dihtônAWB sw. v. II, vom 9. Jh. an: ‚verfassen,
schreiben, (er)dichten, in Versen schreiben, er-
sinnen, widmen; diktieren, vorschreiben, ge-
bieten, dictare‘ 〈Var.: t-, th-, -ct- in Anlehnung
an das Lat., s. u.; dictentemu mit seltenem -e-
für -o-〉. — Mhd. tihten, selten d- (prät. tihte/
dihtete, part. getihtet, -tiht) sw. v. ‚schreiben,
schriftlich abfassen, dichten, erfinden, schaf-
fen, ins Werk setzen, anstiften‘, frühnhd. tich-
ten regelmäßig bei Luther, omd. und bei hd.
schreibenden Autoren des norddt. Gebiets bis
zum 18. Jh., seit dem 15. Jh. verstärkt, im
16. Jh. überwiegend dichten, nhd. dichten.
Ahd. dihtôn ist aus lat. dictāre ‚wiederholt sa-
gen, diktieren, befehlen, verfassen‘, der Inten-
sivform von dicere ‚sprechen, verkündigen, re-
den, festsetzen, bestimmen, (er)nennen‘ (wor-
aus frz. dire), entlehnt. d- wurde im Ahd. und
Mhd. unter dem Einfluß des Lat. teilweise bei-
behalten und hat sich trotz der Belege mit an-
lautendem t- im Hd. durchgesetzt; vgl. zu
nhd. d- nhd. dauern, Dom, Drache. Bereits im
Ahd. ist die aus ‚diktieren‘ entwickelte Bedeu-
tung ‚das geistig Geschaffene zum Nieder-
schreiben vorsagen, damit es gelesen oder ge-
sungen werde‘ wie lat. dictare und scribere in
‚abfassen, verfassen‘ übergegangen und aus
‚geistig schaffen, erdenken, ersinnen‘ die Be-
deutung ‚schaffen‘ entstanden (zum semanti-
schen Wandel zu ‚verfassen‘ im Lat. s. A. Er-
nout, Rev. des ét. lat. 29 [1951], 155 ff.). Wei-
terhin konnte die Bedeutung ‚diktieren‘ zu ‚ge-
bieten‘ werden; eine zweite Entlehnung führte
vor Ende des 15. Jh.s zu dictiren, nhd. diktie-
ren (afrz. ditier seit dem 12. Jh., frz. dicter
‚vorsagen, diktieren‘, italien. dettare ‚diktie-
ren, eingeben, Gesetze vorschreiben, Bücher
schreiben‘, prov. dechar ‚sagen, dichten‘). In
gleicher Weise ist ne. dictate eine jüngere Ent-
lehnung als ae. diht(i)an (s. u.). Das Part. dictā-
tum ‚Diktiertes‘ kommt mit lat. Flexion in der
dt. Kanzlei- und Kathedersprache seit 1600
vor (diktat ‚Niederschrift, Nachschrift,
Machtspruch‘). Dagegen ist ahd. dihta (s. d.),
mhd. tichte f. ‚Dichten, Dichtung‘ (md. getihte
st.f. ‚Schriftwerk, Gedicht, Aussinnen, Nieder-
schreiben‘, getihte, -tiht st. n. ‚schriftliche Auf-
zeichnung; Gedicht, Kunstwerk, Lüge‘, ge-
dihte als Bezeichnung für ein mhd. Dichtwerk
zuerst im Tobias-Bruchstück des Pfaffen Lam-
precht aus dem 12. Jh., nhd. Gedicht), mndd.
(ge)dichte n. ‚schriftliche Fassung eines poeti-
schen wie prosaischen Stoffes; Sinnen, Trach-
ten‘ (> ndän. digt, nschwed. dikt ‚Gedicht,
Dichtung, Erdichtung‘), nndl. dicht ‚Gedicht,
Poesie‘ (gedicht ‚Gedicht‘) eine von tihten
(dichten) abgeleitete Bildung.
Splett, Ahd. Wb. I, 997; Schützeichel⁴ 253; Starck-
Wells 99; Graff V, 379; Schade 109. 938; A. E. Schön-
bach, ZfdA. 40 (1895—96), 103 ff.; Lexer II, 1436 f.;
Benecke III, 35 f.; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 180 (dic-
tare); Dt. Wb. II, 1057 ff.; VI, 1, 1, 2013 ff.; Dt. Wb.²
VI, 875 ff.; Kluge²¹ 131. 133; Kluge²² 142. 144; Pfei-
fer, Et. Wb. 281; Schatz, Ahd. Gr. § 183. 187; ders.,
Sievers-Festschrift (1925), 357; Wilmanns, Dt. Gr. II
§ 65; Raven, Schw. Verben d. Ahd. II, 25; Krüer, Bin-
devokal 291; Köbler, Lat.-germanist. Lex. 123;
A. Maas, Zfdt. Wortf. 6 (1904—05), 234 f.; K. Düwel,
Werkbezeichnungen der mhd. Erzählliteratur (1050—
1250) (Göttingen, 1983), 19 f. 27. 66 f. 91 f. 128. 135.
