geistAWB m. a-St., seit dem 8. Jh.: ‚Geist,
Atem, Hauch, Gespenst, Erscheinung eines
Verstorbenen, Engel, Helfer, Dämon, Teu-
fel, (bildlich für die Kürze des Lebens) We-
hen, Wind, Leben(skraft), Wille, Vorsatz;
spiritus‘ 〈Var.: k-, gh-; -ai-〉. Der alte Diph-
thong ahd. ai geht bereits am Ende des
8. Jh.s in ei über, während die Schreibung
gh- (im I) für frk. g vor hellem Vokal steht
(vgl. Matzel 1970: 196 f.). — Mhd. geist st. m.
‚Geist, Gegensatz zum Körper (und allge-
meiner), überirdisches, jenseitiges Wesen‘,
nhd. Geist m. ‚Hauch, Atem, menschliches
Denk- und Erkenntnisvermögen, Esprit,
idealistisches, schöpferisches Prinzip, Ge-
spenst‘.
Ahd. Wb. 4, 184 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 295; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 362; Schützeichel⁶ 131; Starck-Wells
195; Schützeichel, Glossenwortschatz 3, 423; Seebold,
ChWdW8 143; Graff 4, 269 ff.; Lexer 1, 798 f.; 3,
Nachtr. 184; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 624 (spiritus);
Dt. Wb. 5, 2623 ff.; Kluge²¹ 243; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer,
Et. Wb.² 415 f. — Braune-Reiffenstein 2004: §§ 44
Anm. 3. 148 Anm. 4.
Ahd. geist hat nur im Westgerm. Entspre-
chungen: as. gēst m. ‚Sinn, Gemüt, Seele,
heiliger Geist, böser Geist‘, mndd. geist m.
‚Geist‘; andfrk. geist, mndl. geist, geest m.,
nndl. geest ‚Geist‘; afries. iest, gast, geist m.,
nfries. geast ‚Sinn, Gemüt, Seele, Geist‘; ae.
gāst, gǣst m. ‚Geist, Seele, Atem, Leben,
Dämon, Mensch‘, me. gōst, ne. ghost
‚Geist‘; ndän., nschwed. gejst, nnorw. geist
sind dagegen aus nhd. Geist entlehnt: <
westgerm. *gai̯sta-. Wegen des im Ae. vor-
liegenden Wechsels zwischen -ā- und -ǣ-
wird zu Recht ein vorausliegender neutraler
s-St. *ai̯staz/ez- postuliert (vgl. W. Braune,
PBB 43 [1918], 406; Brunner 1965: § 288
Anm.). Zum Wechsel in die m. a-St. ist etwa
urgerm. *arez- n. ‚Gerste‘ > ae. bere m.
‚Gerste‘ zu vergleichen.
Westgerm. *gai̯sta- ist eine Ableitung mit
dem Suffix *-to- von einer Verbalwurzel ur-
germ. *ai̯se/a- ‚erschrecken‘. Die Bedeu-
tungsentwicklung des substantivierten Ver-
baladj. (‚erschreckt‘) ist wohl über ‚etwas,
das erschreckt‘, ‚Erscheinung des Verstorbe-
nen‘ zu ‚Geist‘ im abstrakten Sinn verlaufen;
vgl. die zur Grundbedeutung stimmende Be-
deutung der Ableitung ae. gǣstan ‚erschrek-
ken‘.
Die Wurzel ist im Got. und Aisl. mit unter-
schiedlichen Suffixen fortgesetzt: got. us-
gaisiþs ‚außer sich seiend‘ (Part.Prät. zu ei-
nem Inf. usgaisjan* ‚erschrecken‘), us-geis-
nan* ‚sich entsetzen‘; nisl. geiski ‚schrek-
ken‘ (vgl. aisl. geiska-fullr ‚voll Schrecken‘);
→ geisin ‚Mangel‘.
Die Analyse als *ai̯st-a- ergäbe einen direkten An-
schluß an ai. héḍa- ‚Zorn‘ (s. u.). In diesem Fall müß-
te man jedoch annehmen, daß im Nomen die erweiter-
te Wurzel urgerm. *ai̯st-, im Verb aber die unerwei-
terte Wurzel *ai̯s- fortgesetzt ist, was wenig wahr-
scheinlich ist.
Wie die Bedeutungen zeigen, liegt das mit
westgerm. *gai̯sta- bezeichnete Konzept
ursprünglich im Bereich der ekstatischen
Gemütsverfassung. Daher ist auch das Feh-
len des Wortes im Got. erklärlich, da die
Mission bei den Goten Wörter ausklammer-
te, die mit heidnischen Inhalten besetzt wa-
ren. Sie setzte für gr. πνεῦμα, lat. spiritus
(das seinerseits semantisch durch gr. πνεῦμα
beeinflußt wurde) das Wort ahma ein, wäh-
rend der süddeutsche Raum, der gotisch mis-
sioniert wurde, für lat. spiritus ebensowenig
ahd. geist, sondern ahd. âtum (s. d.) benutzte
(vgl. Betz 1948: 48 ff.).
