lîso
Volume V, Column 1369
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lîso adv., Gl. 2,682,59 (1. Viertel des
12. Jh.s, alem.); 4,244,23 (Mitte des 9. Jh.s,
bair.), Nrh und Nps: sanft, mild, leise, be-
dächtig, allmählich; leniter, molliter, pede-
temptim, sensim
. Im Ahd. wird das Wort
ausschließlich adverbial verwendet, auch im
Mhd. überwiegt noch dieser Gebrauch.
Mhd. lîse, alem. auch mit Nasalinfix linse
adj. leise, geräuschlos, sanft, lîse, lîs adv.
auf leise, sanfte, langsame, anständige Wei-
se
, lîse nemen im Geheimen sprechen,
frühnhd. leise, westobd. auch leinse adj.
lautlos, still, heimlich, verborgen, unbe-
merkt, sanft, behutsam
, nhd. leise adj. nur
schwach hörbar, nur angedeutet, kaum wahr-
nehmbar, nur schwach ausgeprägt, vorsich-
tig
, mdartl. auch zu wenig gesalzen, nhd.
mdartl. begegnen neben standardsprachli-
chem leise noch nasalierte Formen: schweiz.
lins, ält. els. leinß, bad. leins, ält. schwäb.
leinse, auch FamN Leins (vgl. Brechen-
macher 196063: 2, 170).

Ahd. Wb. 5, 1170 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 555; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 730; Schützeichel⁷ 204; Starck-Wells
379; Schützeichel, Glossenwortschatz 6, 117; Berg-
mann-Stricker, Katalog Nr. 660. 849; Seebold,
ChWdW9 532; Graff 2, 251; Lexer 1, 1935 f.; 3,
Nachtr. 300; Frühnhd. Wb. 9, 914 ff.; Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 371 (s. v. lenis). 411 (s. v. mollis); Dt. Wb.
12, 713 ff.; Kluge²¹ 435; Kluge²⁵ s. v. leise; Pfeifer, Et.
Wb.² 789. Schweiz. Id. 3, 1422 (s. v. līs); Martin-
Lienhart, Wb. d. els. Mdaa. 1, 613; Ochs, Bad. Wb. 3,
436 f. (s. v. leise); Fischer, Schwäb. Wb. 4, 1161 f.
(s. v. leis).

Auch in den anderen germ. Sprachen ist das
Adv. primär: mndd. līse adv. sanft, sacht,
behutsam, geringfügig, wenig, kaum
, ēnen
līse beswīken jmdn. heimtückisch betrügen;
andfrk. līsno adv. lau, mild (LeidW), früh-
mndl. lise, lyse adv. leise, langsam, sachte,
unmerklich
(a. 122040), lise adj. leise,
nicht laut
(a. 1290), mndl. lise adv./adj.
dss., nndl. nur noch regional und mit Suffix
-ig abgeleitetes lijzig leise, zart, langsam: <
westgerm. *līsō adv.

Dass das Adv. auch im Engl. existiert ha-
ben muss, zeigt ae. gelīsian sw.v. II gleiten,
schlüpfen
(< westgerm. *-līsōe-).

Die von Heidermanns, Et. Wb. d. germ. Pri-
märadj. 358. 370 vorgeschlagene Verbin-
dung von westgerm. *līsō- mit dem Kompar.
urgerm. *lasizan-, fortgesetzt in afries. les-
sa, lessera, ae. lǣssa weniger, geringer
u. a., ist lautlich zwar möglich, überzeugt
aber kaum in semantischer Hinsicht (s. u.;
vgl. Schaffner 2001: 304309).

Fick 3 (Germ.)⁴ 365; Heidermanns, Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 358. 370 (*leisa-¹); Lasch-Borchling,
Mndd. Handwb. 2, 1, 830; Schiller-Lübben, Mndd.
Wb. 2, 702; ONW s. v. līsno; VMNW s. v. lise³, lise⁴;
Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 4, 669 f.; Franck, Et. wb.
d. ndl. taal² 389 (s. v. lijs); Vries, Ndls. et. wb. 402
(s. v. lijs²); Et. wb. Ndl. Ke-R 233.

