fraAWB präp., nur Gl. 2, 41, 18 (8./9. Jh.): ‚für,
wegen, pro‘. — fra- präf. mit Grundbed. ‚fort,
weg‘, auch im neg. Sinn ‚fort vom rechten
Weg‘; zu den verschiedenen Bed. des Präfixes
vgl. Wilmanns, Dt. Gr. II § 124 ff.; M. Leo-
pold, Die Vorsilbe ver- und ihre Geschichte
(Breslau, 1907 [= Hildesheim 1977]), 16 ff.
226 ff.
Ahd. Wb. III, 1198; Splett, Ahd. Wb. I, 1216; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 321; Schützeichel, Glossenwortschatz
III, 277; Graff III, 637 f.; Schade 218.
Als Präp. kommt fra im Germ. sonst nicht vor.
Als Präf. ist es nur im Got. geläufig (sowohl als
verbales wie auch als nominales Präf.). Im Ae.
(s. u.) und im Ahd. ist es im Absterben; im Ahd.
als Verbalpräf. schon meistens durch fir- (s. d.)
ersetzt, als Nominalpräf. etwas besser erhalten,
besonders im neg. Sinn, wo kein anderes Präf.
zur Verfügung stand (weder fora- noch furi-
käme hier in Frage; zu fir- s. u.).
Wo ahd. fra- als schwach betontes Verbalpräf.
noch vorkommt, schwindet a vor dem anl. Vo-
kal eines Verbs: → frengen, fristfrang, frezzan,
frezzen (mhd. z. T. durch jüngeres ver-ezzen,
ver-etzen ersetzt; vgl. Kluge²¹ 218; verfehlt Klu-
ge²⁴ 315 f.: „eine schon alte Verschmelzung mit
der Vorsilbe ver-“. Das Präf. fir- wird vor einem
Vokal nie zu fr-; zur gelegentlichen Synkope
vor l und r vgl. Braune, Ahd. Gr.¹⁵ § 76 Anm. 3
und → fir-). Vor einem anl. Kons. ist fra- nur
zweimal belegt: fratripit Gl. 1, 135, 19 (9 Jh.; →
firtrîban) und frasṣcurgit Gl. 1, 297, 47 (9. Jh.; →
firskurgen), sonst kommt nur fir- vor.
Das germ. Nominalpräf. war ursprl. betont (vgl.
Krahe-Meid, Germ. Sprachwiss. III § 49) und in
den ältesten ahd. Zss. wird die Betonung da-
durch bestätigt, daß der Vokal des betonten
Präfixes mit einem anl. Wurzelvokal kontrahiert
wird (→ frâza, freidi, viell. frêhten denom.
Verb?). Andere Zss. zeigen die (spät)westgerm.
Verschiebung der Betonung in Nominalkomp.
vom Präfix auf die Wurzelsilbe (vgl. Krahe-
Meid, a. a. O. § 51) und Verlust des schwach be-
tonten Vokals des Präfixes (→ fravali, frelen).
Vor Konsonanten scheint fra- nur als betontes
Präf. vorzukommen (vgl. Notker, Bo. frátat,
Ps.gl. frásez; → frabald
, frabaldlîh, -lîcho, -lî-
chûn, frabaldo, frabâri, frabârî, frabeldî, frafildi,
frasez, fratât, -tâtîg, -tâtlîcho, frawâz; ein mhd.
Überbleibsel ist frasûme ‚Versäumnis‘ [Lexer
III, 257 s. v. ver-sûme]. In deverbativen Nomi-
nalzss., die die Betonung der verbalen Zss. über-
nommen haben, kann das schwach betonte ver-
bale Präf. fir- an die Stelle von fra- treten: fir-
drôz ‚Überdruß‘ (zu firdriozan), firdult ‚Erdul-
dung‘ (zu firdulten), firgift ‚Vergiftung‘ (zu fir-
giften), firkunst ‚Verzweiflung‘ (zu firkunnan);
bei firséz ‚Mehltau, Rost‘ (Notker, Ps. 77, 44),
das zu keinem belegten Präfixverb gehört, hat
Notker wohl selber das veraltete Präf. fra- we-
gen der verbalen Wz. sez- (zu sitzen, setzen)
durch fir- ersetzt; der Glossator, dem diese Zss.
offenbar fremd war, hat es durch frásez erläutert
(Ps. 77, 48 ist lat. erugo auch als frásez glossiert).
