diuten
Band II, Spalte 696
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diutenAWB sw. v. I, als Simplex nur bei Notker:
deuten, erklären, wiedergeben, bezeichnen,
bestimmen, übersetzen
Var.: t-. Mhd. diu-
ten zeigen, deuten, bedeuten, anzeigen, er-
zählen, übersetzen
, nhd. deuten.

Splett, Ahd. Wb. I, 141; Schützeichel⁴ 91; Starck-
Wells 800; Graff V, 130 f.; Schade 106; Lexer I, 443;
Benecke I, 327; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 218 (expla-
nare); Dt. Wb. II, 1038 ff.; Dt. Wb.² VI, 802 ff.; Klu-
ge²¹ 129; Kluge²² 138 (doch gegen die herkömmliche
Deutung; s. u.); Pfeifer, Et. Wb. 275; Raven, Schw.
Verben d. Ahd. I, 29; Wilmanns, Dt. Gr. II § 39.

Ahd. diuten entsprechen: mndd. dǖden (aus)-
deuten, auslegen, bedeuten
; mndl. (fläm.) die-
den, (holländ.) duden, duyden bedeuten, ausle-
gen, erzählen, bezeichnen, helfen, nützen
,
nndl. duiden auslegen; afries. thiūda deuten,
-thiōda in bithiōda bedeuten, nostfries. düden
deuten, sagen; ae. -ðēodan in geðēodan über-
setzen
; aisl. þða deuten, erklären, nisl. þða,
fär. tða, nnorw. tda, ndän. tyde, nschwed. ty-
da.

Unklar ist Gl. 4, 290, 56 tiutho; vgl. Steinmeyer z. St.:
oder tuitho; ist thiutho zu lesen, vgl. got. þiuþ?.
Starck-Wells 800 gehen dagegen (mit Fragezeichen)
von einem as. sw. Verb thiuden gewähren aus.

Fick III (Germ.)⁴ 185; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. I, 1, 491; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. I,
591; Verdam, Mndl. handwb. 134; Franck, Et. wb. d.
ndl. taal² 140; Vries, Ndls. et. wb. 141 f.; Holthausen,
Afries. Wb.² 111; Doornkaat Koolman, Wb. d. ostfries.
Spr. I, 351; Holthausen, Ae. et. Wb. 364; Bosworth-
Toller, AS Dict. 454; Suppl. 431; Suppl. II, 36; Vries,
Anord. et. Wb.² 629 (unwahrscheinlich ist der in An-
schluß an J. Triers, Studium generale 1 [194748], 108
[ders., Gött. Gel. Anz. 203 (1942), 425] Vorstellungen
vom Mannring, Männerkreis vorgenommene Bedeu-
tungsansatz feierliche Rede auf dem Ding als Aus-
gangspunkt für urgerm. *þeuđijan-); Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 430; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 323;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 1307; Torp, Nynorsk
et. ordb. 826; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 1255 f.; Du
Cange VIII, 395; Niermeyer, Med. Lat. Lexicon 1036;
Benveniste, Institutions i. e. I, 365; D. E. Evans, Bull.
of Board of Celt. Stud. 29 (1981), 248.

Die bisherigen etymologischen Erklärungen des
Wortes sind unbefriedigend: J. Grimm (in Der
Volksname Deutsch, hrsg. v. H. Eggers, Wege
der Forschung 156 [Darmstadt, 1970], 13 f.)
faßte die Grundbedeutung von deuten als
durch worte verständlich machen, in der vul-
gärsprache auslegen
auf. Ähnlich E. P. Hamp,
IF 79 (1974), 156, der westgerm. *þeuđijan- als
Ableitung von einem westgerm. *þeuđō Spra-
che
, eigtl. in unsere Sprache übertragen, be-
trachtet. Doch hat bei westgerm. *þeuđō keine
Bedeutung Sprache bestanden ( diot).

