ôst adv., nur in MF als 〈ōst〉: ‚Osten;
ortus‘. Das Wort tritt in der Folge fona diu
sunna ôst uph<gengit untaz siu> sizzit auf, die
lat. ab ortu enim solis usque ad occasum wie-
dergibt. Laut Matzel 1970: 364 „ist der Satz, so
wie er in M erhalten ist, nicht einwandfrei“. In
der Tat scheint es für die Folge fona diu sunna
ôst zwei Deutungsmöglichkeiten zu geben: Ei-
nerseits kann fona diu die Übersetzung von
enim sein, so dass ôst Adv. ist. Andererseits ist
möglich, dass fona … ôst genau ab ortu wie-
dergibt, wodurch sich für ôst die Bestimmung
als Subst. ergibt. Auf Anfrage schreibt Elke
Krotz (Email vom 14.03.2016), dass sie dazu
neigt „ôst hier adverbial aufzufassen, innerhalb
eines Satzes, der die lat. Wendung mehr lokal
als temporal wiedergibt … Mir erscheint es am
sinnvollsten, fona diu als zusammengehörig zu
betrachten“. Mit Hinweis auf die Hs. interpre-
tiert sie „den Strich auf ost als eine Art Kür-
zungszeichen … statt eines in der Hs. doch
höchst selten verwendeten Längezeichens“. –
Mhd. ôst st.m. ‚Osten‘, nhd. Ost ‚Osten (ge-
wöhnlich in Verbindung mit einer Präp.), als
nachgestellte nähere Bestimmung bei geogra-
fischen Namen o. Ä. zur Bez. des östlichen
Teils oder zur Kennzeichnung der östlichen
Lage, Richtung‘. Die Subst. sind substantivierte
Formen des Adv. Die mehrfach anzutreffende
Angabe (etwa Dt. Wb. 13, 1369; Kluge²¹ 525
[s. v. Osten]; Kluge²⁵ s. v. Osten), dass sich ôst
erst seit dem Spätmhd. finden würde, stimmt
nicht. Sie geht wohl auf die Angabe in Graff 1,
498 zurück: „Wie ist in dem unvollständigen
Satze … ôst zu verstehen? Vielleicht als ver-
bum? und nicht als ostar oder ostana“.
Ahd. Wb. 7, 129; Splett, Ahd. Wb. 1, 689; Köbler, Wb. d.
ahd. Spr. 848; Schützeichel⁷ 246; Seebold, ChWdW9
639. 1099; Graff 1, 498; Lexer 2, 175; Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 456 f. (ortus); Dt. Wb. 13, 1369 f.; Kluge²¹ 525
(s. v. Osten); Kluge²⁵ s. v. Osten; Pfeifer, Et. Wb.² 958. –
Hench 1890: 49. 103; Matzel 1970: 318 Fn. 692.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. ōst (neben oest, oist, oost) adv. ‚ost-
wärts, nach Osten‘, adj. ‚östlich, nach Osten, im
Osten‘, ōst(e) (neben oist) n./f. ‚Gegend des
Sonnenaufgangs, Osten‘; andfrk. nur in ON
ōst-, āst- (in den Schreibungen as[t]-, aust-,
haut-, -hoost-, hos[t]-, oest-, oist-, oost-, os[t]-)
adv. ‚im Osten gelegen, östlich‘ (seit a. 802–
822), frühmndl. oost adv. (neben host, oest,
oost, ost) ‚im Osten, in östlicher Richtung‘, oost
n. (neben hoest, [mit proklit. Präp. und Art.]
intost, oest, ost) ‚der Osten‘, mndl. oost adv.
‚östlich, im Osten, in östlicher Richtung‘, nndl.
oost adv. ‚dss.‘, oost subst. ‚der Osten‘; afries.
āst, ēst, ōst n. ‚Ost‘, nwestfries. east adv., adj.,
subst. ‚im Osten, östlich, der Osten‘; ae. ēast
adv. ‚osten, in östlicher Richtung‘ (das Wort
könnte in einigen Belegen auch als Adj. in-
terpretiert werden; vgl. eOED s. v. east adv.,
adj., and n.¹), me. ēst (neben yeast) adv., adj.,
subst. ‚osten, im Osten, östlich, der Osten‘, ne.
east adv., adj., subst. ‚dss.‘; aisl. aust- (in
Komp. wie austfararskip n. ‚Schiff für den
Handel im Osten‘, austnorðaust adv. ‚ost-nord-
ost‘), adän., ndän. øst adv. ‚im Osten‘, subst.
