lûraAWB f. jō(n)-St., seit dem 10. Jh. in Gl.:
‚Nachwein, Tresterwein; acidum, acinum,
lora, mustacium, vappa, vinacium‘ 〈Var.:
-iu-, -ui-; -rr-〉. Das Wort ist, wie viele Bez.
aus dem Bereich ‚Wein, Weinanbau‘, aus
dem Lat. übernommen. Es handelt sich dabei
aber nicht um ein Relikt der Römerzeit,
sondern um ein Lehnwort der karolingischen
Weinbauepoche (vgl. Müller-Frings 1966—
68: 1, 71). Für ahd. lûra ist lat. lōra f. ‚Nach-
wein, Tresterwein‘, für die Belege mit Dop-
pelkonsonanz die Var. lat. lōrea f. die Entleh-
nungsbasis. Die Formen mit Geminate sind
die älteren, sie kommen insgesamt auch häu-
figer vor. — Mhd. lûre sw./st.f. ‚Nachwein,
Tresterwein‘, frühnhd., ält. nhd. lauer m.
‚dss.‘, nhd. mdartl. schweiz. lūr m. ‚Trester-
wein‘, lüren f. ‚Tresterwein, schlechte Brü-
he, Rückstand beim Sieden von Butter‘,
els. lur(e), lür f. ‚leichter Wein, schlechter
Schnaps oder Kaffee‘, vorarlb. lur(e), löre f.
‚Nachwein‘, bair. laur m. ‚Nachwein‘, tirol.
in laur-wein, pfälz. lauer f./m. ‚Tresterwein‘,
südhess. lauer-wein, ohess. lauer m. ‚Nach-
wein‘, hess.-nassau. lauer m. ‚Kartoffel-
schnaps‘, thür. lauer m./f. ‚Tresterwein,
dünner Kaffee‘, osächs. lauer m. ‚Trester-
wein‘, schles. lauer, lure ‚Nachwein, unreine
Flüssigkeit, dünner Kaffee‘, daneben mhd.
liure, nhd. mdartl. bad. läuer, läuere f.
‚Nachwein, minderwertiges Getränk‘, schwäb.
läure f./m. ‚Nachwein, Trester als Schweine-
futter‘, pfälz., südhess. läuer ‚Tresterwein‘,
lothr. lier m. ‚Holzapfelwein‘, rhein., hess.-
nassau. leier m. ‚Tresterwein‘ als Fortsetzer
von liur(r)a.
Ahd. Wb. 5, 1416 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 573; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 745; Schützeichel⁷ 210; Starck-Wells
389 f. XLIV; Schützeichel, Glossenwortschatz 6,
194 f.; Graff 2, 244; Lexer 1, 1989; Frühnhd. Wb. 9,
396 f.; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 373 (s. v. mustac-
ca). 619 (vinacium); Dt. Wb. 12, 303 (lauer¹); Klu-
ge²¹ 426; Kluge²⁵ s. v. Lauer. — Schatz 1927: § 262. —
Schweiz. Id. 3, 1378 f.; Martin-Lienhart, Wb. d. els.
Mdaa. 1, 608 f.; Ochs, Bad. Wb. 3, 391; Fischer,
Schwäb. Wb. 4, 1047; Jutz, Vorarlberg. Wb. 2, 296 f.
(löre²). 315; Schmeller, Bayer. Wb.² 1, 1499; Schöpf,
Tirol. Id. 373; Schatz, Wb. d. tirol. Mdaa. 1, 378;
Follmann, Wb. d. dt.-lothr. Mdaa. 339; Müller, Rhein.
Wb. 5, 359; Christmann, Pfälz. Wb. 4, 812 f. (Lauer³);
Kehrein, Volksspr. u. Wb. von Nassau 261 (rhein.
leier); Maurer-Mulch, Südhess. Wb. 4, 176; Crecelius,
Oberhess. Wb. 540 (Lauer⁴); Berthold, Hessen-
nassau. Volkswb. 2, 52. 105 (Leier¹); Spangenberg,
Thür. Wb. 4, 109 (Lauer²); Frings-Große, Wb. d.
obersächs. Mdaa. 3, 37 (Lauer¹); Mitzka, Schles. Wb.
2, 796. 828 (Lure²). — Alanne 1950: 60 f. 145; Müller-
Frings 1966—68: 1, 68. 70 f. 73. 79; 2, 310—312.
Das lat. Lehnwort begegnet in den anderen
germ. Sprachen nur noch in as. lūr(i)a sw.f.
‚Tresterwein; acinum, lora‘ in Gl. 1,364,26
= WaD 75, 8 (11. Jh.); vielleicht 4,204,15
(1. Drittel des 11. Jh.s). Die Belege könnten
auch ahd. sein. Eine Entscheidung aufgrund
des Lautstandes ist nicht möglich.
Tiefenbach, As. Handwb. 252; Wadstein, Kl. as.
Spr.denkm. 205.
In den rom. Sprachen finden sich nur weni-
ge Fortsetzer von lat. lōra, lōrea f.: italien.
loia ‚Schmutzschicht auf der Haut, Hefe‘,
ladin. lora.
Die weitere Etymologie von lat. lōra ist
schwierig. Walde-Hofmann 1, 821 verbinden
das Wort mit lat. lavō ‚wasche‘ (nach der
Thurneysen-Havetschen Regel < *lou̯ō), das
entweder vom Abstraktum uridg. *lou̯h₃-eh₂
abgeleitet ist oder ein urspr. Iterativum uridg.
*lou̯h₃-éi̯e/o- zur Wz. *leu̯h₃- ‚waschen‘ fort-
setzt (so H. Rix, in GS Schindler 1999: 519);
vgl. auch lat. caveō ‚nehme mich in Acht,
sehe mich vor‘ < uridg. *kou̯-éi̯e/o- (vgl. B.
Vine, HS 119 [2006], 222. 244). Als Vor-
form von lōra nehmen Walde-Hofmann, Lat.
et. Wb. 1, 821 *lou̯ereh₂- an, das nach de
Vaan, Et. dict. of Lat. 349 aber zu lat. *lūra,
nicht lōra geführt hätte. Doch gibt es dia-
lektal durchaus Fälle, in denen als Ergeb-
nis der Monophthongierung von *-ou̯- nicht
-ū-, sondern -ō- vorkommt (sabinisch, umb-
risch, auch im latinischen Umland); vgl. rō-
bīgō neben rūbīgō ‚Getreiderost‘ (vgl. Mei-
ser [1998] 2010: § 48, 6). Für das Lat. ist
also von einem proterodynamisch flektieren-
den Kollektiv zu dem s-Stamm *léu̯h₃-s-
auszugehen: *léu̯h₃-s-h₂; vgl. lat. aurōra <
*h₂eu̯s-os-eh₂ (freundlicher Hinweis von L.
Sturm).
Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 1, 821; Ernout-Meil-
let, Dict. ét. lat.⁴ 366; de Vaan, Et. dict. of Lat. 349;
Thes. ling. lat. 7, 2, 1675; Körting, Lat.-rom. Wb.³ Nr.
5693; Meyer-Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr. 5125. — Meiser
[1998] 2010: § 61, 7; B. Vine, HS 119 (2006), 211—
249 (ausführlich zur Thurneysen-Havetschen Regel
im Lat. und It.).