diutenAWB sw. v. I, als Simplex nur bei Notker:
‚deuten, erklären, wiedergeben, bezeichnen,
bestimmen, übersetzen‘ 〈Var.: t-〉. — Mhd. diu-
ten ‚zeigen, deuten, bedeuten, anzeigen, er-
zählen, übersetzen‘, nhd. deuten.
Splett, Ahd. Wb. I, 141; Schützeichel⁴ 91; Starck-
Wells 800; Graff V, 130 f.; Schade 106; Lexer I, 443;
Benecke I, 327; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 218 (expla-
nare); Dt. Wb. II, 1038 ff.; Dt. Wb.² VI, 802 ff.; Klu-
ge²¹ 129; Kluge²² 138 (doch gegen die herkömmliche
Deutung; s. u.); Pfeifer, Et. Wb. 275; Raven, Schw.
Verben d. Ahd. I, 29; Wilmanns, Dt. Gr. II § 39.
Ahd. diuten entsprechen: mndd. dǖden ‚(aus)-
deuten, auslegen, bedeuten‘; mndl. (fläm.) die-
den, (holländ.) duden, duyden ‚bedeuten, ausle-
gen, erzählen, bezeichnen, helfen, nützen‘,
nndl. duiden ‚auslegen‘; afries. thiūda ‚deuten‘,
-thiōda in bithiōda ‚bedeuten‘, nostfries. düden
‚deuten, sagen‘; ae. -ðēodan in geðēodan ‚über-
setzen‘; aisl. þýða ‚deuten, erklären‘, nisl. þýða,
fär. týða, nnorw. týda, ndän. tyde, nschwed. ty-
da.
Unklar ist Gl. 4, 290, 56 tiutho; vgl. Steinmeyer z. St.:
„oder tuitho; ist thiutho zu lesen, vgl. got. þiuþ?“.
Starck-Wells 800 gehen dagegen (mit Fragezeichen)
von einem as. sw. Verb thiuden ‚gewähren‘ aus.
Fick III (Germ.)⁴ 185; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. I, 1, 491; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. I,
591; Verdam, Mndl. handwb. 134; Franck, Et. wb. d.
ndl. taal² 140; Vries, Ndls. et. wb. 141 f.; Holthausen,
Afries. Wb.² 111; Doornkaat Koolman, Wb. d. ostfries.
Spr. I, 351; Holthausen, Ae. et. Wb. 364; Bosworth-
Toller, AS Dict. 454; Suppl. 431; Suppl. II, 36; Vries,
Anord. et. Wb.² 629 (unwahrscheinlich ist der in An-
schluß an J. Triers, Studium generale 1 [1947—48], 108
[ders., Gött. Gel. Anz. 203 (1942), 425] Vorstellungen
vom ‚Mannring, Männerkreis‘ vorgenommene Bedeu-
tungsansatz ‚feierliche Rede auf dem Ding‘ als Aus-
gangspunkt für urgerm. *þeuđijan-); Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 430; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 323;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 1307; Torp, Nynorsk
et. ordb. 826; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 1255 f.; Du
Cange VIII, 395; Niermeyer, Med. Lat. Lexicon 1036;
Benveniste, Institutions i. e. I, 365; D. E. Evans, Bull.
of Board of Celt. Stud. 29 (1981), 248.
Die bisherigen etymologischen Erklärungen des
Wortes sind unbefriedigend: J. Grimm (in Der
Volksname Deutsch, hrsg. v. H. Eggers, Wege
der Forschung 156 [Darmstadt, 1970], 13 f.)
faßte die Grundbedeutung von ‚deuten‘ als
„durch worte verständlich machen, in der vul-
gärsprache auslegen“ auf. Ähnlich E. P. Hamp,
IF 79 (1974), 156, der westgerm. *þeuđijan- als
Ableitung von einem westgerm. *þeuđō ‚Spra-
che‘, eigtl. ‚in unsere Sprache übertragen‘, be-
trachtet. Doch hat bei westgerm. *þeuđō keine
Bedeutung ‚Sprache‘ bestanden (→ diot).
Allgemein üblich ist der Ansatz eines urgerm.
