ledgôn*, -en*AWB sw.v. II oder I, Gl.
3,418,64. 65 (beide Straßburg, Hortus, um
1175, alem.): ‚frei machen, freistellen; ex-
pedire‘ 〈Var.: lidigen, part.prät. gelidiget〉.
Der Ansatz eines sw. Verbs I (z.B. Raven
1963—67: 1, 110; Bailey 1997: 1, 350; Rie-
cke 1996: 513) ist weniger wahrscheinlich,
da Verben mit Suffix -îg- fast immer der 2.
sw. Kl. angehören (s. u. fries. lethigia und
vgl. Wilmanns [1906—30] 1967: 2, § 85, 1).
Die beiden Belege sind spät und für eine
Entscheidung nicht evident. Die Ableitungs-
basis des Verbs ist erst in mhd. ledec, ledic
adj. ‚ledig, frei, unbehindert, unverheiratet‘
bezeugt. — Mhd. ledegen, ledigen, lidigen
‚erlösen, befreien‘, frühnhd. ledigen ‚frei
machen, erlösen, heilen, freisprechen, erlö-
sen‘, ält. nhd. ledigen ‚losmachen, befreien‘;
vgl. nhd. entledigen ‚sich (von etw.) freima-
chen‘, erledigen ‚ausführen, zu Ende füh-
ren‘.
Ahd. Wb. 5, 714; Splett, Ahd. Wb. 1, 520;
Schützeichel⁷ 207; Starck-Wells 364; Schützeichel,
Glossenwortschatz 6, 9; Bergmann-Stricker, Katalog
Nr. 855; Graff 2, 180; Lexer 1, 1852f. (ledec). 1853 f.;
3, Nachtr. 294; Frühnhd. Wb. 9, 593 ff.; Dt. Wb. 12,
504 f.; Kluge²¹ 430 (s. v. ledig); Kluge²⁵ s. vv. er-
ledigen, ledig; Pfeifer, Et. Wb.² 778 (s. v. ledig).
Das Verb hat nur in wenigen germ. Sprachen
Entsprechungen: mndd. leddigen, lēdegen,
-igen sw.v. ‚frei machen, befreien, leer ma-
chen, auslösen, freilassen‘; frühmndl. le-
dighen sw.v. ‚freikaufen, einlösen‘ (a. 1248—
1271), mndl. ledigen, ledegen sw.v. ‚ein-
lösen, befreien, räumen‘, nndl. legen ‚leer
machen, leeren‘; afries. lethigia, lethogia
sw.v. II ‚befreien, erlösen, auslösen‘, nwest-
fries. leegje ‚leeren, entleeren‘: < westgerm.
*lidgōi̯e/a- < urgerm. *liđōi̯e/a- ‚ledig
machen‘.
Das sw. Verb ist eine denominale Ableitung
zum Adj. urgerm. *liþa- ‚ledig, frei‘, das
außer im Westgerm. — mndd. leddich, lēdich,
lidich ‚frei, ungebunden, ledig‘; frühmndl.,
mndl. ledich ‚frei, ungehindert, untätig, un-
besetzt‘ (a. 1240), nndl. leeg ‚nichts enthal-
tend‘ (< ledig mit Synkope von intervok.
-d-); afries. lethich, ldich, lēch ‚frei, be-
sitzlos, leer, unbesetzt‘, nwestfries. leech
‚frei, leer‘, saterfries. ledich ‚ledig, müßig‘ —
auch in aisl. liðugr ‚ledig, los, unbehindert,
wohlwollend‘, nisl., fär. liðugur, adän. li-
thug, ndän. ledig ‚biegsam, geschmeidig,
frei, los‘, nnorw. ledig, nnorw. dial. lidug,
ledug, aschwed. liþugher, nschwed. ledig
‚ledig, frei‘ < urnord. *liþua- ‚beweglich,
biegsam‘ fortgesetzt ist. Das Adj. urgerm.
