nîgan
Band VI, Spalte 952
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nîgan st.v. I (prät. neig, nigum, part.
prät. ginigan), seit Anfang des 9. Jh.s in Gl.,
MF, MH und O: ‚sich neigen, sich verneigen,
sich bücken; adorare, conquiniscere, incurva-
re, obstipare, supplicare‘, part.prät. ‚gebeugt,
gekrümmt, demütig; decrepitus, inclinis, pro-
nusVar.: -ie-, -io-, -i-; -k-, -ch-, metathier-
tes -hc-. – Mhd. nîgen st.v. ‚sich neigen, sin-
ken, sich beugen, sich verneigen vor‘, jmdm.
an den vuoz nîgen ‚sich tief verneigen‘, nhd.
neigen sw.v. ‚schräg halten, beugen, biegen,
schräg abfallen, leicht abschüssig sein, zu Ende
gehen‘ ist Kausativum zum st.v. I, das bis ins
15. Jh. belegt ist.

Ahd. Wb. 6, 1256 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 668; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 825 f.; Schützeichel⁷ 237; Starck-Wells 440;
Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 96; Seebold, ChWdW9
623; Graff 4, 1127; Lexer 2, 82; Diefenbach, Gl. lat.-germ.
143 (conquiniscere). 390 (obstipare). 465 (pronus); Götz,
Lat.-ahd.-nhd. Wb. 17 (adorare); Dt. Wb. 13, 568 ff.;
Kluge²¹ 506 f.; Kluge²⁵ s. v. neigen; Pfeifer, Et. Wb.² 917.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
as. hnīgan st.v. I ‚neigen, sich verneigen, hin-
wenden‘, mndd. nīgen st.v. ‚sich neigen, sich
verneigen, grüßen‘; frühmndl. nighen st.v. ‚sich
verbeugen, neigen, sich bücken‘, mndl. nigen
st.v. ‚dss.‘, nndl. nijgen st.v. ‚dss.‘; afries. hnīga
st.v. ‚sich neigen‘; ae. hnīgan st.v. ‚sich neigen,
sich bücken, fallen, sinken‘; aisl., nisl. hnīga
st.v. ‚sich neigen, sinken, fallen‘, fär. nīga st.
v. ‚dss.‘, ält. dän. nige ‚dss.‘, nnorw. niga st.v.
‚sich neigen, sich beugen‘, aschwed. nigha
‚dss.‘, nschwed. niga ‚dss.‘; got. hneiwan st.v.
‚sich neigen‘: < urgerm. *χneǥ-e/a- ‚sich nei-
gen‘. Das davon abgeleitete Verbaladj. urgerm.
*χneǥ-a- ist außerdem in got. hnaiws ‚niedrig‘
und ae. hnāh ‚gebeugt, niedrig, demütig, ge-
ring‘ (mit Verlust des Stimmtons im Wortaus-
laut; vgl. Brunner 1965: § 224) fortgesetzt. Wäh-
rend im Got. das aus *ǥ nach *i entstandene w
im gesamten Paradigma verallgemeinert wurde,
ist das im Prät.Pl. vor *u entlabialisierte *ǥ als
g sowohl im Nord- als auch im Westgerm.
durchgängig bezeugt (vgl. E. Seebold, ZVSp 81
[1967], 121 f.). Ausgehend von dem st. Verb
aisl. hnīga ist im Aisl. ein sw. na-Verb hnigna
‚altern‘ gebildet worden; zur semantischen Ent-
wicklung von ‚sich neigen, beugen‘ zu ‚altern‘
vgl. ne. decline ‚schlecht werden, abbauen‘ ne-
ben ‚beugen‘.

Fick 3 (Germ.)⁴ 98; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 233;
Seebold, Germ. st. Verben 266; Heidermanns, Et. Wb. d.
germ. Primäradj. 298; Tiefenbach, As. Handwb. 172;
Sehrt, Wb. z. Hel.² 264; Berr, Et. Gl. to Hel. 198; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 1103; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 3, 187; VMNW s. v. nighen; Verwijs-Verdam,
Mndl. wb. 4, 2441 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 459;
Suppl. 116; Vries, Ndls. et. wb. 472; Et. wb. Ndl. Ke-R
424; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 225; Richthofen,
Afries. Wb. 320; Holthausen, Ae. et. Wb. 166; Bosworth-
Toller, AS Dict. 546. 547; Suppl. 555; Vries, Anord. et.
Wb.² 243; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 264; Holthausen, Vgl.
Wb. d. Awestnord. 121; Magnússon, Ísl. Orðsb. 347;
Torp, Nynorsk et. ordb. 457; Hellquist, Svensk et. ordb
1, 697; Svenska akad. ordb. s. v. niga; Feist, Vgl. Wb. d.
got. Spr. 265; Lehmann, Gothic Et. Dict. H-86.

Urgerm. *χneǥ- ist Fortsetzer der Wz. uridg.
*knegh- ‚neigen, sich neigen‘, die als ererbte
Fientivbildung noch in lat. cōnīvēre ‚blinzeln,
die Augen schließen‘ (< uridg. *on-knegh-
eh₁-; zur Entwicklung -Vnkn- > -n- vgl. Leu-
mann [1926–28] 1977: § 222) bezeugt ist. Das
Lat. bewahrt die Wz. verbal außerdem in dem
sekundären t-Präs. nictāre ‚zwinkern, blinzeln‘
(zu diesem Präsenstyp vgl. auch lat. plectō
‚flechte‘; s. nechala). Die Verben setzen eine
Bedeutungsentwicklung ‚neigen‘ > ‚herabglei-
ten‘ > ‚die Augenlider gleiten herab‘ voraus
(zum Nebeneinander von ‚gleiten‘ und ‚neigen‘
vgl. lat. dēlābor ‚gleite herab‘ neben ‚neige
mich‘). Möglicherweise liegt die Wz. auch in
umbr. conegos part.perf. nom.sg.m. vor (vgl.
Heidermanns 1999: 241). Für einen sicheren
Anschluss des umbr. Part. ist jedoch eine ge-
naue Bedeutungsbestimmung nötig, die das sa-
bellische Sprachmaterial bislang nicht zulässt.

Fraglich ist, ob lat. nītor ‚sich stemmen, stützen‘ auch
hierher gehört: Abgesehen von der im Vergleich zu den
anderen lat. Belegen stark abweichenden Bed. müsste
eine Vorform *knegh-et- mit gh > /V_V angesetzt wer-
den (so zuletzt de Vaan, Et. dict. of Lat. 410). Während
aber das bindevokallose t-Präs. im Lat. gut bezeugt ist
(s. o.), bliebe eine Stammbildung *-et- unerklärt.

Walde-Pokorny 1, 476; Pokorny 608; LIV² 366; Unter-
mann, Wb. d. Osk.-Umbr. 417; Walde-Hofmann, Lat. et.
Wb. 1, 261; 2, 171; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 137 f.
442; de Vaan, Et. dict. of Lat. 130. 410; Thes. ling. lat. 4,
320 f.

S. neigen.

LS


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