fâra f. ō- (Otfrid auch n-)St., Gl., Otfrid,
Notker, Otl. Gebet: ‚Nachstellung, Versu-
chung, Hinterhalt, Hinterlist, Wankelmut,
Gefahr, decipula, insidiae, laqueus, seditio,
temptatio‘ 〈Var.: v-, einmal ph- (9. Jh.)〉. —
Mhd. vâr(e) st.f.m., spätmhd. auch gevâre,
nhd. (veraltet) Fahr, heute nur Gefahr mit ver-
stärkendem Präfix.
Ahd. Wb. III, 568 ff.; Splett, Ahd. Wb. I, 204; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 245 f.; Schützeichel⁵ 129; Starck-
Wells 139. 806; Schützeichel, Glossenwortschatz III,
50 f.; Seebold, ChWdW8 121; Graff III, 575 f.; Scha-
de 161; Lexer I, 956; III, 21; Benecke III, 265; Köb-
ler, Lat.-germanist. Lex. 218. 388; Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 172 (decipula). 342 (insidiae). 367 (laqueus).
599 (seditio). 657 (temptatio); Dt. Wb. III, 1244 ff.;
Kluge²¹ 239; Kluge²⁴ 337; Pfeifer, Et. Wb.² 408.
Das Wort hat Entsprechungen in fast allen
germ. Sprachen: as. fār st.m. ‚Nachstellung‘
(Heliand), fāra st.f. ‚Aufstand, Aufruhr, seditio‘
(Gl.), mndd. vār(e) f. ‚Nachstellung, Hinterlist,
Gefährdung, Gefahr, Furcht‘, vār n. ‚Gefahr,
Gefährdung, Prozeßgefahr und daraus sich er-
gebende Strafe‘; mndl. vaer, vare m.f. ‚Arglist,
Furcht, Schreck, Gefahr‘, nndl. nur gevaar aus
dem Hochdt. entlehnt; (afries. nicht belegt)
nostfries. fār ‚Gefahr‘ (nwestfries. gefaer); ae.
fǣr, fēr m. ‚Gefahr, Unglück, Angriff‘, me. fēr,
ne. fear ‚Furcht‘; aisl. fár n. ‚Feindschaft, Zorn,
Gefahr, Schade, Betrug‘, run.dän. fara-uisa ‚der
Gefährliches Wissende‘, ält. ndän. faar ‚Furcht,
Zorn‘, nnorw. dial. faar ‚Zorn‘ (ndän. fare,
nschwed. fara ‚Gefahr‘ sind aus dem Mndd. ent-
lehnt). Hierzu gehört auch got. ferja m. (nur
akk.pl. ferjans) ‚Aufpasser, ἐγκάθετος (eigtl. ‚ge-
dungener Nachsteller‘).
Fick III (Germ.)⁴ 230; Holthausen, As. Wb. 18; Sehrt,
Wb. z. Hel.² 119; Berr, Et. Gl. to Hel. 108; Wadstein,
Kl. as. Spr.denkm. 56, 6. 237; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. I, 1, 650 f. 652; Schiller-Lübben, Mndd.
Wb. V, 199 ff.; Verdam, Mndl. handwb. 639; Franck,
Et. wb. d. ndl. taal² 192 f.; Suppl. 57; Vries, Ndls. et.
wb. 201 f.; Doornkaat Koolman, Wb. d. ostfries. Spr.
I, 420 f.; Dijkstra, Friesch Wb. I, 445; Holthausen, Ae.
et. Wb. 96; Bosworth-Toller, AS Dict. 265. 282;
Suppl. 199; A. Bammesberger, Zfvgl. Spr. 85 (1971),
276 ff.; ME Dict. E-F, 490 f.; OED² V, 779 f.; Oxf.
Dict. of Engl. Et. 348; Vries, Anord. et. Wb.² 112; Jó-
hannesson, Isl. et. Wb. 550; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog I, 378 f.; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awest-
nord. 56; Krause, Die Runeninschr. im ä. Futhark Nr.
127; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 205; Ordb. o. d.
danske sprog IV, 756 ff.; Hellquist, Svensk et. ordb.³
200; Svenska akad. ordb. F-271 ff.; Feist, Vgl. Wb. d.
got. Spr. 148; Lehmann, Gothic Et. Dict. F-41;
W. Griepentrog, Hist. Spr.forschung 104 (1991), 112 f.
Die verschiedenen Bedeutungen der germ. Bele-
ge (‚Versuchung, Nachstellung, Aufstand, Ge-
fahr‘ usw.) setzen wohl eine germ. Ausgangsbed.
‚Versuch, mit allen Mitteln etwas durchzusetzen
oder zu erzwingen‘ (der für die Betroffenen eine
Gefahr darstellen kann; man vergleiche ne. dan-
ger ‚Gefahr‘, früher ‚Macht‘) voraus. Die zu-
grundeliegende germ. Wz. *fǣr- ist also wohl
Dehnstufe der idg. Wz. *per- in: gr. πεῖρα ‚Ver-
such, Untersuchung, Erfahrung‘, πειράομαι
(-άω) ‚versuche, stelle auf die Probe, erprobe‘,
πειράζω ‚dss.‘, auch ‚greife an, versuche (eine
Frau) zu verführen‘, πειρασμός m. ‚Versuchung‘,
πειρᾱτής m. ‚Seeräuber‘ usw.; lat. perīculum n.