158 f. 181 f. — Thes. ling. lat. V, 1, 1009 ff.; Du Cange
II, 842 f.; Gamillscheg, Et. Wb. d. frz. Spr.³ 321; Mey-
er-Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr. 2690.
Ahd. dihtôn entsprechen as. dihton sw. v. ‚er-
dichten, ersinnen‘, mndd. dichten ‚einen poeti-
schen oder prosaischen Stoff schriftlich fassen;
ersinnen, erdichten‘ (> anord. dicta sw. v. ‚[er]-
dichten, schreiben, schildern, zusammensetzen,
machen‘, nur in christl. Schriften, nisl. dikta,
nnorw. dial. digta, nschwed. dikta, ndän. digte;
alt wäre anord. *détta); mndl. dichten ‚diktie-
ren, vorsagen, verfassen, ausdenken, überlegen,
planen‘; afries. dichta ‚abfassen‘, nostfries. dig-
ten, dichten ‚dichten, Verse machen, ausden-
ken, ersinnen‘, nwestfries. dichte, dichtsje ‚dich-
ten‘; ae. dihtian ‚einrichten, anordnen, bestim-
men, befehlen, schreiben, verfassen‘ (neben dih-
tan sw. v. I), me. dichten ‚anordnen, vorberei-
ten‘, ne. veraltet dight ‚bestimmen, verfassen,
vorbereiten‘, dial. ‚polieren, glätten, abwischen,
schmücken, zieren‘ (im 19. Jh. wurde das Part.
dight wieder belebt).
Entweder sind alle diese Verben unabhängig
voneinander aus lat. dictāre entlehnt, oder es
liegt eine bereits westgerm. Entlehnung *diχtō-
(ja)n- vor. Für die Annahme einer westgerm.
Entlehnung spricht trotz des Nebeneinanders
von ae. dihtian sw. v. II neben dihtan sw. v. I die
einheitliche Verschiebung von lat. -ct- zu *-χt-
und das anlautende t- im Hd.
Holthausen, As. Wb. 12; Gallée, Vorstud. z. e. andd.
Wb. 44. 519; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. I, 513 f.;
II, 28 f.; Verdam, Mndl. handwb. 134; Franck, Et. wb.
d. ndl. taal² 115; Vries, Ndls. et. wb. 115; Holthausen,
Afries. Wb.² 16; Richthofen, Afries. Wb. 686; Dijk-
stra, Friesch Wb. I, 270 f.; Doornkaat Koolman, Wb.
d. ostfries. Spr. I, 295; Holthausen, Ae. et. Wb. 73;
Bosworth-Toller, AS Dict. 204; Suppl. 152; Suppl. II,
19; Stratmann-Bradley, ME Dict.³ 104; OED² IV,
652 f.; Oxf. Dict. of Engl. Et. 267; Vries, Anord. et.
Wb.² 76; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 969; Holthausen,
Vgl. Wb. d. Awestnord. 36; Falk-Torp, Norw.-dän. et.
Wb. 141; Torp, Nynorsk et. ordb. 62; Hellquist,
Svensk et. ordb.³ 142 f.
Da die Bedeutung ‚schaffen‘ aus Bedeutungen wie ‚er-
denken‘ hervorgehen kann, erübrigt sich die Annahme
einer Verwandtschaft mit mhd. tîchen st. v. I ‚schaffen,
ins Werk setzen, fördern‘, lat. fingere ‚über etwas hin-
streichen, streicheln‘ unter einer gemeinsamen Wz.
*dhei̯g- (Falk-Torp, a. a. O.; ähnlich C. Soeteman,
Hammerich-Festschrift [1962], 275: autochthones
germ. *dihtjan ‚bilden‘ sei mit dem aus dem Lat. ent-
lehnten ōn-Verb dihtôn in Berührung gekommen; s.
auch W. Meid, Palmer-Festschrift 175 Anm. 7). Die lat.
fingere und ferner arm. dizanem ‚schichte auf, häufe
auf‘ und gr. θιγγάνω ‚berühre mit der Hand, taste an‘
zugrundeliegende Wz. lautet zudem *dhei̯g̑h- (→ teig),
wobei im Griech. ursprüngliches χ nach Nasal zu γ
wurde (Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. I, 501 f.; Frisk,
Gr. et. Wb. I, 675 f.; Klingenschmitt, Altarm. Verbum
183). Stammt mhd. tîchen (< urgerm. *đīka-) eben-
falls von der Wz. *dhei̯g̑h- her, so könnte urgerm. *-k-
anstelle von *-- aus einem nicht bezeugten Intensiv
urgerm. *þikkō- bezogen sein (dazu Lühr, Expressivi-
tät 350 ff.).