Westgerm. *līsō setzt frühurgerm. *lesa-
oder *līsa- sanft, sacht, mild, leise fort, wo-
raus man auf eine Vorform uridg. *(H)so-
oder *líHso- schließen kann. Das Wort wird
traditionell mit urgerm. kompar. *lasizan-,
sup. *las/zista- > ae. lǣssa weniger, ge-
ringer
verbunden, was lautlich und seman-
tisch durchaus möglich zu sein scheint. Nach
Schaffner 2001: 307 f. sind urgerm. *lasi-
zan-, *las/zista- von westgerm. *līsō zu
trennen und zu uridg. *les- einer Spur
nachgehen
zu stellen. Einzige sinnvolle
Verknüpfung sei die mit gr. λοῖσθος äu-
ßerster, hinterster, letzter
. Die ebenda 307
Anm. 225 angeführten Lexeme ahd. -leisa (s.
waganleisa) Spur oder aksl. lěcha Furche,
Beet
sind nun wohl besser zu einer eigenen
Wz. uridg. *h₂les- einfurchen, eingraben
zu stellen, die im Germ. lautgesetzlich mit
der Wz. uridg. *les- zusammengefallen ist
(vgl. S. Ziegler, in Neri-Ziegler 2012: 145).

Ahd. lîso steht die balt. Sippe um lit. líesas,
lett. liss mager lautlich und semantisch
nahe. Gemeinsamer semantischer Ausgangs-
punkt wäre somit eine Bed. klein, gering,
wenig
, die sich zum einen zu wenig an
Masse/Körper
> mager, dünn, zum ande-
ren zu wenig an Druck/Lautstärke > sanft,
leise
entwickelt hat. Die Etym. von lit.
líesas, lett. liss mager ist jedoch nach
Smoczyski, Słow. et. jz. lit. 351 unklar,
weiter spricht er von einem Fehlen von
Anknüpfungsmöglichkeiten
. Daraus ist zu
schließen, dass er die bisweilen (z.B. Po-
korny 662) erwogene Verknüpfung der balt.
Sippe mit urgerm. *las-izan-, *-ista- eben-
falls verwirft. Der Akut in der balt. Sippe
deutet auf eine laryngalhaltige Wz. Anzuset-
zen ist als Vorform der balt. Wörter somit
uridg. *leHso-. Bei einer Verknüfung mit
ahd. lîso kämen dann, für ahd. lîs° uridg.
*Hso- und *líHso- in Frage. Im Balt. war
das -s- bereits wz.haft. Ob für eine Vorstufe
des Balt. angenommen werden muss, dass es
sich um ein urspr. suffixales Element han-
delte, sei es, dass hier ein Suff. uridg. *-so-
oder ein sekundär thematisierter urspr. s-
St. uridg. *leH-e/os-, *leH-s- vorlag, kann
nicht entschieden werden.

Die für die balt. Wörter notwendig anzusetzende
Vorform uridg. *Hso- macht zunächst eine Verbin-
dung der balt. Formen mit gr. λοῖσθος äußerster,
hinterster, letzter
unmöglich, da dort dann (je nach
urspr. Laryngal) urgr. loa/e/oh-ist(h)o- < uridg.
*loHs-ist(h₂)o- hätte entstehen müssen falls man
nicht den Schwund des Laryngals nach der o-haltigen
Wz. nach der de Saussureschen Regel annimmt. Ak-
zeptiert man indes diesen Laryngalschwund, entfallen
alle Schwierigkeiten, die das gr. Wort, die germ. und
die balt Sippe voneinander trennen. Anzusetzen wäre
dann uridg. *Hs-ist(h₂)o- > urgerm. *las-ista-,
urgr. *loh-ist(h)o- > gr. λοῖσθος und *Hs-o- > lit.
líesas etc. Im Balt. müsste der Akut dann aber nach e-
stufigen Formen der Wz. analogisch eingeführt wor-
den sein, da neben der o-stufigen Wz. der Laryngal
auch hier nach der de Saussureschen Regel hätte
schwinden müssen.

