rado¹, rato¹ m. n-St., seit dem 10./11. Jh.
in Gl.: ein Ackerunkraut, wohl ‚Kornrade oder
Taumel-Lolch; lolium, nigella, zizanium‘ (Ag-
rostemma githago L. oder Lolium temilentum
L.) 〈Var.: -th-; -e〉. Nebem dem m. n-St. sind im
Ahd. das Fem. rada¹, die Erweiterungen ratan
(radan), ratil* und ratamo sowie mit geminier-
tem Dental die Form ratto* (s. dd.) belegt. –
Mhd. rate sw.m. ‚Rade (ein Unkraut im Korn)‘,
frühnhd. rate(n) m. (daneben auch f. als Konti-
nuante von ahd. rada¹) ‚Kornrade‘, nhd. (veral-
tet) Raden m. ‚(zu den Nelkengewächsen gehö-
rende) Pflanze mit großen purpurroten Blüten‘.
Die Lautung Raden kann entweder unmittelbar
ahd. ratan (radan) fortsetzen oder ahd. rado¹,
rato¹; in dem Fall wäre das -n im Nom.Sg. aus
den obl. Kasus eingedrungen. Im Nhd. hat sich
das Fem. Rade ‚dss.‘ durchgesetzt (zumeist im
Kompositum Kornrade f. ‚[im Getreide vor-
kommende] hochwachsende Pflanze mit lang
gestielten, violetten Blüten und giftigen, schwar-
zen Samen‘), das ahd. rada¹ fortsetzt.
Ahd. Wb. 7, 635; Splett, Ahd. Wb. 1, 721; eKöbler, Ahd.
Wb. s. vv. rado², rato²; Schützeichel⁷ 254 (rato²); Starck-
Wells 470. 474 (rato²); Schützeichel, Glossenwortschatz
7, 336 f.; Graff 2, 470; Lexer 2, 348; 3, Nachtr. 345;
Götze [1920] 1971: 173; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 335
(lolium). 380 (nigella). 635 (zizania); Dt. Wb. 14, 43;
Kluge²¹ 577 (Rade); Kluge²⁵ s. v. Rade; ePfeifer, Et. Wb.
s. v. Rade. – Marzell [1943–79] 2000: 1, 154; 2, 1366; 3,
318 f.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
as. rado m. ‚Kornrade, Unkraut (Eppich, Me-
lisse, Hahnenfuß)‘, mndd. rāde, rēde m. Bez.
für verschiedene Ackergewächse, vor allem
für die ‚Kornrade‘, aber auch den ‚Taumel-
Lolch, Samen des Taumel-Lolchs‘: < west-
germ. *radan- neben *raþan-.
Weitere Entsprechungen sind nicht vorhanden.
Das früher damit verbundene nndl. Wort raai
(m.) ‚Grashalm, Hohlzahn, schmalblättriger
Rohrkolben‘, auch in raaigras (n.) ‚Benennung
verschiedener Lolcharten‘, ist aus ne. (veraltet)
ray ‚Taumel-Lolch (auch übertragen auf andere
Lolcharten)‘ bzw. ray-grass ‚Benennung ver-
schiedener Lolcharten‘ (neben volksetym. nach
rye ‚Roggen‘ [s. roggo] umgebildetem ryegrass
‚dss.‘) entlehnt, das nach eOED s. v. †ray n.⁴
eine sekundäre Kürzung von entlehntem anglo-
norm. yverai ‚Lolch (auch auf andere Pflanzen
übertragen)‘ (< mfrz. ivraie f. ‚dss.‘; vgl. nfrz.
ivraie f. ‚dss.‘) ist. Das frz. Wort geht auf mlat.
*ebriaca (Kürzung aus *ebriaca herba bzw.
*ebriaca planta) zurück, das Fem. zu lat.
ēbriācus adj. ‚tüchtig angetrunken‘, da man of-
fenbar annahm, dass die Pflanze einen Zustand
der Trunkenheit verursacht. Auf dem engl.
Wort beruhen auch nhd. Raygras, Raigras n.
‚Lolch, sehr hoch wachsendes Gras mit zwei-
blütigen kleinen Ähren, das als Futtergras ver-
wendet wird‘, nwestfries. raai m./f. ‚Grashalm,
Roggen-Gerste‘, raaigers n. ‚Lolch‘, saterfries.
raigäärs n. ‚Schwindelhafer, Lolch, Raygras‘,
nnordfries. rååigjas (ohne Genusangabe)
‚Glatthafer, Raigras (Lolium)‘, ndän. raigræs
‚Lolch‘, nnorw. raigras ‚dss.‘ und nschwed.
rajgräs ‚dss.‘ (die nordgerm. Formen sind viel-
leicht über das Nhd., die fries. Formen über das
Ndl. entlehnt).
