mor(a)ha
Band VI, Spalte 545
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mor(a)ha f. ōn-St., morah m. a- oder i-
St., in Gl. seit dem 9. Jh.: ‚Möhre, Speise-Mor-
chel, Echter Schierling; baucia, cariota, dau-
cus, ocimum [Fehlglossierung], pastinaca, pas-
tinaca sativa, pastinaca silvatica, scarindra,
tuber‘ (Daucus carota L.) Var.: -ou-; -ah-,
-eh-, -oh-, -ich-, -h-; -ch-; -e. – Mhd. morhe,
morche, more sw.f., morch st.f., umgelauteter
pl. mörhe ‚Möhre, Mohrrübe, Morchel‘, früh-
nhd. möre f./m. ‚Möhre, Mohrrübe, möhren-
ähnliches Wildgewächs‘, nhd. Möhre f. ‚Pflan-
ze mit mehrfach gefiederten Blättern und
orangefarbener, spindelförmiger, kräftiger Wur-
zel, die als Gemüse verwendet wird‘, nhd. dial.
hat sich die Bed. ‚Morchel‘ erhalten: z. B. in
schweiz. morach m./f., bair. môrach f., schwäb.
morche (auch ‚Möhre‘), tirol. morche, marche
f., morch m. (auch ‚Möhre‘). Im Komp. nhd.
Mohrrübe f. ‚Möhre‘ ist die umlautlose Form,
wie sie auch im Ahd. begegnet, bewahrt.

Ahd. Wb. 6, 797 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 633; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 795; Schützeichel⁷ 227; Starck-Wells
421; Schützeichel, Glossenwortschatz 6, 426 ff.; See-
bold, ChWdW9 594. 1094; Graff 2, 845; Lexer 1, 2202;
Frühnhd. Wb. 9, 2846 f.; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 70
(baucia). 102 (carota). 166 (daucus). 415 f. (pastinaca).
517 (scarindra). 600 (tuber); Dt. Wb. 12, 2473 f.; Klu-
ge²¹ 484 f.; Kluge²⁵ s. v. Möhre; Pfeifer, Et. Wb.² 884. –
Marzell [1943–79] 2000: 2, 52 ff. – Schweiz. Id. 4, 379 f.;
Stalder, Versuch eines schweiz. Id. 2, 214; Fischer,
Schwäb. Wb. 4, 1748 f.; Schmeller, Bayer. Wb.² 1, 1641;
Schatz, Wb. d. tirol. Mdaa. 2, 431 f.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen
in der Bed. ‚Rübe, Mohrrübe‘: as. morha f.
‚Mohrrübe, Möhre‘, mndd. mȫre f. ‚Möhre,
Mohrrübe, Wurzel als Gemüse verwendet, Dau-
cus carota, Pastinaca sativa‘; mndl. more f.
‚Möhre, Karotte‘; ae. more, moru f. ‚Möhre,
essbare Wurzel, Pastinak‘, me. mōr(e) ‚Pflan-
zenwurzel‘, ne. (obsolet) more ‚Wurzel‘: < ur-
germ. *murχōn- f. ‚Möhre, essbare Wurzel‘.
Möglicherweise gehört aisl. mura ‚Silberkraut,
Potentilla anserina‘, nisl., fär. mura ‚dss.‘,
nnorw. (mit sekundärer Dehnung) (nn.) mūra
‚dss.‘, (bm.) (gåse-)mure ‚dss.‘ (> nschwed.
mura ‚dss.‘), shetl. murrek ‚Silberkraut, bes.
dessen essbare Wurzel, essbare Wurzel allge-
mein‘ dazu. In diesem Fall wäre eine Über-
tragung nach der Farbe der Blätter oder über
die Zubereitung der Wurzel als Speise erfolgt.

Nschwed. morot ‚Möhre, Mohrrübe, Karotte‘ stammt aus
mndd. mor-wortel.

Als Bez. eines Pilzes, ‚Morchel‘ etc., hat das
Wort keine Entsprechungen in den anderen
germ. Sprachen. Es handelt sich so um eine dt.
Sonderentwicklung: Ausgehend vom Dimin.
ahd. *mor(a)hila (s.d.) ‚kleine Möhre, Mor-
chel‘, in dem einerseits das mit dem Suff. ur-
germ. *-ilō- (s. -il) gebildete echte Dimin. von
ahd. mor(a)ha und andererseits aus frührom.
*moricula (< lat. *maurīcula) ‚Morchel‘ (wörtl.
‚kleine Schwarze‘ nach der Farbe des Pilzes)
zusammengefallen sein dürften, wurde die Bed.
‚Morchel‘ dann auch auf die vermeintliche
Ableitungsbasis der Pilzbez., eben ahd. mo-
r(a)ha (rück-)übertragen.

