halônAWB, holônAWB sw. v. II, seit dem 8. Jh.:
‚holen, herbeiholen, (herbei-)rufen, einladen,
berufen, sich jemandes annehmen, zurück-
bringen, fordern; accipere, accire, adducere,
adhibēre, adipisci, arcessere, colligere, du-
cere, exanclare (exhaurire), exhibēre, exse-
qui, (impetere), (imponere), petere, recipere,
repetere, rescindere, revocare, sollicitare,
subrogare, vocare‘. — Mhd. hol(e)n, haln
‚(herbei-)holen, erreichen, erwerben und mit
sich fortführen‘, nhd. holen ‚hingehen und
etwas herbeibringen‘, refl. ‚sich etwas
Schlimmes zuziehen‘.
Ahd. Wb. 4, 631 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 345; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 509 f.; Schützeichel⁶ 147; Starck-
Wells 250. 821; Schützeichel, Glossenwortschatz 4,
127. 130 f.; Seebold, ChWdW8 152; Graff 4, 850 ff.;
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 7 (accipere). 8 (accire). 12
(adducere). 13 (adhibēre). 14 (adipisci). 51 (arces-
sere). 115 (colligere). 213 (ducere). 234 (exanclare).
238 f. (exhibēre). 244 (exsequi). 320 (impetere). 321
(imponere). 489 (petere). 556 (recipere). 568 (repe-
tere). 570 (rescindere). 576 (revocare). 617 (sollicita-
re). 636 (subrogare). 717 (vocare); Lexer 1, 1326 f.;
Dt. Wb. 10, 1741 ff.; Kluge²¹ 314; Kluge²⁴ s. v.; Pfei-
fer, Et. Wb.² 551.
Der Ansatz einer Variante halên, holên sw. v. III
(Ahd. Wb. 4, 626 u. a.) ist sehr fraglich. Fast alle Be-
lege sind dreisilbige Formen des Prät. oder Part.Prät.
bei O und N und in einer Gl. des 10. Jh.s, wo -ô- zu
-ǝ- (geschrieben -e- oder -a-) nach einem kurzen
Stammvokal geschwächt wird (vgl. A. L. Lloyd,
JEGP 60 [1961], 94 ff.; 63 [1964], 691 f.). Sonst
kommt -e- nur zweimal vor: einmal imper. hole in Ch
(10. Jh.), einem Werk, das Vokale der Nebensilben
ziemlich willkürlich behandelt, und einmal 3.sg. halet
in der späten Gl. 2,443,24 (von anderer Hand: nahi-
mohalet [Paris, Nouv. Acquis. 241, Hs. der Schrift
nach im 11. Jh. entstanden, Zeit des Gl.eintrags unbe-
kannt; s. Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 771]).
Das Wort hat nur im Westgerm. Entspre-
chungen (ndän. hale, nschwed. hala, wie
auch der etwas fragliche Beleg aisl. hala
‚ziehen‘ in einer späten Quelle [vgl. J. Man-
sion, PBB 33 (1908), 569 f.], sind aus dem
Mndd. oder Mndl. entlehnt. Vgl. Vries,
Anord. et. Wb.² 203; Holthausen, Vgl. Wb. d.
Awestnord. 104; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog 1, 691; Falk-Torp, Norw.-dän.
et. Wb. 373; Hellquist, Svensk et. ordb.³
328): as. halon ‚holen, bringen, fortführen‘
(nur im Hel), mndd. hālen ‚holen, herbeiho-
len, bringen, ziehen‘; mndl., nndl. halen
‚holen, tragen, ziehen, erhalten‘; afries. halia
‚holen, heimführen, heiraten, nehmen, Buße
erlangen, einfordern, herbeiführen‘. Das
Wort fehlt im Ae., nur einmal kommt giho-
lian ‚erhalten‘ (9./10. Jh.) vor; me. halen, ae.
hale, haul sind aus afrz. haler (12. Jh.) über-
nommen, das seinerseits wohl aus dem
Westgerm. entlehnt ist (vgl. Wartburg, Frz.
et. Wb. 16, 130 ff. bes. 133).
Fick 3 (Germ.)⁴ 83; Holthausen, As. Wb. 30; Sehrt,
Wb. z. Hel.² 217; Berr, Et. Gl. to Hel. 172; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 198 f.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 2, 177; Verwijs-Verdam, Mndl.
wb. 3, 35 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 226; Vries,
Ndls. et. wb. 232; Et. wb. Ndl. F-Ka 369; Holthausen,
Afries. Wb.² 38; Richthofen, Afries. Wb. 792 f.; Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 169; Bosworth-Toller, AS Dict.