Im Ae. ist das Präf. nur noch erhalten in fracoþ
〈Var.: fræcuþ, fracuþ, -od, -ed〉 ‚Beleidigung,
Schande, Bosheit‘ mitsamt Zss. und in den nicht
mehr erkennbaren Zss. fræfel(e) ‚schlau, frech,
listig‘ (→ fravali), frǣte ‚verkehrt, stolz, hart-
näckig‘ (→ frâza) und viell. frætwa ‚Schmuck‘,
frætw(i)an ‚schmücken‘ (vgl. Feist, Vgl. Wb. d.
got. Spr. 531 s. v. us-fratwjan; Lehmann, Gothic
Et. Dict. U-51).
Das ae. Präf. frǣ- ‚außerordentlich, überaus‘ in frǣ-
beorht ‚exceedingly bright‘, -fætt ‚very fat‘, -mǣre
‚very great, famous‘, -micel ‚very great‘, -ōfestlīce ‚very
hastily‘, das trotz F. Kluge, Zfvgl. Spr. 2 (1893), 74 si-
cher einen langen Vokal hat, ist fernzuhalten. Es han-
delt sich wohl um eine späte Monophthongierung des
Präfixes frēa- (alle Belege von frǣ- stammen aus dem
11. Jh. und einige haben frühere Varianten mit frēa-:
z. B. frēabeorht, -mǣre; zur Monophthongierung vgl.
Sievers-Brunner, Ae. Gr.³ § 37 Anm. 2; Luick, Hist.
Gr. d. engl. Spr. § 356). Die Etym. von frēa- ist unsi-
cher, aber möglicherweise hat es denselben Ursprung
wie ae. frēa ‚Herr‘ (‚der Vorderste, Erste‘ → frô¹) <
idg. *pro-u̯o- oder *prǝ-u̯o-, zur idg. Wz. *per- in der
Bed. ‚voran, voraus, überaus, sehr‘ (wie lat. prae-,
aind. prá-); zur Bildung vgl. auch aksl. pravь < *prō-
u̯o- ‚recht, richtig‘.
Fick III (Germ.)⁴ 229 ff.; G. Schmidt, Germ. Adv.
321 ff., bes. 325 ff.; Holthausen, Ae. et. Wb. 114; Bos-
worth-Toller, AS Dict. 329; Suppl. 260 f.; Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 160; Lehmann, Gothic Et. Dict. F-69.
Germ. *fra- geht auf idg. *pro- zurück, wie
auch aind. prá- ‚vor, vorwärts, fort‘, av., apers.
fra- ‚dss.‘; gr. πρό- ‚vor‘ (auch Präp.); lat. pr-
(auch Präp. pro), das in Zss. wie profugere ‚ent-
fliehen‘, profēstus ‚unfestlich, unheilig‘, prohibē-
re ‚abhalten, verhindern‘ die gleiche Bed. wie
germ. fra- hat; air. ro-, kymr. ry-, abret. ro-,
ru-, mbret., nbret. ra- Präverb und Intensivprä-
fix; aksl. pro- ‚durch-, ver-‘ (vgl. progoniti ‚ver-
treiben‘); apreuß. pra-, pro- ‚ver-‘ (auch Präp.
‚durch‘), lit. pra-, prõ- (auch Präp.) ‚vorbei-,
durch-, ver-‘ (zur Bed. vgl. pra-zangà ‚Übertrei-
bung, Verstoß‘).
Idg. *pro- ist eine Variante der sehr produktiven
idg. Wz. per- ‚das Hinausführen über‘ (Pokorny
810 ff.; pro- 813 f.); → fir-, fora, furi.
Walde-Pokorny II, 29 ff. (bes. 35 f.); Pokorny,
a. a. O.; Mayrhofer, K. et. Wb. d. Aind. II, 350 ff.;
ders., Et. Wb. d. Altindoar. II, 173 f.; Bartholomae,
Airan. Wb.² 974; Frisk, Gr. et. Wb. II, 596 f.; Chan-
traine, Dict. ét. gr. 939; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb.
II, 364 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét lat.⁴ 536 f.; Traut-
mann, Balt.-Slav. Wb. 229; Sadnik-Aitzetmüller,
Handwb. zu den aksl. Texten 107. 290 (Nr. 721);
Trautmann, Apreuß. Spr.denkm. 408. 411; Fraenkel,
Lit. et. Wb. 657; Fick II (Kelt.)⁴ 38; Vendryes, Lex. ét.
de l’irl. anc. R-35; Dict. of Irish R-77; Pedersen, Vgl.
Gr. d. kelt. Spr. II § 574 ff.