*þeuđijan-, als Ableitung von dem Subst. ur-
germ. *þeuđō ‚Volk‘, in der ursprl. Bedeutung
‚vor dem versammelten Volk erklären, für das
Volk verständlich machen‘ > ‚(Vorgänge, Er-
scheinungen und Äußerungen) erklären, ausle-
gen‘, ‚(aus einer fremden Sprache in die eigene)
übersetzen‘ und ‚einen bestimmten Sinn haben,
bedeuten‘ (Pfeifer, a. a. O). Die für das dt. Wort
‚deuten‘ angenommene Bedeutungsentwicklung
erscheint jedoch fragwürdig, da sie im Germ.
ohne jede Parallele ist.
Zugunsten der angenommenen Bedeutungsentwick-
lung von ‚dem Volk verständlich machen‘ zu ‚deuten‘
führt F. R. Schröder, GRM 39 (1958), 311 an, daß
Mohammed vom „arabischen Koran“ als einem „deut-
lichen Buch“ spricht, von „einem Buch, das (frühere
Offenbarungen) in arabischer Sprache bestätigt“.
Daneben steht die Auffassung von ‚deuten‘ als
Lehnübersetzung nach spätlat. vulgarizare ‚in
vulgarem linguam traducere‘ mit der Bedeutung
‚unter das Volk bringen‘ → ‚dem Volk verständ-
lich machen‘ → ‚übersetzen‘, die sich vom West-
germ. aus auch nach Norden verbreitet und
dann in die Sprache des Volkes Eingang gefun-
den habe (Franck, a. a. O.; Vries, a. a. O.). vulga-
rizare taucht aber erst a. 1377 auf. Früher belegt
sind nur Fügungen wie publice tradere ‚bekannt
machen‘ (zuerst a. 802) (Du Cange VIII, 395;
Niermeyer, Med. Lat. Lexicon 1036). Wieder
anders Seebold (Kluge²² a. a. O.): Bei ‚deuten‘
sei „möglicherweise [...] ein Wort anderer Her-
kunft in den Bedeutungsbereich von ‚Volk,
Volkssprache‘ hineingezogen worden“. Nach
J. Trier, PBB 66 (1942), 238 gilt die Grundbe-
deutung ursprünglich vom Priester, der aus dem
Opferbefund den Willen der Gottheit deutlich
macht, eine Erklärung, für die es jedoch keine
Anhaltspunkte gibt.
Betrachtet man die Beleglage des Wortes ‚deu-
ten‘ und seiner Entsprechungen in den übrigen
germ. Sprachen, so ergibt sich kein urgerm. Al-
ter für dieses Verb. Wahrscheinlich ist es vom
dt. Sprachraum ins Nd. und Ndl., Fries. und
weiter ins Ae. und Anord. gelangt (R. Lühr, Zf.
Lit.wiss. u. Ling. 24 [1994], 37 ff.). Nach Th.
Frings, in Volksname Deutsch 241 f., gebraucht
Notker diuten „zunächst, wo ein lateinisches
Wort oder lateinische Begriffe zu interpretieren,
in die Volkssprache, die deutsche Sprache zu
überführen, zu verdeutlichen und zu verdeut-
schen, zu übersetzen sind. Aber diuten ist mehr
als verdeutschen und übersetzen. diuten gewinnt
den Worten des Boethius, den Kategorien und
der Hermeneutik für die deutschen ‚Volksschü-
ler‘ der Klosterschule [Notkers von St. Gallen]
‚volkstümlich‘ und in ‚volkstümlicher‘ Sprache
die ‚Bedeutung‘ ab“. Die glückliche Prägung ha-
be Schule gemacht: Sie bildete eine große deut-
sche Sippe und ging aus der süddeutschen Klo-
stersprache in andere germanische Sprachen
über.
Doch hat Frings sicher unrecht, wenn er ahd. diuten
unmittelbar von diota herleitet (s. o.).
Das Verb kommt in allen belegten Sprachen
vornehmlich in Übersetzungstexten und religiö-
sem Schrifttum vor (nicht belegt ist aisl. þýða in
der Edda und Skaldendichtung, und aschwed.
þyþa findet sich nicht in den Rechtstexten.
Auch fehlt eine Entsprechung in den adän.
Rechtstexten). Die nicht im Ahd. und Ae. be-
legte Bedeutung ‚einen Traum deuten‘ im A-
nord. läßt sich leicht aus der Bedeutung ‚der
Traum bedeutet ...‘ herleiten; und im Mndl. hat
das Verb eine Bedeutungsentwicklung zu ‚mit-
teilen‘ und ‚von Bedeutung sein, helfen, nützen‘
(auch giedieden) mitgemacht.
