niuwan
Band VI, Spalte 995
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niuwan st.v. II (prät. nou, *nûwun, part.
prät. ginû[w]an), Gl. im Clm. 6300 (Ende des
8. oder Beginn des 9. Jh.s, bair.; vgl. Glaser
1996: 129 f.) und weitere Gl., in Nps und Npw:
‚schlagen, peitschen, zerschlagen, zerstoßen,
niederdrücken; atterrere [= atterere], conibere
[= conivere], premere, quassare, retundere,
tundere‘, ebano niuwan ‚gleichmäßig zer-
stampfen; anatundere‘ (vgl. Reiche 1976: 113)
Var.: hn-; nuw-, niu-, nivv-. Die ahd. und
mhd. Belege rechtfertigen den Ansatz eines st.
v. II und nicht, wie mitunter angenommen (z. B.
Reiche 1976: 349), eines red. Verbs *nû(w)an.
– Mhd. niuwen, nûwen st.v. (prät. nou, nuwen,
part.prät. genouwen), später auch sw. Formen
(part.prät. geneut) ‚stampfen, zerstoßen, zer-
drücken, (auf der Stampfmühle) enthülsen‘,
nhd. mdartl. bair. neuen (prät. geneut, älter ge-
nauen) ‚stampfen‘, kärnt. näun, noin ‚stamp-
fen‘, tirol. nujen, nojen ‚stampfen‘, steir. neuen
sw.v. ‚durch Stampfen enthülsen‘, thür. neuen
sw.v. ‚im Mörser stampfen‘.

Ahd. Wb. 6, 1295 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 673; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 828; Schützeichel⁷ 239; Starck-Wells 442;
Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 112; Bergmann-Stri-
cker, Katalog Nr. 523; Seebold, ChWdW8 224; ders.,
ChWdW9 626 f.; Graff 4, 1125; Lexer 2, 95 f.; 3, Nachtr.
332; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 546 (quassare); Dt. Wb.
13, 659 (neuen²). – Schade 1882: 1, 654 f.; Braune-Reif-
fenstein 2004: § 333 Anm. 5. – Schmeller, Bayer. Wb.² 1,
1711; Lexer, Kärnt. Wb. 196; Schöpf, Tirol. Id. 476;
Schatz, Wb. d. tirol. Mdaa. 2, 450; Unger-Khull, Steir.
Wortschatz 476; Spangenberg, Thür. Wb. 4, 861.

Dem ahd. st. Verb entsprechen aisl. hnøggva
st.v. ‚schlagen, stoßen‘, nisl. hnöggva ‚dss.‘,
fär. nøgga ‚abschlagen, stoßen‘, nnorw. nøgga
‚schlagen, abstoßen, abschaben‘, nschwed.
nägga ‚dss.‘: < urgerm. *χne-e/a-. Von dem
st. Verb sind im Nordgerm. außerdem Ver-
balabstrakta abgeleitet: aisl. hnøggr m. ‚Stoß,
Hieb‘, nisl. hnöggur m. ‚dss.‘, nnorw. nogg
‚Schlag‘, norn. nugg ‚Schlag, Stoß‘. Bereits ur-
germ. Alters sind wegen der Verbreitung und
des Stammablauts das Adj. urgerm. *χnaa-,
das in den meisten west- und nordgerm. Spra-
chen fortgesetzt ist: mhd. nouwe ‚eng, genau,
sorgfältig‘; mndd. nouwe ‚genau, eng, schmal,
knapp‘ (dazu ein denominales Verb nouwen
sw.v. ‚beengen, bedrücken, bedrängen‘); mndl.
nauwe ‚eng, knapp, nicht breit, bedrückend,
streng, gefährlich‘ mit dem sekundären sw.
Verb nauwen ‚eng machen, einengen, bedrän-
gen‘, nndl. nauw ‚genau, scharf, knapp, be-
klemmend, beängstigend‘; afries. hnau adv.
‚kaum‘, nwestfries. nau ‚eng‘, saterfries. nau
‚zuverlässig, genau‘, nnordfries. nau ‚karg‘;
ae. hnēaw ‚geizig, karg‘; aisl. hnøggr ‚geizig‘
(mit Öffnung des lautgesetzlich zu erwarten-
den *ǫ zu ø [vgl. Noreen [1904] 1978: § 110,
2]), nisl. hnöggur ‚knapp‘, fär. nøggur ‚dürf-
tig, knapp‘, nnorw. nøgg ‚sparsam, knapp‘‚
aschwed., nschwed. nägg ‚knapp, kurz, ängst-
lich, sparsam‘. Die Bed.entwicklung von einem
Verbaladj. ‚abgeschlagen, abgestoßen‘ zu ‚ge-
nau, knapp, kurz‘ hat eine Parallele in dem
Nebeneinander des Adj. ne. poky ‚eng, knapp,
schäbig‘ und des aus dem Mndl. entlehnten
Verbs ne. poke ‚stoßen‘ (vgl. außerdem mlat.
praecide ‚abgeschnitten, kurz, genau‘ zu dem
Verb lat. praecīdere ‚abschneiden, abschla-
gen‘).