Fick 3 (Germ.)⁴ 135; Holthausen, As. Wb. 26; Sehrt,
Wb. z. Hel.² 177 f.; Berr, Et. Gl. to Hel. 155; Wadstein,
Kl. as. Spr.denkm. 182; Lasch-Borchling, Mndd. Hand-
wb. 2, 1, 90; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 36; Quak,
Wortkonkordanz zu d. am.- u. andfrk. Ps. u. Gl. 66;
Quak, Die am.- u. andfrk. Ps. u. Gl. 199; Verwijs-Ver-
dam, Mndl. wb. 2, 1099 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal²
180; Vries, Ndls. et. wb. 188; Et. wb. Ndl. F-Ka 199 f.;
Holthausen, Afries. Wb.² 34; Richthofen, Afries. Wb.
847; Fryske wb. 7, 113 ff.; Doornkaat Koolman, Wb. d.
ostfries. Spr. 1, 594; Dijkstra, Friesch Wb. 1, 443; Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 122; Bosworth-Toller, AS Dict. 362;
Suppl. 283; ME Dict. s. v.; OED² s. v.; Vries, Anord. et.
Wb.² 162; Bjorvand, Våre arveord 290 f.; Jóhannesson,
Isl. et. Wb. 306; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 1,
573; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 82; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 306 f.; Nielsen, Dansk et. ordb.
154; Ordb. o. d. danske sprog 6, 748 f.; Hellquist,
Svensk et. ordb.³ 272; Svenska akad. ordb. s. v.; Feist,
Vgl. Wb. d. got. Spr. 531 f.; Lehmann, Gothic Et. Dict.
U-52. — Lutze 1960; Becker 1964; Moeller-Schina
1969: 37 f.; Suzuki 1989: 106 f.; Bammesberger 1990:
76; W. Betz, in FS Hammerich 1952: 7 f.; W. Betz, IF
63 (1958), 310; U. R. Mahlendorf, JEGP 59 (1960),
480 ff.; J. Knobloch, Orbis 9 (1960), 428; K. Schacks,
PBB 88 (Tübingen, 1966), 175 ff.; B. G. Weidmann,
Orbis 32 (1983 [1987]), 223 ff.
Urgerm. *ai̯se/a- setzt (mit o-Stufe aus dem
Kausativ *ĝhoi̯s-éi̯e/o-) die Verbalwurzel ur-
idg. *ĝhei̯s- ‚erschrecken‘ fort, die verbal au-
ßergerm. lediglich im Ai. als n-Infix-Bildung
hinásti ‚verletzt‘ (< *ĝhi-né/n-s-) weiterlebt.
Nominal sind hiervon abgeleitet: ved. héṣas-
‚Waffe‘, jav. zaēša- ‚schrecklich‘. Eine d-
Erweiterung (oder Kompositum mit der
Schwundstufe von uridg. *deh₃- ‚geben‘?) von
uridg. *ĝhei̯s- ist uridg. *ĝhei̯sd- ‚(er-)schrek-
ken‘, verbal fortgesetzt in ved. á-heḍant-
‚nicht zürnend‘, á-heḍayant- ‚nicht erzürnend‘
(< *ĝhoi̯sd-éi̯e/o-), nominal in ved. héḍa- m.
‚Zorn‘, jav. zōiždišta- ‚schauderhaftest, ab-
scheulichst‘.
Unklar ist das Verhältnis zu der Parallelbil-
dung air. gáes ‚Schlauheit‘ (< urir. *goi̯sto-),
da das Wort semantisch als Abstraktum zum
air. Adj. gáeth (< *goi̯to-) ‚klug, schlau‘ (<
‚[geistig] beweglich, durchdringend‘) dient.
Es steht neben air. gáeth ‚Besessenheit,
Tollwut, Wind, Lebenshauch‘ (< *goi̯tā-;
vgl. W. Meid, IF 69 [1964], 222; W. Meid,
Sprache 11 [1965], 126 f.). Die ir. Bildungen
(auch verbaut im ogam-ir. PN Gattagni; vgl.
Ziegler 1994: 182 f.) lassen aber eher auf die
Verbalwz. uridg. *ĝhei̯- ‚antreiben‘ schlie-
ßen, deren Verbindung mit uridg. *ĝhei̯s- un-
klar ist.
Abzulehnen ist die von V. Machek, Sprache 4 (1958),
74 f. vorgeschlagene Verbindung von urgerm. *ai̯sta-
(< *a-ista-) mit heth. ištanza- ‚Seele, Wille, (junger)
Wunsch‘, da dies wohl als i-štant-, also mit i-Vorschlag,
aufzufassen ist (vgl. Tischler, Heth. et. Gl. 1, 430 ff.).
Walde-Pokorny 1, 553 f.; Pokorny 427; LIV² 174 f.;
Mayrhofer, K. et. Wb. d. Aind. 3, 595. 601 f. 611; ders.,
Et. Wb. d. Altindoar. 2, 819 ff.; Bartholomae, Airan.
Wb.² 1651. 1693.
S. geisin.