Allgemein üblich ist der Ansatz eines urgerm.
*þeuđijan-, als Ableitung von dem Subst. ur-
germ. *þeuđō Volk, in der ursprl. Bedeutung
vor dem versammelten Volk erklären, für das
Volk verständlich machen
> (Vorgänge, Er-
scheinungen und Äußerungen) erklären, ausle-
gen
, (aus einer fremden Sprache in die eigene)
übersetzen
und einen bestimmten Sinn haben,
bedeuten
(Pfeifer, a. a. O). Die für das dt. Wort
deuten angenommene Bedeutungsentwicklung
erscheint jedoch fragwürdig, da sie im Germ.
ohne jede Parallele ist.

Zugunsten der angenommenen Bedeutungsentwick-
lung von dem Volk verständlich machen zu deuten
führt F. R. Schröder, GRM 39 (1958), 311 an, daß
Mohammed vom arabischen Koran als einem deut-
lichen Buch
spricht, von einem Buch, das (frühere
Offenbarungen) in arabischer Sprache bestätigt
.

Daneben steht die Auffassung von deuten als
Lehnübersetzung nach spätlat. vulgarizare in
vulgarem linguam traducere
mit der Bedeutung
unter das Volk bringen dem Volk verständ-
lich machen
übersetzen, die sich vom West-
germ. aus auch nach Norden verbreitet und
dann in die Sprache des Volkes Eingang gefun-
den habe (Franck, a. a. O.; Vries, a. a. O.). vulga-
rizare taucht aber erst a. 1377 auf. Früher belegt
sind nur Fügungen wie publice tradere bekannt
machen
(zuerst a. 802) (Du Cange VIII, 395;
Niermeyer, Med. Lat. Lexicon 1036). Wieder
anders Seebold (Kluge²² a. a. O.): Bei deuten
sei möglicherweise [...] ein Wort anderer Her-
kunft in den Bedeutungsbereich von Volk,
Volkssprache
hineingezogen worden
. Nach
J. Trier, PBB 66 (1942), 238 gilt die Grundbe-
deutung ursprünglich vom Priester, der aus dem
Opferbefund den Willen der Gottheit deutlich
macht, eine Erklärung, für die es jedoch keine
Anhaltspunkte gibt.

Betrachtet man die Beleglage des Wortes deu-
ten
und seiner Entsprechungen in den übrigen
germ. Sprachen, so ergibt sich kein urgerm. Al-
ter für dieses Verb. Wahrscheinlich ist es vom
dt. Sprachraum ins Nd. und Ndl., Fries. und
weiter ins Ae. und Anord. gelangt (R. Lühr, Zf.
Lit.wiss. u. Ling. 24 [1994], 37 ff.). Nach Th.
Frings, in Volksname Deutsch 241 f., gebraucht
Notker diuten zunächst, wo ein lateinisches
Wort oder lateinische Begriffe zu interpretieren,
in die Volkssprache, die deutsche Sprache zu
überführen, zu verdeutlichen und zu verdeut-
schen, zu übersetzen sind. Aber diuten ist mehr
als verdeutschen und übersetzen. diuten gewinnt
den Worten des Boethius, den Kategorien und
der Hermeneutik für die deutschen Volksschü-
ler
der Klosterschule [Notkers von St. Gallen]
volkstümlich und in volkstümlicher Sprache
die Bedeutung ab
. Die glückliche Prägung ha-
be Schule gemacht: Sie bildete eine große deut-
sche Sippe und ging aus der süddeutschen Klo-
stersprache in andere germanische Sprachen
über.

Doch hat Frings sicher unrecht, wenn er ahd. diuten
unmittelbar von diota herleitet (s. o.).

Das Verb kommt in allen belegten Sprachen
vornehmlich in Übersetzungstexten und religiö-
sem Schrifttum vor (nicht belegt ist aisl. þða in
der Edda und Skaldendichtung, und aschwed.
þyþa findet sich nicht in den Rechtstexten.
Auch fehlt eine Entsprechung in den adän.
Rechtstexten). Die nicht im Ahd. und Ae. be-
legte Bedeutung einen Traum deuten im A-
nord. läßt sich leicht aus der Bedeutung der
Traum bedeutet ...
herleiten; und im Mndl. hat
das Verb eine Bedeutungsentwicklung zu mit-
teilen
und von Bedeutung sein, helfen, nützen
(auch giedieden) mitgemacht.