‚der Osten‘, nnorw. (bm.) aust, øst, (nn.) aust
adv. ‚im Osten‘, subst. ‚der Osten‘, nschwed.
öst adv. ‚nach Osten‘, subst. ‚der Osten‘
(nschwed. ost adv. ‚osten‘, subst. ‚Osten, Ost-
wind‘ sind aus dem Ndl. oder Ndd. entlehnt): <
urgerm. *au̯sta(-)/ē/ō adv., adj., subst.
Daneben stehen im Germ. andere Bildungen, s.
ôstan, ôstar.
Fick 3 (Germ.)⁴ 6; Tiefenbach, As. Handwb. 299 (der
Beleg east in Gen B 667 ist ae.); Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. 2, 1, 1199 f.; ONW s. vv. āst, ōst; VMNW s. vv.
oost¹, oost²; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 5, 1618 f.;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 478; Suppl. 120; Vries, Ndls.
et. wb. 492; Et. wb. Ndl. Ke-R 468; Boutkan, OFris. et.
dict. 27 f.; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 23; Richtho-
fen, Afries. Wb. 613; Fryske wb. 4, 283; Dijkstra, Friesch
Wb. 1, 318; Holthausen, Ae. et. Wb. 86; Bosworth-Toller,
AS Dict. 235; Suppl. 173 f.; Suppl. 2, 21; eMED s. v. ēst
n.; Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 1, 495; eOED
s. v. east adv., adj., and n.¹; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 11 f.;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 1, 100 ff.; Holthau-
sen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 9; Falk-Torp, Norw.-dän. et.
Wb. 2, 1423 f. 1582; Nielsen, Dansk et. ordb. 519; Ordb.
o. d. danske sprog 27, 1717 ff.; Bjorvand, Våre arve-
ord² 1368 f.; Torp, Nynorsk et. ordb. 9; NOB s. vv. (bm.)
aust, øst, (nn.) aust; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 1469;
Svenska akad. ordb. s. v. ost. – H. Schröder, GRM 17
(1929), 421–427; G. Schmidt 1962: 299 f.
Grundlage aller germ. Bildungen ist urgerm.
*au̯sta- < uridg. *h₂eu̯s(-s)-to- mit der Bed. ‚zur
Morgenröte gehörig, Ort des Sonnenaufgangs‘,
eine Ableitung mit dem Zugehörigkeitsadj. bil-
denden Suff. (auch substantiviert) uridg. *-to-
(zur Funktion des Suff. vgl. S. Neri, FS Nuss-
baum 2012: 197 f. mit Beispielen; vgl. auch [un-
ter Hinweis auf A. Nussbaum] Neri 2007: 65–
67 Anm. 177) von uridg. *h₂eu̯s-os- ‚Mor-
genröte‘ (vgl. Bjorvand, Våre arveord² 1368)
(vgl. etwa auch uridg. *ner-t- ‚das Unten‘ →
*ner/-t-o- ‚zum Unten gehörig‘ > ahd. nord
[s. d.]).
Eine unmittelbare Parallele findet sich in der
denominalen Ableitung apoln. uścieć, uścić
‚glänzen‘ aus gemeinslaw. *usta- ‚Glanz‘ ←
‚zur Morgenröte gehörend‘ (< *h₂eu̯s[-s]-to-;
vgl. zum Verb A. Brückner, ZVSp 46 [1914],
212; ders. [1927] 1993: 209).
Der f. s-St. uridg. *h₂éu̯s-ōs : *h₂us(-s)-és f.
‚Morgenröte‘ (vgl. Stüber 2002: 103–106; Ne-
ri 2003: 41 f. Anm. 101; Lipp 2009: 1, 69 f.; 2,
45) ist fortgesetzt in: (mit Durchführung der
Schwundstufe) ai. uṣás- f. ‚Morgenröte, Mor-
gen‘, auch ‚Abendröte‘, av. ušah- f. ‚Mor-
genröte, Morgen‘, daneben mit Vollstufe iran.
