nord n. a-St./m. a-St.?, Gl. 3,608,24 (in
3 Hss., letztes Jahrzehnt des 10. Jh.s und 11. Jh.),
NMC, Nps und Npg: ‚Norden, Nordwind; aqui-
lo, septentrio [= septemtrio]‘ 〈Var.: nort〉. –
Mhd. nort, gen.sg. -des st.n. ‚Norden‘, nhd.
Nord ohne Art. ‚Himmelsrichtung des tiefsten
Sonnenstandes, dem Süden entgegengesetzte
Himmelsrichtung, einer der vier Kardinalpunk-
te des Kompasses‘ (vorwiegend fachspr.), in
Verbindung mit einer Präp. (aus Nord) oder als
nachgestellte nähere Bestimmung bei geogra-
phischen Namen (Jena-Nord) und m. mit Ar-
tikel ‚Nordwind, aus dieser Richtung wehen-
der Wind‘ (fachspr., dichterisch).
Ahd. Wb. 6, 1333; Splett, Ahd. Wb. 1, 675; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 831; Schützeichel⁷ 240; Starck-Wells 443;
Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 121; Bergmann-Stri-
cker, Katalog Nr. 45. 619. 758; Graff 2, 1096; Lexer 2,
102; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 44 (aquilo); Götz, Lat.-
ahd.-nhd. Wb. 49 (aquilo); Dt. Wb. 13, 887 f.; Kluge²¹
514; Kluge²⁵ s. v. Nord; Pfeifer, Et. Wb.² 930.
Das Subst. hat in den meisten west- und nord-
germ. Sprachen direkte Entsprechungen: mndd.
north n. ‚Norden; Normannus‘ (u. a. Gl. in Lei-
den 191 [2. Hälfte des 12. Jh.s]), norden m.
‚Norden‘; frühmndl. nort m. ‚Norden‘, nndl.
noord m. ‚Norden‘; afries. north(a) n. ‚Nor-
den‘, nwestfries. noard m. ‚Norden‘, saterfries.
noude n. ‚Norden‘; me. north ‚Norden, nördli-
cher Punkt, Nordwind‘, ne. north subst. ‚Nor-
den‘; aisl. norðr n. ‚Norden‘, nisl. norður n.
‚Norden‘, fär. norður n. ‚Norden‘, ndän. nord
‚Norden‘, nnorw. (bm./nn.) nord subst. ‚Nor-
den‘, aschwed., nschwed. norr subst. ‚Norden‘.
Das me. Subst. ist auch ins Afrz. bzw. Mfrz. als
north ‚Nordwind‘ entlehnt worden und wird
von nfrz. nord fortgesetzt. Daneben tritt in ei-
nem Großteil dieser Sprachen ein Adv. auf, das
zum Teil auch als Adj. gebraucht wird: as. norđ
adv. ‚nordwärts‘; andfrk. north adv. ‚nördlich,
im Norden‘ (nur in ON), mndl. nort adv./adj.
‚im Norden, nördlich‘, nndl. noord adv. ‚im
Norden, nördlich‘; afries. north adj./adv. ‚nord-
wärts, nördlich‘, nwestfries. noard adv./adj.
‚nördlich, im Norden‘; ae. norþ adv./adj. ‚nörd-
lich, im Norden‘, ne. north adj./adv. ‚nördlich,
im Norden‘; aisl. norðr adv. ‚nördlich‘, nisl.
norður adv. ‚nördlich‘, ndän. nord adv. ‚nörd-
lich‘, nnorw. (bm./nn.) nord adv. ‚nördlich‘,
aschwed., nschwed. norr adv. ‚nördlich‘. Das
Fehlen eines Ableitungssuff. bei den Adj./Adv.
und das ausl. -r sprechen für eine ursprüngliche
Adverbialbildung, die einzelsprachlich teilwei-
se substantiviert wurde. Dabei zeigen die For-
men mit ausl. -r im Nordgerm. neben den Be-
legen ohne r im Nord- und Westgerm., dass
im Urgerm. zwei Adverbialbildungen nebenei-
nander existiert haben: urgerm. *nur-þrō und
*nur-þō oder *nur-þē. Urgerm. *nur-þō beruht
entweder auf Dissimilation aus *nur-þrō (vgl.