Da im As. keine sichere Entsprechung von ahd.
diuten bezeugt ist (doch s. o. zu as. thieden?)
und dem Mndd. und Mndl. so eine Basis, von
der das Verb ‚deuten‘ abgeleitet sein könnte,
fehlt, liegt die Annahme einer Übernahme vom
Mhd. ins Mndd. und von da ins Mndl. am näch-
sten.
Der gleiche Weg ist für das Präfixverb ‚bedeuten‘ zu
vermuten, das im Mittelhochdeutschen als bediuten
‚andeuten, verständlich machen, mitteilen, urteilen‘,
auch reflexiv sich bediuten ‚bedeuten, zu verstehen
sein‘ (bediutunge ‚Auslegung‘) auftritt; vgl. mndd. be-
dǖden (bedǖde, bedǖdenisse ‚Deutung‘, bedǖder ‚Aus-
leger‘, bedǖdinge ‚Auslegung‘); mndl. bedieden ‚deut-
lich machen, erklären, auslegen; mitteilen, erinnern;
bezeichnen‘ (bediedenisse, bediedinge ‚Erklärung‘, be-
dieder ‚Ausleger‘).
Was das Verb ae. geþēodan ‚übersetzen‘, von
dem dann ae. geþēode ‚Übersetzung‘ abgeleitet
ist, angeht, so ist weder im Mhd. noch im
Mndd. und Mndl. ein Präfixverb ‚gedeuten‘ be-
zeugt. Im Mhd. ist nur das Subst. gediute st. n.
(neben gidiutnisse) ‚Symbol, Ausdeutung, Be-
deutung, Kundgebung der Gesinnung, Hindeu-
tung‘ nachweisbar, das den bereits für diese
Sprachstufe geläufigen deverbalen Ableitungs-
typ auf ge-...-e repräsentiert (Wilmanns, Dt.
Gr. II, 244 f.). Trotz des Fehlens eines unmittel-
baren Vorbildes für das ae. Verb wird man in
Anbetracht der größeren Anzahl der ahd. Bele-
ge auch für das spärlich und spät bezeugte ae.
geþēodan dt. Einfluß annehmen dürfen. Denn
ebenso wie das Ae. auf das Dt. eingewirkt hat,
ist auch der umgekehrte Weg vom Festland zu
den Angelsachsen belegbar (vgl. W. Braune, in
Volksname Deutsch 422 zu ae. dyppen ‚baptiza-
re‘).
Im Nordgerm. war das Verb aus eigenen Mitteln
nicht bildbar, da hier die Fortsetzung von ur-
germ. *þeuđō nicht ‚Sprache‘ bedeutet und eine
Entsprechung zu einem westgerm. *a-þiuđija-
‚Volk in seiner Gesamtheit‘ nicht vorhanden ist.
Als Vermittlersprache kommt wie in vielen an-
deren Fällen das Mndd. in Frage; vgl. mit aisl.
hafa ekki at þýða ‚nichts zu bedeuten haben‘
auch die Redewendung mndd. dat en dǖdet
nicht. Daß eine Lautform mndd. dǖden dabei
als aisl. þýða, aschwed. þyþa mit þ übernom-
men werden kann, zeigen z. B. aisl. þéna ‚die-
nen‘ < mndd. dēnen (N. v. Wijk, IF 24 [1909],
37) und aisl. þýzkr ‚deutsch‘ (→ diutisc).
Von dem im Ahd. belegten Sprachmaterial er-
scheint für diuten nur ein Bezug auf das bei Ot-
frid belegte Subst. gidiuti ‚Volkssprache‘ mög-
lich. Da dieses Wort früher als das Verb bezeugt
ist und im Ahd. ja-stämmige Substantive mit
Präfix gi- nicht nur auf Substantive, sondern
auch auf Verba simplicia beziehbar waren (vgl.
ahd. gizimbari ‚Gebäude‘ neben zimbar ‚Bau‘
und zimberen ‚bauen‘), konnte Notker oder wer
auch immer in der Klosterschule St. Gallens die-
ses Verb gebildet hat, zu einem gidiuti ‚Volks-
sprache‘ ein Verb diuten ‚in die Volkssprache
machen‘ hinzubilden.
Unwahrscheinlich F. Specht, in Volksname
Deutsch 257: ahd. diuten sei von germ. *þeuđiska-
abgeleitet (dazu Th. Klein, Zf. Lit.wiss. u. Ling. 24
[1994], 17 f.).