*liþa-/* liþua- ‚mit Gliedern versehen‘ ist
eine exozentrische denom. Ableitung zum
u-St. urgerm. *liþu- ‚Glied‘ (s. lid). Aus ‚mit
Gliedern versehen‘ haben sich die Bedeutun-
gen ‚gelenkig‘ ⇒ ‚(frei) beweglich‘ ⇒ ‚frei‘
und ‚unbehindert‘ ⇒ ‚ohne Besitz‘ entwi-
ckelt. Die einzelnen Bed.varianten zeigen
sich noch deutlich im Nordgerm.
Urgerm. *liþu- selbst geht auf ein Ver-
balabstraktum uridg. *líH-tu- ‚Krümmung‘
zurück (s. lid).
Eine andere Erklärung, die zuerst von L.
Bloomfield, FS Collitz 1930: 91—94 vor-
geschlagen und von E. Seebold (Kluge²⁵ s. v.
ledig) und Heidermanns (Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 384 f.) aufgenommen wurde, ist
bedenklich: Da ahd. lid auch ‚Diener‘ (<
‚Glied des Haushalts/der Gemeinschaft‘) be-
deuten kann, sei das Adj. ein alter Rechts-
terminus ‚über Diener, Gefolgsleute verfü-
gend‘, daher ‚frei‘. Erstens werden Adj. auf
-ag, -g, -ug fast nie von persönlichen Subst.
abgeleitet (vgl. Wilmanns [1906—30] 1967:
2, § 343, 3); zweitens hängt Freisein nicht
vom Besitz an Dienern ab.
Wenn afrz. lige, liege, spätlat. ligius ‚Lehensherr, Le-
hensmann‘ tatsächlich aus urgerm. *liþug- entlehnt ist
(vgl. L. Bloomfield, a. a. O. 91 f.), ist das Wort wohl
als ‚ein freier Mann (d.h. kein Leibeigener), der des-
halb berechtigt ist, in ein Lehensverhältnis einzutre-
ten‘ zu deuten.
Frühere Versuche, das germ. Wort als ein Verbaladj.
zu germ. *leiþan ‚(weg-)gehen‘, ahd. lîdan (s. d.) zu
deuten wie z.B. Lexer, a. a. O., sind abzulehnen, da
solche Adj. den Vokal des Präs. zeigen (vgl. Wil-
manns, a. a. O. § 347, 2); dazu wäre eine Bed.entwi-
cklung von ‚weggehend‘ zu ‚frei‘ (< ‚freien Gang ha-
bend‘?; vgl. Weigand [1909—10] 1968: 2, 37) fraglich.
Fick 3 (Germ.)⁴ 366; Heidermanns, Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 384 f.; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb.
2, 1, 759 ff.; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 644 f.
646 f.; VMNW s. vv. ledich, ledighen; Verwijs-Ver-
dam, Mndl. wb. 4, 237 ff. 294 f.; Franck, Et. wb. d.
ndl. taal² 373 f.; Suppl. 98; Vries, Ndls. et. wb. 387 f.;
Et. wb. Ndl. Ke-R 193 f.; Boutkan, OFris. et. dict.
236 f.; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 299; Richtho-
fen, Afries. Wb. 896; Fryske wb. 12, 180. 186; Dijk-
stra, Friesch Wb. 2, 113; Fort, Saterfries. Wb. 129;
Faltings, Et. Wb. d. fries. Adj. 371 f.; Vries, Anord.
et. Wb.² 355; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 77; Fritzner,
Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 508; Holthausen, Vgl.
Wb. d. Awestnord. 180; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb.
630; Magnússon, Ísl. Orðsb. 560 f.; Nielsen, Dansk
et. ordb. 257f.; Ordb. o. d. danske sprog 12, 524 ff.;
Bjorvand, Våre arveord² 636 f.; Torp, Nynorsk et.
ordb. 378; NOB s. vv. ledig, ledug; Hellquist, Svensk
et. ordb.³ 565; Svenska akad. ordb. s. v. ledig adj.². —
Krahe-Meid 1969: 3, § 183, 1. — Walde-Pokorny 1,
158 f.; Pokorny 309.
S. lid.