gingênAWB sw. v. III (auch II?; s. u.), nur O
und Gl. seit dem 10. Jh.: ‚Verlangen haben,
sich sehnen, streben (nach); imitari, maestus
(aliquid) requirere, sequi‘. Das Part.Präs.
ginganti, -ainti, -aonti, -ati Gl. 2,65,52. 71,24
(s. T. Starck, FS Ford 1948: 306, 36) zum
Lemma maesta requiret kann zu einem sw.
Verb II *gingôn (zu gingo; s. u.) gehören.
Auch die Glossierung ist problematisch;
nach Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 386 ‚trauernd
Verlangen haben (nach)‘. Vgl. Ahd. Wb. 4,
264. — gigingênAWB?, nur Gl. 2,58,56 (10. Jh.):
‚erstreben, hinstreben; adspirare‘. — gingoAWB m.
n-St., nur O und Gl. 2,247,56 (9. Jh.):
‚Verlangen, Bestreben, Absicht; intentio‘
(mhd. ginge sw. m., st. f. ‚Verlangen‘).
Ahd. Wb. 4, 264 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 305; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 424; Schützeichel⁶ 134; Starck-Wells
215; Schützeichel, Glossenwortschatz 3, 456; Graff 4,
217; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 58 (aspirare). 347 (inten-
tio). 386 (maestus). 605 (sequi).
Die Wörter gehören wohl zu einer idg. Wz.
*gheh₁i̯-gh- oder *ghei̯-k-, einer Erweiterung
der Wz. *gheh₁i̯- ‚gähnen, klaffen, lechzen
(nach)‘ (→ gîr, gîra) mit germ. „expressiver
Nasalierung“ (vgl. Lühr 1988: 111 f.); ohne
Nasalierung got. gageigan ‚gewinnen;
κερδῆσαι‘, faihugeigan ‚begehren; ἐπιϑυ-
μεῖν‘. Außergerm. sind ai. jéhamāna-
‚gähnend‘ und lit. žiógauti ‚gähnen‘ zu ver-
gleichen.
Hierher gehören wohl auch aisl. geiga
‚seitwärts abweichen‘, nnorw. geiga ‚hin und
her schwanken‘, aisl. geigr ‚Schade, Verlet-
zung‘; afries. geia ‚übertreten, Buße zahlen‘;
ae. gāgol ‚ausgelassen, ausschweifend‘, for-,
ofergǣgan ‚abweichen, überschreiten‘, mit
einer Bed.entwicklung etwa ‚aufklaffend,
auseinanderstehend, lose gefügt > locker, un-
stet, schwankend‘ (vgl. Wissmann 1932:
41 f.).
Weniger wahrscheinlich Lühr, a. a. O.: urspr. Bedeu-
tung ‚sich unstet bewegen > sich vor Begierde unstet
bewegen > begehren‘.
Der Ansatz einer zweiten idg. Wurzel *ghei̯gh- mit ve-
larem *gh (Pokorny 427) erübrigt sich, denn lit
(ãpmaudą) giẽžti ‚Groll hegen‘, pagiežà ‚Rachgier‘
usw. sind nicht verwandt (vgl. Fraenkel, Lit. et. Wb.
129 s. v. gaižùs).
Th. Krisch, HS 103 (1990), 125 deutet gingên als
*ga+ing+ēn und got. gageigan als *ga+ga+eigan,
zur Wz. von ahd. eigan, êht (s. d.), aber die Annahme
einer vorgot. Synkope des *a in *ga- ist kaum zu
rechtfertigen.
Abzulehnen ist auch Orel 2003: 134: aus *gingēnan,
got. gageigan aus *gēgēnan „a reduplicated derivative
of *giēnan“ (→ ginên).
Die Bed. von anaging (s. d.) bei O (V,20,98) ist nicht
ganz klar. Die gewöhnliche Übersetzung ‚Angriff‘
steht in keinem Zusammenhang mit der Bed. von
gingên. Es handelt sich vielleicht um ein Reimwort
(githuinge : anaginge), das keine feste Bedeutung hat,
wie bei sachôn in der vorhergehenden Zeile ([ánabre-
chon] mit égislichen sáchon = ‚auf schreckliche Art‘;
vgl. Kelle [1856—81] 1967: 3, 499). Wissmann 1975:
105 versucht, die Deutung ‚Angriff, Drohung‘ zu
rechtfertigen, indem er gingên als ‚verfolgen, wonach
streben‘ definiert, aber gingên hat sonst nie die Be-
deutung ‚verfolgen‘ (im negativen Sinn). Eigentlich
braucht anaging an sich keine ausschließlich negative
Bedeutung zu haben; diese liegt vielmehr im Adj.
svâri ‚bedrückend‘. Wenn anaging etwa ‚Ausführung
einer Absicht jemandem gegenüber‘ bedeutet (vgl.
gingo ‚intentio‘), ließe sich die Stelle vielleicht als
‚mit einer schweren Heimsuchung‘ deuten.
Fick 3 (Germ.)⁴ 134; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 181;
Lehmann, Gothic Et. Dict. G-17; Vries, Anord. et.
Wb.² 160 f.; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 302 f.; Holthau-
sen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 82; Torp, Nynorsk et.
ordb. 150; Holthausen, Afries. Wb.² 34; ders., Ae. et.
Wb. 121. 123; Bosworth-Toller, AS Dict. 310. 359.
733; Suppl. 242. 279. 658. — Walde-Pokorny 1, 548 ff.
552; Pokorny 419 ff. 427; Mayrhofer, K. et. Wb. d.
Aind. 1, 444; ders., Et. Wb. d. Altindoar. 1, 598;
Fraenkel, Lit. et. Wb. 1311 f.