ginâdaAWB f. ō-St., im Abr und weiteren
Gl., in StD (W, B, MH, MF, AB, BG, FP, Ps,
APs, M, AG, Ch, G, LB, TPS, DH, WH,
OG, Ph), GB, bei O, N, Npg: ‚Gnade, Barm-
herzigkeit, Beistand, Güte, Milde, Gunst,
Gabe, Vergebung, Dank; beneficium, bonum,
charisma, clementia, gratia, humanitas, hu-
militas, miseratio, misericordia, misertus,
ops, osianna, pietas, propitiatio, propitiato-
rium, (relevatio), venia‘, after ginâdôn ‚aus,
durch Gnade; clementiā‘ 〈Var.: ki-, ka-, ga-,
ge-, gn-; -th-〉. Die ältesten Belege stammen
aus dem bair. und alem. Sprachgebiet. Schon
in B (1. Viertel des 9. Jh.s) ist Synkope von i
vor n zu beobachten (vgl. auch Braune-
Reiffenstein 2004: § 71 Anm. 4). Wahr-
scheinlich liegt dem Präfixkomp. ginâda ein
ahd. nicht bezeugtes Simplex *nâda ‚Ruhe,
Gnade‘ (vgl. afries. nāthe, aisl. náð; s. u.)
zugrunde. — Mhd. genâde, gnâde st. f. ‚Ruhe,
das Sich-Niederlassen zum Ausruhen, ruhige
Lage, Behagen, Glück, Glückseligkeit, hel-
fende Geneigtheit, Gunst, Huld, Gnade, Er-
barmen‘. Seit dem 16. Jh. überwiegt synko-
piertes gnâde, doch sind noch bis ins 18. Jh.
nicht synkopierte Formen in Gebrauch, nhd.
Gnade f. ‚Gunst (eines sozial höher Gestell-
ten gegenüber einem sozial niedriger Ge-
stellten), Milde, Nachsicht, Schonung, Straf-
nachlaß‘, in der christlichen Religion ‚ver-
zeihende Güte, Barmherzigkeit Gottes, Sün-
denvergebung‘, mdartl. ist die urspr. Bed.
‚Ruhe‘ noch in Wendungen erhalten: die
Sonne geht zu Gnaden ‚die Sonne geht unter‘
(schweiz., vorarlb., bad.), (nicht) zu gnaden
kommen ‚(nicht) zur Ruhe kommen‘
(schweiz., pfälz., thür., osächs., ndsächs.,
meckl., schleswig-holst., lüneb.), verhüllend
zu gnaden gehen ‚sterben‘ (schweiz.), zu
gnade(n) kommen ‚sterben‘ (ndsächs.,
meckl.).
Die Grundbedeutung des Subst. ‚das Sich-
Niederlassen, Ruhe‘ läßt sich im Ahd. nicht
nachweisen, was wahrscheinlich auf die
überlieferten Textgattungen zurückzuführen
ist. Die Bedeutungsentwicklung des Wortes
ist wesentlich durch die von Süddeutschland
ausgehende Christianisierung geprägt. Zur
Wiedergabe des lat. gratia-Begriffs konkur-
riert das obd. geprägte ginâda mit huldî und
geba des T und Hel.
Splett, Ahd. Wb. 1, 650; Köbler, Wb. d. ahd. Spr. 422;
Schützeichel⁶ 247; Starck-Wells 214. 817; Schützei-
chel, Glossenwortschatz 7, 5 f.; Seebold, ChWdW8
217; Graff 2, 1024 ff.; Lexer 1, 850; Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 76 (bonum). 109 (clementia). 293 (gratia).
407 (miseratio, misericordia). 491 (pietas). 531 (pro-
pitiatio). 699 (venia); Dt. Wb. 8, 505 ff.; Kluge²¹
263 f.; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.² 460. — Schweiz.
Id. 2, 660; Ochs, Bad. Wb. 2, 440; Jutz, Vorarlberg.
Wb. 1, 1209; Christmann, Pfälz. Wb. 3, 364; Span-
genberg, Thür. Wb. 2, 664; Frings-Große, Wb. d.
obersächs. Mdaa. 2, 124; Bretschneider, Brandenb.-
berlin. Wb. 2, 369; Jungandreas, Ndsächs. Wb. 5, 549;
Kück, Lüneb. Wb. 1, 580 f.; Mensing, Schleswig-holst.
Wb. 2, 406; Wossidlo-Teuchert, Meckl. Wb. 3, 201. —
Wahmann 1937: bes. 53 ff. 80 ff. 98 ff. 103 f. 111.
121 ff. 133 ff. 141 ff. 146. 150 f. 158. 167 ff. (Be-
schreibung der semantischen und wortgeographischen
Entwicklung von ahd. ginâda); Betz 1949: 74. 102; I.
Strasser, in Löwe 1982: 414 ff.; A. Classen, LB 84
(1995), 31 ff.; HWPh 3, 707 ff.; RGA² 12, 240 ff.;
DRW 4, 963 ff.
Ahd. gi-nâda hat in den westgerm. Sprachen
(mit Ausnahme des Ags.) und im Nordgerm.