Fick 3 (Germ.)⁴ 570; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 378;
Tiefenbach, As. Handwb. 279; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. 2, 1018 (mȫre²); Schiller-Lübben, Mndd. Wb.
3, 118; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 4, 1933; Franck, Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 226; Bosworth-Toller, AS Dict. 697;
Suppl. 642; Suppl. 2, 642; ME Dict. s. v. mōr(e) n.¹;
Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2, 1003 (s. v.
morel); eOED s. v. more n.¹; Vries, Anord. et. Wb.² 396;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 683; Fritzner, Ordb. o. d. g. nor-
ske sprog 2, 754; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord.
201; Magnússon, Ísl. Orðsb. 642; Falk-Torp, Norw.-dän.
et. Wb. 1, 741; Torp, Nynorsk et. ordb. 439; NOB s. v.
mure; Jakobsen, Et. dict. of the Norn lang. 2, 581; Hell-
quist, Svensk et. ordb.³ 1, 668; Svenska akad. ordb. s. v.
mura.

Urgerm. *murχōn- f. ōn-St. weist auf vorur-
germ. *mk-ān- oder *mk-ā- < uridg. *mk-
eh₂-. Eine direkte Entsprechung der Basis
*mk- in gleicher Bedeutung, aber mit anderer
Stammbildung, findet sich nur im Slaw.: aruss.
morkovь f. i-St. ‚Möhre, Mohrrübe‘, morkva
f. ā-St. ‚dss.‘, nruss. morkóv’, dial. mórkva,
morkvá ‚dss.‘, serb., kroat. mȑkva f. ā-St. ‚dss.‘,
slowen. mŕkәv f. i-St. ‚dss.‘, bulg. mórkov f.,
atschech. mrkev f. i-St. ‚dss.‘ < gemeinslaw.
*mъrky, gen.sg. *mъrkъve f. ū-St. ‚dss.‘. Poln.
marchew, osorb. morchej, ndsorb. marchej
‚Möhre, Mohrrübe‘ weisen wegen -ch- auf eine
Entlehnung aus dem Germ., wahrscheinlich
dem Dt., oder sind zumindest vom Dt. be-
einflusst.
Umstritten ist, ob es sich auch bei den k-
haltigen slaw. Formen um ein mit dem Germ.
gemeinsames Erbwort, Entlehnung zwischen
diesen beiden Sprachfamilien oder ein ge-
meinsames Lehnwort aus einer dritten Quelle
handelt. Der Vorschlag, das germ. Wort beruhe
auf Entlehnung aus dem Slaw. und zwar vor der
2. Lautverschiebung, ist nicht stichhaltig, da
dann die ae. und as. Form als Entlehnung aus
dem Ahd. zu werten wären. Es bleibt daher die
häufigere Annahme einer umgekehrten Entleh-
nungsrichtung, aber einer Entlehnung noch vor
der 1. Lautverschiebung, mindestens ebenso
möglich, wofür auch die übliche Substitution
von germ. *-ōn durch einen slaw. ū-St. spricht.
Daneben findet sich aruss. (16. Jh.) burkanъ,
nruss. dial. borkan, barkan, burkan m. ‚Möhre,
Mohrrübe‘, das in einem Lehnverhältnis un-
klarer Richtung mit lett. burkāns [bukãns] m.
‚Mohrrübe‘, lit. burkantaiPastinaca sati-
va‘, dial. burkuntai ‚dss.‘ steht. Finn. porkkana
‚Möhre, Karotte‘, estn. porgand ‚dss.‘ sind aus
dem Slaw. oder Balt. übernommen. Das an-
lautende b- ist nicht geklärt, wird aber in der
Alternation mit m- als Indiz für Entlehnung aus
einer voruridg. Sprache Europas betrachtet.
Außerhalb des Germ., Balt. und Slaw. ist nur gr.
βράκανα pl.n. ‚wildes Gemüse‘ (Hesych. Lex.
β 41 = Pherecr. fr. 13, 1) vergleichbar, das aber
mit einem anderen Suffix gebildet ist. Dessen
anlautendes β- ist doppeldeutig und kann auch
die reguläre Entwicklung vorurgr. *#mC° >
*mraC° > ion., att. βράC° (vgl. *m- > βρο-
τός, mit äol. Vokalismus) darstellen. Zum Suf-
fix vgl. gr. λάχανα pl.n. ‚Gartengemüse‘, ἔρχ-
νος ‚Spross‘ und τέρχνος ‚Spross, Zweig‘. Da-
neben findet sich gr. βάκανον (in einem Pa-
pyrus von 108 n. Chr. und bei spätantiken Me-
dizinern) ‚Kohl, Kohlsamen‘, dessen Anlauts-
variation βρ ~ β ebenfalls auf ein Lehnwort
deuten könnte.

