krazzôn sw.v. II, seit dem 9. Jh. in Gl.,
Npg: ‚zerkratzen, zerfleischen, zusammen-
kratzen, kratzen; abradere, birrus [= kraz-
zônti wâti], charaxare, comare, dissecare,
foedare, lacerare, scalpere, secare, torquere,
vellere‘ 〈Var.: c(h)-; car-; -z-, -c-, -cz-〉.
Neben den Formen auf -o- stehen auch
solche auf -e- (Belege Ahd. Wb. 5, 388), die
auf ein neben krazzôn stehendes ên-Verb
krazzên zu weisen scheinen; jedoch kann an
diesen Stellen auch ein ôn-Verb mit ab-
geschwächtem Suffixvokal vorhanden sein.
— Mhd. kratzen, kretzen sw.v. ‚kratzen, (auf
einem Saiteninstrument) spielen‘, nhd. krat-
zen sw.v. ‚mit etw. Spitzem, Scharfem, Rau-
em, besonders mit Nägeln oder Krallen, rit-
zen oder schaben, die Nägel oder Krallen
gebrauchen, mit der Spitze, mit der schar-
fen, rauen Seite (von etw.) auf etw. reiben,
scheuern und ein entsprechendes Geräusch
von sich geben, mit etw. Spitzem, Scharfem,
Rauem, besonders mit Nägeln oder Krallen,
an oder auf etw. reiben, scheuern (und ein
entsprechendes Geräusch verursachen)‘.
Ahd. Wb. 5, 388 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 482; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 679; Schützeichel⁷ 182; Starck-Wells
345; Schützeichel, Glossenwortschatz 5, 328; See-
bold, ChWdW9 479; Graff 4, 586; Lexer 1, 1713; 3,
Nachtr. 281; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 99 (cha-
raxare). 515 (scalpere); Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 591
(scalpere); Dt. Wb. 11, 2075 ff.; Kluge²¹ 401; Kluge²⁵
s. v.; Pfeifer, Et. Wb.² 727 f.
In den anderen germ. Sprachen entspre-
chen: mndd. kratten ‚kratzen‘, ndän. kratte,
aschwed., nschwed. kratta ‚kratzen‘ (falls
die nordgerm. Formen nicht aus dem Mndd.
entlehnt sind): < urgerm. *krattōi̯e/a-. Für
das Niederländische ist ein entsprechendes
Verb mndl. *cratten, aus dem mlat. cratare,
gratare, nfrz. gratter, prov. gratar, italien.
grattare ‚kratzen‘ entlehnt sind, zu pos-
tulieren.
Dagegen zeigen Wörter in den anderen Spra-
chen eine s-Lautung. Dabei ist unklar, ob die
Wörter Entlehnungen aus dem Mhd. oder
selbständige s-Ableitungen von der Verbal-
wz. *krat- sind: as. kratson ‚zerkratzen‘ (nur
3.sg.ind.prät. crázóda), mndd. kratzen,
krassen ‚kratzen, auskämmen, krempeln‘;
mndl. cratsen, cretsen ‚kratzen, kerben, ein
schrilles Geräusch machen‘ (hieraus als
Fachterminus der Weberei me. cracchen, ne.
[ausgestorben] cratch [zur Kontamination in
ne. scratch ‚kratzen‘ s. OED² s. v. scratch
v.]), frühnndl. kratsen, kretsen, nndl. (mit
Assimilation) krassen ‚kratzen, schaben‘;
nwestfries. krasse, saterfries. kratsje ‚krat-
zen‘; nisl. krassa, ndän. kradse, nnorw.
krasse, aschwed. kraza, nschwed. kratsa
‚kratzen, schaben‘.
Daneben steht eine abweichende Bildung
urgerm. *krati̯e/a- > mhd. kretzen (s. o.);
mndd. kretten ‚reizen, quälen, belästigen‘
(die Zugehörigkeit ist nicht ganz sicher);
frühmndl., mndl. cretten ‚kratzen‘.
Vielleicht gehört ebenfalls ablautend aisl.
krota ‚durch aufgesetzte Figuren schmü-
cken‘, nnorw. krota ‚Figuren ausschneiden‘,
nschwed. dial. krota, kråta ‚quetschen,
langsam arbeiten, in Holz schneiden‘ (<
*krut-) hierher, wobei die Ausgangsbed.
‚Figuren in eine Lehmwand kratzen‘ wäre.
Die Formen mit *-tt- weisen Intensivge-
mination auf.
Fick 3 (Germ.)⁴ 51; Tiefenbach, As. Handwb. 219;
Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 96. 201; Lasch-Borch-
ling, Mndd. Handwb. 2, 1, 663. 669; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 2, 560. 566; VMNW s. v. cretten; Verwijs-
Verdam, Mndl. wb. 3, 2064 f. 2087 f.; Franck, Et. wb.
d. ndl. taal² 345; Vries, Ndls. et. wb. 358; Et. wb. Ndl.
Ke-R 127; Fryske wb. 11, 290 f.; Dijkstra, Friesch
Wb. 2, 90; Fort, Saterfries. Wb. 125; ME Dict. s. v.
cracchen v.; OED² s. v. †cratch v.; Vries, Anord. et.
Wb.² 331 f.; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 363. 395; Fritz-
ner, Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 354; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 1, 572; Magnússon, Ísl. Orðsb.
501; Nielsen, Dansk et. ordb. 235; Ordb. o. d. danske
sprog 11, 228 ff. 312 f.; NOB s. v. krasse; Hellquist,
Svensk et. ordb.³ 506f.; Svenska akad. ordb. s. vv.
kratsa, kratta v.¹. — Körting, Lat.-rom. Wb.³ Nr. 5321;
Meyer-Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr. 4764.
Wegen der Bed. liegt die Annahme einer
onomatopoetischen Lautung urgerm. *krat-
nahe.
Eine etymologische Anbindung von alb. gër-
resë f. ‚Schrapmesser‘ bleibt mehr als frag-
lich (vgl. Demiraj, Alb. Et. 177 f.; Orel, Alb.
et. dict. 116).
Fern bleibt lit. grándyti ‚schaben, scheuern,
abkratzen‘; das Verb stellt sich zu urgerm.
*renđe/a- ‚zerreiben, zermalmen‘ (vgl.
Fraenkel, Lit. et. Wb. 167).
Walde-Pokorny 1, 607. 651; Pokorny 405.