ganzAWB adj., im WK, bei O, N und in Gl.
seit dem 8. Jh. (einmal NBo auch adv.: tíu dô
gánz in íro geuuálte uuâs): ‚gesund, heil, un-
versehrt, vollständig, vollkommen; illaesus,
incolumis, intactus, integer, inviolatus, per-
fectus, saluber, sanativus, sanatus, sanus, so-
lidus, subtilis, valens‘ 〈Var.: k-, c-; -nc-〉. —
Mhd. ganz adj. ‚unverletzt, vollständig, heil,
gesund‘ (vielleicht auch adv.; vgl. B.
Schmidt, IF 33 [1913/14], 325 f.), nhd. ganz
adj. und adv. ‚unversehrt, heil, ungeteilt,
vollständig‘.
Ahd. Wb. 4, 100 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 187; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 356; Schützeichel⁶ 129; Starck-Wells
191. 814; Schützeichel, Glossenwortschatz 3, 393 f.;
Seebold, ChWdW8 141; Graff 4, 221 f.; Lexer 1, 737;
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 314 (illaesus). 327 (incolu-
mis). 345 (intactus, integer). 354 (inviolatus). 478 (per-
fectus). 585 (saluber/salubris). 586 (sanativus, sanatus).
588 (sanus). 616 (solidus¹). 637 (subtilis). 694 (valens);
Dt. Wb. 4, 1286 ff.; Kluge²¹ 231; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer,
Et. Wb.² 396.
Das Wort, das urspr. aufs Hochdt. be-
schränkt zu sein scheint, ist später nach Nor-
den gewandert, wo es mit dem einheimi-
schen Wort he(i)l (→ heil) konkurriert:
mndd. gans ‚vollkommen, vollständig, heil,
unversehrt‘ (bei den vereinzelten Belegen
von mndd. und nndd. gant handelt es sich
wohl um eine mechanische Umsetzung von
hochdt. Formen ins Ndd.; vgl. W. Mitzka,
GS Foerste 1970: 319 ff.); mndl. gans, gants,
gantsch ‚gesund, heil, vollkommen‘, nndl.
gansch, gans; afries. gans ‚ganz‘, nwestfries.
gans, gants. Aus dem Mndd. ist ält.dän.
gantze, aus dem Ndl. ndän. ganske, nschwed.
ganska entlehnt.
Fick 3 (Germ.)⁴ 125; Heidermanns, Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 232; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2,
1, 146; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 11; Verwijs-
Verdam, Mndl. wb. 2, 911 ff.; Franck, Et. Wb. d. ndl.
taal² 175; Suppl. 52 f.; Vries, Ndls. et. wb. 183; Et.
wb. Ndl. F-Ka 166; Holthausen, Afries. Wb.² 34; Rich-
thofen, Afries. Wb. 773; Dijkstra, Friesch Wb. 1, 437;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 300. 1467; Hellquist,
Svensk et. ordb.³ 270; Svenska akad. ordb. s. v.
Obgleich das Wort seit der Mitte des 19. Jh.s
mehrmals erörtert worden ist — Brugmann
1894: 56 ff. hat sechs verschiedene Deutun-
gen besprochen — bleibt es noch heute ohne
eine sichere Etymologie. Am wahrschein-
lichsten ist die schon von Brugmann befür-
wortete Zusammenstellung mit dem alit.
Kompar. gandžiaus ‚im Gegenteil, vielmehr,
lieber‘ und lit. gandéti ‚genug haben, befrie-
digt sein, zufriedengestellt sein wollen‘; oh-
ne Dentalerweiterung auch lit. ganà ‚genug‘,
ganéti ‚genügen, hinreichen‘; aksl. goněti
‚genügen‘; ai. ā-haná- ‚schwellend, strot-
zend, üppig, geil‘ und ghaná- ‚dicht, dick‘,
subst. ‚kompakte Masse‘; npers. ā-gandan
‚anfüllen‘. Wenn auch gr. εὐϑενέω ‚gedeihe,
blühe‘, εὐϑένεια ‚Fülle, blühender Zustand‘,
εὐϑενής (Hes.) ‚reichlich, in Fülle‘ (dehnstu-
fig εὐϑηνέω ‚gedeihe usw.‘, εὐϑηνία ‚Fülle‘)
und arm. yogn ‚viel; multum‘ (< Präp. i +
Präf. o- + *gu̯hon- oder *gu̯hno-; vgl. Lidén,
Arm. Stud. 76 ff.) zu dieser Sippe gehören,
ließe sich eine idg. Wz. *gu̯hen- : *gu̯hon- an-
setzen (Pokorny 491) mit einer Grundbed.
etwa ‚schwellen, dick oder groß werden, üp-
pig werden‘, die sich dann weiter zu ‚gedei-
hen, blühen, stark oder gesund werden‘ ent-
wickelte.
Für gr. εὐϑενέω ist aber auch eine andere
Etymologie vorgeschlagen worden (vgl.
Frisk, Gr. et. Wb. 1, 586 f.; Chantraine, Dict.
ét. gr. 384): die Formen mit η seien ur-
sprünglich; für diejenigen mit kurzem Vokal
sei entweder eine Entgleisung (nach
σϑένος?) oder alte Schwachstufe anzuneh-
men; also könnte gr. *ϑῆνος mit lat. fēnus
lautlich und begrifflich identisch sein. Auch
die Zugehörigkeit von arm. yogn ist fraglich.
Zudem sollte nach Seebold idg. *gu̯h- vor *o
im Germ. nicht *g-, sondern *b ergeben (vgl.