‚Versuch, Probe, Gefahr, Prozeß, Anklage‘, ex-
perior ‚mache einen Versuch, erprobe, prüfe‘,
experimentum n. ‚Versuch‘, perītus ‚erfahren,
bewandert‘ usw.
Alle anderen Vergleiche sind höchst unsicher: air.
a(i)re ‚Wachen, Aufmerksamkeit‘, das nach Walde-
Hofmann, Lat. et. Wb. II, 288 f., Pokorny 818 hierher
gehört, wird von Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. A-
81 f. zur Wz. *ar- ‚pflügen, ackern‘ gestellt, indem er
auf die verschiedenen Bed. von lat. colere (‚bebauen,
[be-]wohnen, pflegen, ehren usw.‘) hinweist. — Fern-
zuhalten ist air. airud (er[r]ud, airúath) ‚Furcht‘ (hier-
her nach Fick II [Kelt.]⁴ 39 und Franck, a. a. O. Suppl.
57), das wohl aus dem verstärkenden Präfix air- und
úath ‚Furcht‘ (bzw. einem damit verwandten Wort)
zusammengesetzt ist; vgl. Vendryes, a. a. O. A-50;
Dict. of Irish A-243. — Arm. pՙorj ‚Versuch‘ kann nur
dann verwandt sein, wenn man mit A. Meillet, BSLP
36 (1935), 110 einen „expressiven“ aspirierten Anlaut
*ph- annimmt, was sehr fraglich ist. — Ob das Hinter-
glied von gr. ταλαίπωρος ‚Mühsal oder Drangsal erlei-
dend, geplagt‘ und die nur bei den Lexikographen be-
legten gr. Wörter wie Hesych πωρεῖν ⋅ κηδεύειν, πεν-
ϑεῖν; πωρῆσαι ⋅ λυπῆσαι; πωρητύς ⋅ ταλαιπωρία, πέν-
ϑος; πῶρος ⋅ ὁ ταλαίπωρος) mit Ablaut hierher gehö-
ren (so Persson, Beitr. z. idg. Wortf. 2, 673; Blanken-
stein, Unters. z. d. langen Vokalen 48; dagegen Leh-
mann, a. a. O. ohne Erklärung), muß offenbleiben. Die
gr. Wörter haben sonst keine sichere Etymologie; der
Vergleich mit dem ebenso isolierten gr. Wort πηρός
‚verstümmelt, blind‘ führt nicht viel weiter (vgl. Frisk,
Gr. et. Wb. II, 531 und Chantraine, Dict. ét. gr. 898:
gegen die Verbindung mit gr. πῆμα ‚Unheil, Leid,
Not‘). — Av. pārō ‚Schuld‘ ist wohl nicht unmittelbar
mit der germ. Sippe zu vergleichen (wie bei Mann, IE
Comp. Dict. 927), sondern gehört eher zu einer nahe
verwandten Gruppe idg. Wörter, die auf die Wz. *per-
[**perH₂-] ‚verkaufen, ver-, begleichen‘ zurückgehen
(vgl. Pokorny 817; LIV² 474).
Auch innerhalb des Germ. sind weitere An-
schlüsse umstritten: → firina, freisa.
Die verschiedenen bei Pokorny (S. 816—18) an-
gesetzten idg. verbalen *per-Wurzeln stellen nur
Bed.varianten einer zugrundeliegenden Wz.
‚das Hinausführen über‘ (→ fer, fir-, furi, firni)
sowohl im wörtlichen (zeitlichen und bes. räum-
lichen) Sinn (→ faran) als auch im übertragenen
Sinn ‚überaus, sehr‘ dar (vgl. gr. περι- in Zss.
wie περι-καλλής ‚sehr schön‘). So bedeutet z. B.
gr. περάω u. a. ‚überschreite‘ sowohl im wörtli-
chen wie auch im übertragenen Sinn; ähnlich
aind. píparti ‚führt hinüber‘, aber auch ‚über-
trifft‘ (→ faran). Bei der Sippe von ahd. fâra
scheint die Grundbed. etwa ‚ein Ziel verfolgen‘
zu sein, aber oft kommt auch der Begriff des
‚Übermaßes‘, der ‚Maßlosigkeit‘ hinzu (vgl. gr.
πειρᾱτής oben).
Walde-Pokorny II, 28 f.; Pokorny 818; Boisacq, Dict.
ét. gr.⁴ 756 f. 937; Frisk, Gr. et. Wb. II, 489 f. 846 f.;
Chantraine, Dict. ét. gr. 870. 1088; Walde-Hofmann,
Lat. et. Wb. II, 288 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴
498 f.
A. Kutzelniggs Versuch (Orbis 19 [1970], 492 ff.),
ahd. fâra mit ahd. far ‚Stier‘ zu verknüpfen, ist sowohl
aus lautlichen (verschiedene Vokallänge, ahd. far <
*farza-; → far) als auch aus semantischen Gründen
(‚Gefahr‘ war wohl nicht die ursprl. Bed. von ahd. fâ-
ra; s. o.) sicher verfehlt.