Einen idg. Anschluss bieten lautlich allenfalls die Wör-
ter aus dem Bedeutungsbereich ‚welken, faulen, nass
sein‘, die auf eine Basis *merk- weisen: lat. marceō ‚bin
welk, bin schlaff‘, lit. mir͂kti ‚schwach, nass werden‘,
mer͂kti ‚einweichen‘, mhd. meren ‚(Brot) eintunken‘,
gall.-lat. mercasius ‚Sumpf‘, ukrain. morokvá ‚Morast‘
(vielleicht aus gemeinslaw. *morky umgebildet); vgl.
noch mit b- kymr. brag-wellt ‚Sumpfgras‘, gall. bracis
‚Getreideart zur Malzbereitung‘, mir. braich (neben
mraich) ‚Malz‘, kymr., korn. brag ‚dss.‘. Da Daucus ca-
rota nicht in Sumpfgebieten wächst, käme als Benen-
nungsmotiv das Welken der Blätter oder Wurzel in Fra-
ge. Sachliche Hinweise darauf fehlen indes.
Gegen ein Erbwort uridg. *m spricht aber die geringe
geographische Verbreitung der möglichen Kontinuanten
und die unklare Wortbildung. Ein konkreter Anschluss
an außeridg. Sprachen Eurasiens mit ähnlicher Wur-
zelstruktur im Feld der Pflanzenbezeichnungen bleibt
wegen zu stark abweichender Semantik und unklarer
Quellsprache sowie der Wanderwege spekulativ.
Die natürliche Verbreitung der (wilden) Möhre liegt
hauptsächlich im südlichen Europa, vom Mittelmeer-
raum nach Osten (Iran, Afghanistan), archäologisch ist
die Pflanze aber bereits in neolithischer Zeit im Schwei-
zer Raum nachweisbar. Plinius berichtet, dass die Römer
Möhren aus Germanien bezogen haben, eine kultivierte
Form war demnach bereits früh den Germanen bekannt.
Da die moderne kultivierte Pflanze erst in mittelalterli-
cher Zeit über Kleinasien nach Europa gelangte, be-
zeichnen die urslaw. und urgerm. Form noch die Wild-
pflanze, und es sind dementsprechend einzelsprachliche
Übertragungen auf andere Pflanzen wie im Nordgerm.
nichts Ungewöhnliches.
Ai. mārkava- m. ‚Eclipta prostrata‘ ist kaum zugehö-
rig, da es sich bei dieser Pflanze um einen Flachwurz-
ler handelt, dessen Wurzel keine besondere Verwen-
dung findet.

Walde-Pokorny 2, 313; Pokorny 739 f. 750; Mayrho-
fer, EWAia 3, 401; Frisk, Gr. et. Wb. 1, 263; Chantraine,
Dict. ét. gr.² 183 f. (s. vv. βράκανα, βρακεῖν); Beekes, Et.
dict. of Gr. 1, 235; de Vaan, Et. dict. of Lat. 364; Tru-
bačëv, Ėt. slov. slav. jaz. 20, 247 ff.; Derksen, Et. dict. of
Slav. 325. 335; Snoj, Slov. et. slov.² 421; Vasmer, Russ.
et. Wb. 1, 108; 2, 158 f.; ders., Ėt. slov. russ. jaz. 1, 194;
2, 655 f.; Schuster-Šewc, Hist.-et. Wb. d. Sorb. 950;
Smoczyński, Słow. et. jęz. lit. 82; Mühlenbach-Endzelin,
Lett.-dt. Wb. 1, 353; 5, 254; Karulis, Latv. et. vārd. 1, 155.
– Bielfeldt 1933: 199; Kiparsky 1934: 75 ff.; Bertsch-
Bertsch 1949: 180 ff.; Žuravlev-Šanskij 1963 ff.: 10, 312;
Georgiev 1971 ff.: 4, 244 f.; Skok 1971–74 ff.: 2, 468 f.;
Mallory 1997: 433 f. 620; Anikin 2007 ff.: 5, 168; Orel
2011: 2, 291; Dolgopol’skij 2013: 2, 474 f.; Pronk-Tiet-
hoff 2013: 212; Rejzek 2015: 434.

S. mor(a)hila.

UG/HB

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