E. Seebold, ZVSp 81 [1967], 104 ff.; ders., in
Mayrhofer 1980: 461 f.). Da aber sowohl das
„Seeboldsche Gesetz“ wie auch die zweite
Etym. von gr. εὐϑενέω umstritten sind, bleibt
der Ansatz von idg. *gu̯hen- immer noch eine
vertretbare Hypothese. Möglich wäre aber
auch der Ansatz einer Wz. ohne das labiale
Element: *ghen-, zu der die ai., balt., slaw.
und germ. Belege passen.
Weitere germ. und außergerm. Anschlüsse sind
höchst fraglich: schon Grienberger 1900: 89 f. hat got.
gansjan ‚verursachen‘ zu ganz gestellt, aber jeder
Vergleich wird dadurch erschwert, daß gansjan ein
Hapaxlegomenon (und viell. ein Schreibfehler?) ist
und eine so abstrakte Bedeutung hat, daß die Rekon-
struktion einer Grundbedeutung nur eine Mutmaßung
sein kann. Weder Grienbergers Deutung ‚ganz ma-
chen‘ noch die von Seebold (Kluge²⁴ s. v.) ‚fertig ma-
chen‘ ist überzeugend. Könnte gansjan von einem
Adj. *ghond-to- > urgerm. *gans(s)a- zur idg. Wz.
*ghend- ‚anfassen‘ abgeleitet sein? Auch eine bloße
Mutmaßung. Vgl. Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 196;
Lehmann, Gothic Et. Dict. G-53.
Wohl abzulehnen ist der Vergleich von ganz mit alb.
gjithë ‚ganz, all‘ (E. W. Fay, IF 32 [1913], 330 ff.;
Meyer, Et. Wb. d. alb. Spr. 140 [mit Fragezeichen])
oder i zanë ‚dicht, dick‘ (zu zë ‚fassen, anfassen
usw.‘; M. E. Schmidt, ZVSp 57 [1930], 13; N. Jokl,
FS Pedersen 1937: 128). Zu den Etym. dieser Wörter
s. bes. Orel, Alb. et. dict. 136. 521; Demiraj, Alb. Et.
188 f. 426 f. (zë ‚dunkel‘).
Walde-Pokorny 1, 679; Pokorny 491; Mayrhofer, K.
et. Wb. d. Aind. 1, 84; (āhanḥ). 357 (ghanáḥ²); ders.,
Et. Wb. d. Altindoar. 1, 184. 512; Fraenkel, Lit. et.
Wb. 132 f.; ders., ZPhon 8 (1954—55), 58 f.; ders., ZVSp
72 (1954—55), 185 ff.; Sadnik-Aitzetmüller, Handwb.
z. d. aksl. Texten 30. 238 (Nr. 240).
Unter den anderen Erklärungsversuchen
stand in erster Linie ein Vergleich mit gr.
χανδάνω ‚fasse, ergreife‘, lat. prehendo
‚dss.‘, got. bi-gitan ‚finden‘, aisl. geta ‚er-
langen, erreichen‘, ahd. (bi-, fir-, int-,
ir-)gezzan, → gezzan (schon bei Benfey
1839—42: 2, 108; von Brugmann, a. a. O. ab-
gelehnt); die semantische Kluft ist aber kaum
zu überbrücken. Später haben E. W. Fay,
a. a. O. und B. Schmidt, IF 33 (1913—14),
313 ff. diese Etymologie wieder aufgegrif-
fen, wobei sie irrtümlicherweise das gr. Adv.
χανδόν ‚mit aufgesperrtem Munde, gierig‘
und das nicht sicher bezeugte Adj. χανδός
‚geräumig?, mit einer großen Öffnung‘ zu gr.
χανδάνω anstatt zu gr. χαίνω stellen (vgl.
Frisk, a. a. O. 2, 1076 f. [s. v. χάσκω]; Chan-
traine, a. a. O. 1239 f.; Pokorny 411).
Schmidt vergleicht auch me., ne. gaunt ‚hager, dünn‘
(früher auch ‚hungrig, gierig‘ < ‚hager, hungrig aus-
sehend‘), das aber höchstwahrscheinlich ein skand.
Lehnwort ist (vgl. nnorw. dial. gand ‚dünner Stock,
lange, dünne Person‘; s. Skeat 1910: 236; Klein
1966—67: 1, 643; Falk-Torp, a. a. O. 249).
Die dritte erwähnenswerte Etymologie
stammt von H. Möller, der (ZDA 36 [1892],
326 ff.) für ahd. ganz Entlehnung aus aslaw.
konĭcĭ ‚Ende‘ annimmt, das adverbiell im
Sinne von ‚bis zu Ende, völlig, gänzlich‘ ge-
braucht wurde. Trotz seiner ausführlichen
Erörterung ist diese Erklärung sicher ver-
fehlt: erstens scheint die älteste Bedeutung
von ganz nicht ‚vollständig‘, sondern ‚ge-
sund, unversehrt‘ zu sein; zweitens begegnet
ein adverbieller Gebrauch des Nomens (ohne
Präposition) nirgends im Slaw. und wäre im
Ahd. kaum zu erwarten; drittens müßte obd.
kanz die urspr. Form gewesen sein, während
die vielen Belege von ganz durch mitteldt.
Lautsubstitution entstanden sein müßten;
viertens gab es, soviel wir wissen, sonst kei-
ne slaw. Lehnwörter im ältesten Ahd. (vgl.
Brugmann, a. a. O. 57 f.).
Zu anderen alten, sicher verfehlten Deutun-
gen vgl. Brugmann, a. O.