In der Literatur (vgl. etwa Wadstein, Kl. as. Spr.denkm.
214) findet sich auch der Ansatz mit Langvokal. Die äl-
tere Überlieferung (vgl. auch den mhd. Reim gaten : ra-
ten bei Konrad von Würzburg, Sant Nicolaus 61 f.; vgl.
Lexer 2, 348) spricht dagegen. Zu dial. Wörter, die auf
einen Langvokal hinweisen, vgl. die Angaben im Dt. Wb.
14, 43; eine genaue Untersuchung und Analyse dieser
Formen (vor allem bezüglich des Alters des Langvokals)
steht noch aus.
Seit R. Löwe, PBB 62 (1938), 49 f. gilt das
Wort, wohl zu Recht, als eine Ableitung von der
rad¹ (s. d.) zugrunde liegenden Wz., da die Blüte
der Pflanze als Rad gedacht wurde, die Pflanze
dann als Träger des Rades. Der PflN ist somit
eine Erweiterung mit n-Suff. von urgerm.
*raþa- ‚Rad‘; von der Bildeweise und Semantik
ist etwa aisl. kampi ‚Träger eines Schnurrbarts‘
zu aisl. kampr ‚Schnurrbart‘ vergleichbar.
Wenn eine erst innergerm. Ableitung vorliegt,
ist bei dieser Etym. nur urgerm. *-þ- lautge-
setzlich berechtigt. Dann müssen die abwei-
chenden Lautungen auf sekundärer Umbil-
dung beruhen. Für eine solche bleibt die
naheliegende Wortgruppe um nhd. ausrotten
als Quelle fern (vgl. Lühr 1988: 300). Möglich
ist die bereits von R. Löwe, a. a. O. 51 f. vor-
geschlagene Beeinflussung durch die Wort-
gruppe um ahd. ratta (s. d.) (abgelehnt von
Lühr, a. a. O.), da sowohl die Pflanze (als ein
Ackerunkraut) wie das Tier (durch seine Gefrä-
ßigkeit) schädlich für den Ackerbau bzw. das
Getreide sind. Beide Wörter (Rade und Ratte)
kommen auch als KHG mit Korn n. vor: Korn-
rade f. (s. o.) und Kornratte f. ‚Hamster‘ (Dt.
Wb. 11, 1829).
Eine lautgesetzliche Erklärung der verschiedenen For-
men ist bei der Annahme einer vorurgerm. Bildung
nom.sg. *rót-ōn : gen.sg. *t-n-ós : lok.sg. *t-én(i)
denkbar, aus der urgerm. *raþan- : *urttaz (→ *ruttaz) :
*urđeni (→ *ruđeni) entstanden. Obwohl die bezeugten
Lautungen sich dann durch Ausgleich der unterschiedli-
chen urgerm. Dentale entwickelt haben können, ist diese
Erklärung durch das späte Auftreten der Belege insge-
samt weniger wahrscheinlich.
In ält. Literatur findet sich als urgerm. Rekonstrukt auch
*rē/ađu̯an- (vgl. etwa Fick 3 [Germ.]⁴ 337). Die als Be-
weis dafür angeführte Form ält. nhd. ratwen beruht aber
auf Dissimilation aus einer Lautung mit -m- wie etwa in
nhd. dial. [Henneberg] ratme m. (vgl. R. Löwe, a. a. O.
50 f. und s. ratamo).
Falls die nhd. dial. Formen mit Langvokal alt sind, sind
sie vielleicht als Vddhibildung erklärbar (*raþa- :
*rēþa- oder *rēđa-, beide mit sekundärer n-Individuali-
sierung [Typ urgerm. *aχu̯ō- ‚Wasser‘ : *ēǥu̯ii̯a- ‚Meer‘];
vgl. Darms 1978 passim).
Fick 3 (Germ.)⁴ 337; Tiefenbach, As. Handwb. 309; Wad-
stein, Kl. as. Spr.denkm. 214; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. 2, 2, 1830 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 529; Vries,
Ndls. et. wb. 556 (raai²); WNT s. vv. raai³, raai⁴, raaigras;
eFryske wb. s. vv. raai¹, raaigers; Fort, Saterfries. Wb.² 486;
Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnordfries. 159; Klein, Compr.
et. dict. of the Engl. lang. 2, 1367 f.; eOED s. vv. †ray n.⁴,
ray-grass n., ryegrass n.²; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 2,
871. 1530; Nielsen, Dansk et. ordb. 338; Ordb. o. d. danske
sprog 17, 348; NOB s. v. raigras; Hellquist, Svensk et. ordb.³
2, 811; Svenska akad. ordb. s. v. rajgräs. – Wartburg, Frz.
et. Wb. 3, 199 f. – R. Löwe, PBB 62 (1938), 43–52.
S. rad¹.
RS