 f.; Verdam,
Mndl. handwb. 117; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 92;
Vries, Ndls. et. wb. 87; Holthausen, Afries. Wb.² 12;
Richthofen, Afries. Wb. 666; Doornkaat Koolman,
Wb. d. ostfries. Spr. I, 22; Dijkstra, Friesch Wb. I, 234;
Holthausen, Ae. et. Wb. 33; ME Dict. A—B, 1125;
OED² II, 545 f.; Vries, Anord. et. Wb.² 55; Jóhannes-
son, Isl. et. Wb. 959; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awest-
nord. 24; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 101; Ordb.
o. d. danske sprog II, 1140 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb.
40; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog I, 180; Hell-
quist, Svensk et. ordb.³ 97 f.; Svenska akad. ordb. B-
4195 ff.
Wie so viele Fachausdrücke des Ahd., die mit
zunehmender schriftlicher und literarischer Bil-
dung — meist im Zuge der Christianisierung —
benötigt wurden, ist briaf aus dem Lat. entlehnt:
aus einem substantivierten brevis, dessen mask.
Geschlecht sich aus dem seit Diokletian (284—
305) in der röm. Rechtssprache gebräuchlichen
brevis (sc. libellus) erklärt, während das Neu-
trum der anord. und neuskand. (teilweise auch
afries.) Entsprechungen — sofern die skand.
Wörter nicht aus dem Nd. stammen (s. o.) -
vielleicht in einem seit dem 6. Jh. bezeugten lat.
breve (sc. scriptum) seinen Ursprung nahm, s.
Thes. ling. lat. II, 2177 f. (brevis); VII, 2, 1268
(libellus); Mittellat. Wb. I, 1575 ff. (brevis sub-
stantiviert).
Dabei zeigen Form und Entwicklung des
Stammvokals, daß das ursprl. kurze lat. -e- zur
Zeit der Übernahme bereits gedehnt war und
dann, wie etwa lat. speculum > spēculum > ahd.
spiagal, nhd. Spiegel, oder heimische Wörter
mit ererbtem ē², eine Diphthongierung zu -ia-,
-ie- mitmachte, vgl. Grandgent, Vulgar Latin §
176; Prokosch, Comp. Gmc. Gr. § 39b. 40a;
Braune, Ahd. Gr.¹⁴ § 36c; Franz, Lat.-rom. Ele-
mente im Ahd. 37. Auch muß sich — ein weiteres
Kriterium für die relativ späte Adoption des
Wortes (nicht vor dem 6. Jh. n. Chr.) — die halb-
vokalische Aussprache des inlautenden -v- [u̯]
in spätlat. brēvis bereits zu einem anfangs bila-
bialen und letzten Endes labiodentalen (stimm-
losen Lenis-)Spiranten gewandelt haben, wie in
lat. cavea > ahd. kevia, nhd. Käfig, vgl. Kluge,
Urgerm.³ § 17i; Braune § 139; Franz, a. a. O. 19.
22; Paul, Dt. Gr. I, 106. 109 f.
Wie zu erwarten, hat sich lat. brevis, d. i. *brēvis, auch
in der gesamten Romania eingebürgert, nicht nur als
Adj., wofür jedoch vorzugsweise Abkömmlinge von
lat. curtus eintraten, sondern auch und vor allem als
ein in der Fachprosa mit allerlei speziellen Bedeutun-
gen verwendetes Substantiv, wie aprov. brieu, breu
‚Schriftstück, Urkunde‘, afrz. brief, nfrz. bref, brief,
italien. breve (auch ‚Amulett‘), span. port. breve u. a.
Mittellat. Wb. I, 1574 ff. (mit einem sicheren Zeugnis
für langes -ē- in der Stammsilbe); Körting, Lat.-rom.
Wb.³ Nr. 1567; Meyer-Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr.
1291; Wartburg, Frz. et. Wb. I, 520. — Vgl. auch
R. Bruch, Dt. Wortf. in eur. Bez. II (1963), 409 ff.
Zur Etym. des lat. Ausgangspunkts brevis/ breve hier
nur soviel, daß seine ältere Grundform *breghu̯-is zu-
sammen mit gr. βραχύς ‚kurz‘ auf eine mit *mr- anlau-
tende Basis idg. *mreg̑hu- : *mg̑h-eu̯- ‚kurz‘ (nicht
*mreghu̯-, sondern mit palatalem *g̑h wegen jungav.
mǝrǝzu- ‚kurz‘ rückgeführt wird, von der auch das im
Germ. bei Notker und in Gl. belegte ahd. murg ‚kurz‘,
dazu mur(g)fri ‚hinfällig‘, abzuleiten ist (s. d. d.), s.
F. de Saussures schlagende Beweisführung, MSLP 5
(1884), 449 f. und die Handbücher: Walde-Pokorny
II, 314; Pokorny 751; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb.
I, 115; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 75 f.; Sommer-
Pfister, Lat. Laut- u. Formenlehre⁴ 55. 94. 170 f.;
Frisk, Gr. et. Wb. I, 264 (βραχύς); Mayrhofer, K. et.
Wb. d. Aind. II, 661 (múhu-); ders., Et. Wb. d. Altin-
doar. II, 364 f.; aber vgl. auch die schon sehr früh an-
gemeldeten Bedenken von Persson, Beitr. z. idg.
Wortf. 27 Anm. und 929 f. und anderen bzgl. der ein-
zelsprachlichen Entwicklung von anlautendem idg.
*mr-, *ml-.