Da im As. keine sichere Entsprechung von ahd.
diuten bezeugt ist (doch s. o. zu as. thieden?)
und dem Mndd. und Mndl. so eine Basis, von
der das Verb deuten abgeleitet sein könnte,
fehlt, liegt die Annahme einer Übernahme vom
Mhd. ins Mndd. und von da ins Mndl. am näch-
sten.

Der gleiche Weg ist für das Präfixverb bedeuten zu
vermuten, das im Mittelhochdeutschen als bediuten
andeuten, verständlich machen, mitteilen, urteilen,
auch reflexiv sich bediuten bedeuten, zu verstehen
sein
(bediutunge Auslegung) auftritt; vgl. mndd. be-
dǖden (bedǖde, bedǖdenisse Deutung, bedǖder Aus-
leger
, bedǖdinge Auslegung); mndl. bedieden deut-
lich machen, erklären, auslegen; mitteilen, erinnern;
bezeichnen
(bediedenisse, bediedinge Erklärung, be-
dieder Ausleger).

Was das Verb ae. geþēodan übersetzen, von
dem dann ae. geþēode Übersetzung abgeleitet
ist, angeht, so ist weder im Mhd. noch im
Mndd. und Mndl. ein Präfixverb gedeuten be-
zeugt. Im Mhd. ist nur das Subst. gediute st. n.
(neben gidiutnisse) Symbol, Ausdeutung, Be-
deutung, Kundgebung der Gesinnung, Hindeu-
tung
nachweisbar, das den bereits für diese
Sprachstufe geläufigen deverbalen Ableitungs-
typ auf ge-...-e repräsentiert (Wilmanns, Dt.
Gr. II, 244 f.). Trotz des Fehlens eines unmittel-
baren Vorbildes für das ae. Verb wird man in
Anbetracht der größeren Anzahl der ahd. Bele-
ge auch für das spärlich und spät bezeugte ae.
geþēodan dt. Einfluß annehmen dürfen. Denn
ebenso wie das Ae. auf das Dt. eingewirkt hat,
ist auch der umgekehrte Weg vom Festland zu
den Angelsachsen belegbar (vgl. W. Braune, in
Volksname Deutsch 422 zu ae. dyppen baptiza-
re
).

Im Nordgerm. war das Verb aus eigenen Mitteln
nicht bildbar, da hier die Fortsetzung von ur-
germ. *þeuđō nicht Sprache bedeutet und eine
Entsprechung zu einem westgerm. *a-þiuđija-
Volk in seiner Gesamtheit nicht vorhanden ist.
Als Vermittlersprache kommt wie in vielen an-
deren Fällen das Mndd. in Frage; vgl. mit aisl.
hafa ekki at þða nichts zu bedeuten haben
auch die Redewendung mndd. dat en dǖdet
nicht. Daß eine Lautform mndd. dǖden dabei
als aisl. þða, aschwed. þyþa mit þ übernom-
men werden kann, zeigen z. B. aisl. þéna die-
nen
< mndd. dēnen (N. v. Wijk, IF 24 [1909],
37) und aisl. þzkr deutsch ( diutisc).

Von dem im Ahd. belegten Sprachmaterial er-
scheint für diuten nur ein Bezug auf das bei Ot-
frid belegte Subst. gidiuti Volkssprache mög-
lich. Da dieses Wort früher als das Verb bezeugt
ist und im Ahd. ja-stämmige Substantive mit
Präfix gi- nicht nur auf Substantive, sondern
auch auf Verba simplicia beziehbar waren (vgl.
ahd. gizimbari Gebäude neben zimbar Bau
und zimberen bauen), konnte Notker oder wer
auch immer in der Klosterschule St. Gallens die-
ses Verb gebildet hat, zu einem gidiuti Volks-
sprache
ein Verb diuten in die Volkssprache
machen
hinzubilden.

Unwahrscheinlich F. Specht, in Volksname
Deutsch 257: ahd. diuten sei von germ. *þeuđiska-
abgeleitet (dazu Th. Klein, Zf. Lit.wiss. u. Ling. 24
[1994], 17 f.).

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