Entsprechungen: as. nāđa st. f. ‚Gnade‘ (nur
Hel 4261), gināđa st.sw. f. ‚Gnade, Barm-
herzigkeit, Milde‘ (nur WaD), mndd. ge-
nāde, gnāde f. ‚Ruhe, nachsichtige Güte,
milde Gesinnung (eines sozial höher Gestell-
ten gegenüber einem sozial niedriger Ge-
stellten), Gunst, Vergünstigung, Privileg‘, als
Titel, Anrede hochrangiger Personen sīn
gnāde(n), jūwe gnāde(n); andfrk. ginātha
(genātha, qinātha) f. ‚Gnade, Barmherzig-
keit‘, mndl. genade (genede, genaed, gnade)
f. ‚Ruhe, wohlwollende Gesinnung, Bei-
stand, Dankbarkeit‘, auch als Anrede, Titel
hochrangiger Personen, nndl. genade f.
‚Gnade‘; afries. nāthe, nēthe f. ‚Gnade, Nut-
zen, Privileg, Ruhe, Schutz‘, nfries. ge’nade
‚Gnade, Vergebung‘, auch als Anrede, Titel
hochrangiger Personen (veraltet); aisl. náð f.,
pl. náðir ‚Gnade, Barmherzigkeit, Frieden,
Ruhe‘ (entlehnt in me. nāthe ‚Gnade‘; s.
Björkman [1900—02] 1973: 91. 164; die
christliche Bedeutung ‚Gnade‘ ist aus dem
Westgerm., wahrscheinlich Mndd., über-
nommen; s. Fischer 1909: 1), nisl., fär. náð,
nnorw. naade m., adän. nathæ, ndän. nåde,
aschwed. nāþ, nschwed. nåd ‚Ruhe, Obhut,
herablassende Geneigtheit, Gnade‘ (ers nåd
nach dem Vorbild von dt. Euer Gnaden, die
Wendung låta nåd gå för rätt entspricht dt.
Gnade für [= vor] Recht ergehen lassen): <
urgerm. *(a-)nēđō-.
Fick 3 (Germ.)⁴ 291; Seebold, Germ. st. Verben 360;
Holthausen, As. Wb. 54; Sehrt, Wb. z. Hel.² 402; Berr,
Et. Gl. to Hel. 291; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 185;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 66 f.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 2, 124; Quak, Wortkonkordanz zu
d. am.- u. andfrk. Ps. u. Gl. 68. 80. 124; Quak, Die
am.- u. andfrk. Ps. u. Gl. 203; Verwijs-Verdam, Mndl.
wb. 2, 1379 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 186;
Suppl. 56; Vries, Ndls. et. wb. 195; Et. wb. Ndl. F-Ka
226; Holthausen, Afries. Wb.² 76; Richthofen, Afries.
Wb. 942 f.; Fryske wb. 7, 181; Doornkaat Koolman,
Wb. d. ostfries. Spr. 1, 607 f.; Dijkstra, Friesch Wb. 1,
450; ME Dict. s. v. nāthe n.²; Vries, Anord. et. Wb.²
403; Bjorvand, Våre arveord 678 f.; Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 690. 1097; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske
sprog 2, 778 f.; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord.
206; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 1, 751 f.; Nielsen,
Dansk et. ordb. 309; Ordb. o. d. danske sprog 14,
804 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 452; Hellquist, Svensk
et. ordb.³ 713; Svenska akad. ordb. s. v.; Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 376; Lehmann, Gothic Et. Dict. 376.
— Müller-Frings 1966—68: 1, 14. 23—25.
Am nächsten steht mit anderem Ablaut ge-
bildetes got. niþan ‚unterstützen‘ (nur
2.sg.opt.präs. niþais ‚du mögest unterstüt-
zen‘ (Wissmann 1932: 112 f.). Gehört aber
ai. nāthá- n. ‚Schutz, Hilfe, Zuflucht‘ (KS
Wackernagel 1953—79: 2, 946), nthate
‚sucht Hilfe, fleht‘ und gr. ὀνίνημι ‚nütze,
helfe‘ < vorurar., vorurgr. h₃neh₂- dazu, hätte
sich über ein reziprokes Bedeutungsverhält-
nis ‚Unterstützung, Schutz‘ die Bedeutung
‚Zustand des Schutzes, Ruhe‘ entwickelt. Im
Ai. wie im Germ. wäre dann die Wz. mit
*-th₂- erweitert (*h₃neh₂-th₂-). Doch müßte
man im Germ. mit folgenden Ablautentglei-
sungen rechnen: Auf der Basis der schwund-
stufigen Wurzelform urgerm. *naþ- <
*h₃nǝ₂th₂- wäre ein st. Verb *neþe/a- (> got.
niþan) mit neuer e-Vollstufe gebildet wor-
den, von dem dann ein Subst. *nēđō- (mit *ē
als Schwundstufenersatz) abgeleitet wäre. Zu
solchen Neubildungen vgl. urgerm. *u̯eng-
(> nnorw. vingla ‚schwanken, wackeln, tor-
keln‘): *u̯ang- (nnorw. mdartl. vangla ‚hin-
und herflattern‘); vgl. Lühr 2000: 245. 255
(s. v. stýrja).
Walde-Pokorny 2, 327; Pokorny 754; Mayrhofer, K.
et. Wb. d. Aind. 2, 151 f.; ders., Et. Wb. d. Altindoar.
2, 33 f.; Frisk, Gr. et. Wb. 2, 395 f.; Chantraine, Dict.
ét. gr. 803.