Andernfalls bleibt eine Verbindung von urgerm.
*las-izan-, *-ista- mit gr. λοῖσθος einerseits und der
balt. Sippe andererseits aber ebenfalls möglich, wenn
man für das germ. Wort den Zusammenfall der Fort-
setzer zweier Wz., uridg. *leHs- und uridg. *les-
annimmt.

Ist das -s- in dieser Wz. ein urspr. wz.haftes
Element, gibt es keine weiteren Anschlüsse
in anderen idg. Sprachen. Handelt es sich
dabei aber um ein urspr. Suff., liegt den balt.
Formen eine Wz. uridg. *leH- zugrunde.
Weitere Anknüpfungsmöglichkeiten hängen
dann davon ab, wie man das Verhältnis von
lit. láibas mager und slaw. Etyma der Ge-
stalt libi/ěv- (vgl. russ. líbivyj, atschech. li-
bi/ěv mager etc.) zu dieser Sippe beurteilt.
Akzeptiert man die Möglichkeit eines Suff.
(vor)urbaltoslaw. (bzw. uridg.) *-b(h)- (dazu
A. Hyllested, in Lühr-Ziegler 2009: 202
214), kann für die genannte Wortsippe ei-
ne Vorform (vor)urbaltoslaw. *leH-b(h)- er-
schlossen und diese letztlich auf uridg.
*leH- zurückgeführt werden. Hierzu zu
stellen wäre dann auch ae. lēf schwach,
krank, gebrechlich
. Diese Wz. könnte dann
genauer als uridg. *leh₂- aufhören, schwin-
den
(LIV² 409) zu bestimmen sein, die auch
in ahd. bi-linnan aufhören, nachlassen,
ablassen von
(s. d.) fortgesetzt ist. Sollte gr.
λιαρός lau, mild < uridg. *lih₂-ró- zuge-
hörig sein, spräche dies indirekt für den
Ansatz eines urspr. s-St. uridg. *leh₂-e/os-,
*leh₂-s- Aufhören, Schwinden, Schwund,
da s-stämmige Subst. und ro-Adj. im Rah-
men des Caland-Wackernagelschen Suffix-
systems regelmäßig nebeneinander stehen.
Eine thematische Adj.ableitung vom s-St.
uridg. *leh₂-s-o- hätte die Bed. durch Auf-
hören, Schwund gekennzeichnet, aufhörend,
schwindend
gehabt, woraus sich die beleg-
ten Bed. im Germ. und Balt. unschwer ent-
wickelt haben können.

Akzeptiert man die Vorschläge Hyllesteds
nicht, ist für die Sippe um lit. láibas und die
um lit. líesas von zwei lautlich und seman-
tisch ähnlichen, aber grundsätzlich zu tren-
nenden Wurzeln auszugehen.

Walde-Pokorny 2, 389; Pokorny 661 f.; LIV² 409;
Frisk, Gr. et. Wb. 2, 120; Chantraine, Dict. ét. gr. 639;
Beekes, Et. dict. of Gr. 1, 859; Trautmann, Balt.-Slav.
Wb. 154; Berneker, Slav. et. Wb. 1, 716; Trubaëv, t.
slov. slav. jaz. 15, 70 f. 74 f.; Derksen, Et. dict. of
Slav. 277; Et. slov. jaz. staroslov. 419; Bezlaj, Et.
slov. slov. jez. 2, 139; Vasmer, Russ. et. Wb. 2, 38 f.;
ders., t. slov. russ. jaz. 2, 492; Schuster-ewc, Hist.-
et. Wb. d. Sorb. 837 f.; Fraenkel, Lit. et. Wb. 329 f.;
Smoczyski, Słow. et. jz. lit. 351; Mühlenbach-End-
zelin, Lett.-dt. Wb. 2, 505; Karulis, Latv. et. vārd. 1,
527 f. (liess). W. Merlingen, IF 83 (1979), 58; Ch.
Peeters, IF 84 (1979), 206.

S. linnan.

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