Für das ø des aisl. Adj. wäre auch eine analogische
Übernahme aus den Kasus obliqui denkbar, wo i-Um-
laut des einstigen *ǫ eingetreten ist (vgl. Noreen [1904]
1978: § 60, 7).

Das st. Verb urgerm. *χne-a- wird indirekt
auch vom As. bezeugt: Hier erscheint ein sw.v.
II as. hneuwon ‚niedergeschlagen sein‘ (nur
einmal als Part. hniuonda in Hel C 5947), das
aufgrund seines Vokalismus keine denominale
Ableitung, sondern eine Weiterbildung zu dem
im As. nicht überlieferten st. Verb ist.
Im Nordgerm. erscheint außerdem eine Rei-
he deverbaler Ableitungen mit Verallgemeine-
rung des i-Umlautes aus den Kasus obli-
qui: aisl. hnyggja st.v. ‚stoßen‘, nnorw. nyggja
‚dss.‘; nschwed. njugg ‚Schlag, Stoß‘.

Fick 3 (Germ.)⁴ 99. 298; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 235;
Seebold, Germ. st. Verben 270; Heidermanns, Et. Wb. d.
germ. Primäradj. 300; Tiefenbach, As. Handwb. 172;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 1119 f.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 3, 205; VMNW s. v. nauwe; Verwijs-
Verdam, Mndl. wb. 4, 2208 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl.
taal² 452; Suppl. 114; Vries, Ndls. et. wb. 464; Et. wb.
Ndl. Ke-R 409; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 225;
Fryske wb. 14, 69 f.; Dijkstra, Friesch Wb. 2, 186; Fort,
Saterfries. Wb. 138; Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnord-
fries. 138; Faltings, Et. Wb. d. fries. Adj. 283 f.; Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 166; Bosworth-Toller, AS Dict. 547;
Vries, Anord. et. Wb.² 245. 246; Jóhannesson, Isl. et. Wb.
217 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 30; Holt-
hausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 122; Magnússon, Ísl.
Orðsb. 356; Torp, Nynorsk et. ordb. 469 f.; NOB s. vv.
nøgg, nogg; Jakobsen, Et. dict. of the Norn lang. 2, 622;
Hellquist, Svensk et. ordb.³ 1, 700; Svenska akad. ordb.
s. v. nägg.

Urgerm. *χne-a- geht mit Verschärfung des
durch Laryngal auf die Wz. uridg. *kneH-
‚kratzen‘ zurück (zur Verschärfung mittels La-
ryngal vgl. R. Lühr, MSS 35 [1976], 73), die
unerweitert nur in dem gr. e/o-Präsens κνω
‚kratze‘ (mit sekundärem Subst. κνῦμα n. ‚Krät-
ze‘) belegt ist. Zur Bedeutungsentwicklung
‚kratzen‘ > ‚stoßen‘ vgl. gr. χαράσσω ‚spitze,
kratze, schabe, schlage‘ und gr. σκαλεύω ‚sto-
ße, schlage, kratze, scharre (von Federvieh)‘.
Die uridg. Verbalwz. ist auch als Dentaler-
weiterung in den idg. Einzelsprachen vorhan-
den (s. biniotan).

LIV² 645 f. stellt einzig aufgrund der Bed. die germ.
Wortsippe zu der Wz. uridg. *tk/en- ‚einen Schlag ver-
setzen, verletzen‘, zu dem urgerm. *χne-a- ein u-Prä-
sens (< uridg. *tkn-e-) sei. Die mangels Laryngal un-
etym. Gemination des wird auf eine Analogie zu den
mit H auslautenden Verben zurückgeführt (LIV² 646 Fn.
12). Wie jedoch semantische Parallelen zeigen (s. o.), ist
diese beispiellose Analogie unnötig. Auch die Annahme
eines nach Resegmentierung entstandenen Gleitlautes
ist unwahrscheinlich, da andernfalls bei den westgerm.
Adj. (s. o.), abgesehen vom Ahd., ein g als Vertretung des
Gleitlautes erscheinen würde.

Walde-Pokorny 1, 392 ff.; Pokorny 562; LIV² 366. 645 f.;
Frisk, Gr. et. Wb. 1, 887; Chantraine, Dict. ét. gr.² 528;
Beekes, Et. dict. of Gr. 1, 726.

MK/LS


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