LIPP 2, 555 Fn. 5) oder die Vorform ist *nur-þē
und setzt das Adverbialsuffix urgerm. *-þē fort
(vgl. G. Schmidt 1962: 299), das u. a. in got. af-
ta ‚danach‘ und ahd. nida ‚unter‘ (s. d.) fort-
gesetzt ist.
Fick 3 (Germ.)⁴ 295; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 393;
Tiefenbach, As. Handwb. 294; Sehrt, Wb. z. Hel.² 417;
Berr, Et. Gl. to Hel. 302 f.; Schützeichel, Glossenwort-
schatz 7, 121; Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 375a;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 1111; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 3, 197; ONW s. v. north; VMNW s. v.
nort; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 4, 2543 f.; Franck, Et.
wb. d. ndl. taal² 462 f.; Suppl. 116 f.; Vries, Ndls. et. wb.
476; Et. wb. Ndl. Ke-R 433; Boutkan, OFris. et. dict.
290 f.; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 357; Richthofen,
Afries. Wb. 955; Fryske wb. 14, 219 f.; Dijkstra, Friesch
Wb. 2, 200; Fort, Saterfries. Wb. 139; Holthausen, Ae. et.
Wb. 238; Bosworth-Toller, AS Dict. 725; Suppl. 654;
Suppl. 2, 49; eMED s. v. north n.; Klein, Compr. et. dict.
of the Engl. lang. 2, 1055 f.; eOED s. v. north adv., adj.,
n.; Vries, Anord. et. Wb.² 411; Jóhannesson, Isl. et. Wb.
693; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 832 f.; Holt-
hausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 211; Magnússon, Ísl.
Orðsb. 673; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 1, 770 f.;
Nielsen, Dansk et. ordb. 303; Ordb. o. d. danske sprog
14, 1336 f.; Bjorvand, Våre arveord 667 f.; Bjorvand,
Våre arveord² 811; Torp, Nynorsk et. ordb. 461 f.; NOB
s. v. nord; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 1, 705 f.; Svenska
akad. ordb. s. v. norr.
Die dem germ. Adv. zugrunde liegende Wz.
uridg. *ner- ‚unten‘ ist in zahlreichen idg.
Sprachen vertreten. Hinsichtlich der Wortbil-
dung steht jedoch gr. ἐνέρτερος/νέρτερος ‚unter-
irdisch, unterer‘ dem germ. Adv. am nächsten,
da es auch mit dem Kontrastivsuffix uridg.
*-tero- gebildet ist. Im Gr. erscheint die Wz.
außerdem in einigen weiteren Nomina und Ad-
verbia: ἔνερθεν/νέρθεν ‚von unten‘, ἔνεροι ‚die
Unteren, die Unterirdischen‘. Die Varianten mit
anl. ε zeigen das im Gr. bei Adverbialbildungen
häufige pronominale ε- (vgl. beispielsweise gr.
[ἐ]-κεῖ ‚da, dort‘, [ἐ]-κεῖνος ‚jener‘), das im
Gr. als hic-et-nunc-Partikel gebraucht wird.
Vddhiert setzt auch der gr. GN Νήρευς ‚Mee-
resgott‘ die Wz. fort. Da jedoch die genannten
gr. Nomina mit dieser Wz. i. d. R. auf die Un-
terwelt bezogen sind, muss Νήρευς bereits sehr
früh im Gr. abgeleitet worden sein.
Die germ. Bedeutung ‚Norden‘ beruht auf dem germ.
Ekliptikalsystem, bei dem der Norden die untere Krüm-
mung der Himmelskugel ist, da so die Sonne für die Be-
wohner der Erde nicht sichtbar ist (vgl. J. A. Huisman,
ZVSp 71 [1954], 100 f.). Mit dieser Vorstellung hängt
auch die Bedeutung ‚links‘ der sabell. Entsprechungen
umbr. nertru abl.sg.m. ‚links‘ und osk. nertrak präp.
‚links von‘ zusammen (s. u.; vgl. J. A. Huisman, a. a. O.