Suppl. 345; ME Dict. s. v.; OED² s.vv. hale v.¹, haul
v.
Diese Formen setzen urgerm. *kal- voraus;
nur im Ahd. (und einmal im Ae.) kommen
Fortsetzer einer Nebenform *kul- vor, die
wohl auf einen alten Ablaut zurückzuführen
sind (vgl. Braune-Reiffenstein 2004: § 25
Anm. 1; Schatz 1927: § 2).
Das Wort hat keine sichere Etymologie. Die
älteste und immer noch am meisten zitierte
Erklärung vergleicht gr. καλεῖν ‚rufen, her-
beirufen, nennen‘, lat. calāre ‚ausrufen, zu-
sammenrufen‘, wohl auch heth. kalleš-
‚rufen, schreien, lärmen, klingen‘ (Pokorny
548 f.; → hel), was eine germ. Grundbed.
‚herbeirufen‘ voraussetzt (die von Vries,
Ndls. et. wb. 232 vorgeschlagene Bed. ‚rufen
beim gemeinsamen Ziehen‘ ist weniger
wahrscheinlich).
Mit dieser Erklärung konkurriert der von J.
Mansion, a. a. O. 569 f. vorgeschlagene Ver-
gleich mit gr. κάλως ‚Seil, Tau, Kabel‘.
Die erste Erklärung bietet semantische Pro-
bleme, die zweite ist eigentlich keine Etymo-
logie, sondern nur ein Vergleich mit einem
isolierten gr. Wort, das nach Frisk, Gr. et.
Wb. 1, 769 f. wohl ein technisches Fremd-
wort ist; eine idg. Wz. *kal- ‚ziehen‘ ist sonst
nirgends bezeugt.
Der schärfste Kritiker der ersten Etymologie,
J. Mansion, a. a. O. 547 ff., behauptet, daß
die Bed. ‚(herbei-)rufen‘ nur im Ahd. und
dort fast ausschließlich bei T vorkommt
(dessen Übersetzer ungeschickt sei), wäh-
rend in den anderen germ. Sprachen nur die
Bed. ‚ziehen‘ und Ähnliches belegt ist. Diese
Einwände sind aber nicht ganz stichhaltig.
Erstens wird lat. vocare auch in den MF
durch halôn übersetzt, und die Bed.
‚(herbei-)rufen‘ kommt schon in Gl. seit dem
8. Jh. vor; trotz Mansion, a. a. O. 566 Anm. 1
sind Glossen nicht so unbedeutend.
Zweitens kommt ein Beleg mit der Bedeu-
tung ‚rufen‘ in einer as. Gl. des 10. Jh.s (Gl.
2,717,30; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 112,
29) vor: ut[g]ihalad (oder -od) ‚ruft (die To-
ten) hervor; ciet‘.
Drittens spielen die ahd. Wörter die wichtig-
ste Rolle bei der Beurteilung der
Bed.entwicklung im Germ.: mit Ausnahme
der isolierten ae. Zss. giholian und der Bele-
ge im Hel (der ahd. Einfluß zeigt), gehören
alle anderen westgerm. Belege einer späteren
Zeit an (Mndd., Mndl., Afries.). Im Ahd.
kommt sowohl die wohl urspr. Bed.
‚(herbei-)rufen‘ als auch die daraus entwik-
kelte sekundäre Bed. ‚(herbei-)holen‘ vor;
später gewinnt diese Bed. die Oberhand und
aus der Bed. ‚holen‘ hat sich z. T. in anderen
germ. Sprachen auch eine Nebenbed.
‚ziehen‘ entwickelt. Trotz der Einwände
Mansions ist diese Etymologie wohl vorzu-
ziehen.
Wohl verfehlt F. Holthausen, IF 44 (1927), 191: zu
arm. kՙałem ‚sammeln, ausreißen, fortnehmen‘, kՙil
‚Hand‘.
Walde-Pokorny 1, 443 ff.; Pokorny 548 ff.; Frisk, Gr.
et. Wb. 1, 762 f.; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 1,
141 f.; Tischler, Heth. et. Gl. 1, 465 f. — Olsen 1999:
942 (kՙil* ‚Raum, Stelle zwischen Daumen und Zeige-
finger‘: Wort unbekannten Ursprungs).