*aušah- in waxi yiš-īγ ‚Morgenfrühe‘, baluči
pōš-ī (nach I. Gershevitch, FS Morgenstierne
1964: 84 und Anm. 19: < *upa-aušah- + Suff.
-ī) ‚übermorgen‘; gr. hom. ἠώς, att. ἕως, lesb.
αὔως, dor. ἀϝώς ‚Morgendämmerung‘; lat. (mit
sekundärer Weiterbildung zu einem ā-St.) au-
rōra f. ‚Morgendämmerung, Sonnenaufgang‘.
Unsicher bleibt die Zugehörigkeit von arm. ayg
‚Morgen, Tagesanbruch‘, das mit Lühr 2000:
143 auch zur Wz. uridg. *h₂ei̯- ‚hell sein‘ oder
*h₁/₃ai̯- ‚brennen‘ gehören kann (vgl. die Dis-
kussion mit Literatur in NIL 364 Anm. 32).
Auf dem s-St. beruhen auch lit. (mit -š- ent-
weder aus dem Verb aũšti [s.u.] oder als selte-
ne Nebenform nach *u [vgl. Stang 1966: 97–
99) aušrà f. ‚Morgenröte, Morgendämmerung‘,
lett. àustra, aũstra f. ‚dss.‘ < *h₂eu̯s(-s)-reh₂-.
Das Wort gehört zur Verbalwz. uridg. *h₂u̯es-
‚(morgens) hell werden‘, von der ein sk̂e/o-
Präs. fortlebt in: ai. uccháti ‚wird hell‘, jav.
usaṇt- ‚hell werdend‘, lit. (mit analogischer
Vollstufe) aũšti ‚anbrechen, beginnen [vom
Tag]‘, lett. àust ‚tagen, anbrechen, erscheinen‘
< uridg. *h₂us-sk̂é/ó-.
Zu weiteren nominalen Ableitungen vgl. NIL
357 ff.
Die im Germ. fortgesetzte Bildung *h₂eu̯s(-s)-
to- spricht gegen die Annahme von J. Gąsio-
rowski, in Nielsen Whitehead u. a. 2012: 121–
124, der Dental in den Bildungen wie ahd.
ôstara (s. d.) sei in der Lautfolge *-sr- (> *-str-)
entstanden und das germ. Wort somit eine un-
mittelbare Parallele zu den balt. Subst. lit. aušrà
f. ‚Morgenröte, Morgendämmerung‘, lett. àus-
tra, aũstra f. ‚dss.‘. Es sind vielmehr Ableitun-
gen von urgerm. *austa-. Dass urgerm. *au̯sta-
keine „back-formation“ (ebd., 123) eines *aus-
tra- ist, zeigt apoln. uścieć, uścić ‚glänzen‘, das
ebenso *au̯sta- voraussetzt.
Walde-Pokorny 1, 26 f. 301; Pokorny 86 f. 1174; LIV²
292 f.; NIL 357 ff.; Mayrhofer, KEWA 1, 99. 113; ders.,
EWAia 1, 236; 2, 530; Rastorgueva-Ėdelman, Et. dict.
Iran. lang. 1, 262 ff.; Bartholomae, Airan. Wb.² 415.
1393 f.; Cheung, Et. dict. of Iran. verb 202; Frisk, Gr. et.
Wb. 1, 605 f.; Chantraine, Dict. ét. gr.² 376 f.; Beekes, Et.
dict. of Gr. 1, 492 f.; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 1, 86;
Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 60; de Vaan, Et. dict. of Lat.
63; Thes. ling. lat. 2, 1522 ff.; Martirosyan, Et. dict. of
Arm. 54 ff.; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 19; Derksen, Et.
dict. of Balt. 72; Fraenkel, Lit. et. Wb. 1, 27; Smoczyński,
Słow. et. jęz. lit. 35 f.; ALEW 1, 75 f.; Mühlenbach-End-
zelin, Lett.-dt. Wb. 1, 228 f.; Karulis, Latv. et. vārd. 1, 91.
– Schrijver 1991: 47. 74.
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