99 f.).
Eine Vddhierung liegt möglicherweise auch in
ai. nāraká- m. ‚Unterwelt, Hölle‘ (neben häu-
figerem ai. naráka- m. ‚dss.‘) vor. Ebenfalls mit
kontrastivem tero-Suffix sind umbr. nertru abl.
sg.m. ‚links‘ und osk. nertrak präp. ‚links von‘
von der Wz. uridg. *ner- abgeleitet. Im Lat. ist
die Wz. wahrscheinlich nur im KHG von alat.
olla-ner ‚jener unten‘ (Varro de ling. Lat. VII
8) vorhanden (vgl. J. L. García Ramón, Aevum
antiquum 7 [2007], 286). Im Slaw. schließen
sich die o-stufigen Subst. russ. norá f. ‚Grube,
Höhle, Bau‘, ukrain. norá ‚Erdloch, Quelle‘,
tschech. nora ‚dss.‘, poln. nora ‚Höhle‘ und
slowen. nora ‚dss.‘ an. Ansonsten ist uridg.
*ner- noch in einigen balto-slaw. denominalen
Verben fortgesetzt: aruss. iznьretь ‚kommt he-
raus, entkommt‘, mbulg. vъnrěti ‚eindringen‘,
ponrěti ‚versinken, eintauchen‘, tschech. nořit
‚etw. eintauchen, versenken‘, slowen. noríti ‚ein-
tauchen‘, pondrti ‚untertauchen‘, bulg. nór-
vam ‚stürze kopfüber ins Wasser‘; lit. nérti
‚tauchen‘, lett. nit ‚dss.‘.
Da der Wz.vokalismus von toch B. ñor ‚unten, hinunter,
unter‘, ñoru-wär ‚flussabwärts‘ und ñorīye adj. ‚niedri-
ger‘ u-Umlaut und bei Anschluss an die Wz. uridg. *ner-
somit einen morphologisch unwahrscheinlichen u-St. vo-
raussetzt, schließt sich toch B. ñor zusammen mit den
anderen toch. Ableitungen eher an das Nomen gr. νείαιρα
‚die Unterste, unten befindlich, Unterleib‘ an (vgl. J.
Hilmarsson, Glotta 64 [1986], 3 f.). Die toch. Wörter set-
zen eine Vorform uridg. *neh₁u̯ voraus. Zur lautlichen
Entwicklung im Gr. s. J. Hilmarsson, Glotta 64 [1986], 5.
Im Arm. ist uridg. *ner- im Adj. arm. nerkˁin
adj. ‚unterer‘ (vorurarm. *ner-tu̯ino-), fortge-
führt (vgl. Olsen 1999: 467 Fn. 559).
Walde-Pokorny 2, 333 f.; Pokorny 765 f.; LIPP 2, 554 ff.;
Mayrhofer, KEWA 2, 138; ders., EWAia 2, 37; Frisk, Gr.
et. Wb. 1, 514 f.; Chantraine, Dict. ét. gr.² 331; Beekes,
Et. dict. of Gr. 1, 424; Untermann, Wb. d. Osk.-Umbr.
491 ff.; Wartburg, Frz. et. Wb. 16, 601 ff.; Trautmann,
Balt.-Slav. Wb. 196 f.; Trubačëv, Ėt. slov. slav. jaz. 25,
184 f.; Derksen, Et. dict. of Slav. 349; Vasmer, Russ. et.
Wb. 2, 226 f.; ders., Ėt. slov. russ. jaz. 3, 83 f.; Schuster-
Šewc, Hist.-et. Wb. d. Sorb. 1121f.; Derksen, Et. dict. of
Balt. 334; Fraenkel, Lit. et. Wb. 1, 495; Smoczyński,
Słow. et. jęz. lit. 422; ALEW 2, 697; Mühlenbach-End-
zelin, Lett.-dt. Wb. 2, 745; Karulis, Latv. et. vārd. 1, 629;
Windekens, Lex. ét. tokh. 77; Adams, Dict. of Toch. B²
289 f. – H. Schröder, GRM 17 (1929), 421 ff.
MK/LS