râsôn
Band VII, Spalte 192
Symbol XML-Datei TEI Symbol PDF-Datei PDF Zitat-Symbol Zitieren

râsôn sw.v. II, in Gl. 2,67,23 (letztes
Jahrzehnt des 10. Jh.s, mfrk.) und 2 Gl. in Lon-
don, Harl. 3095 (10. Jh., mfrk.): ‚vermuten; con-
iectare, deprehendere‘. Bislang erfolgte der
Ansatz immer mit Kurzvokal als rasôn. Der Be-
leg karaset im Clm. 6300 (Ende des 8./Anfang
des 9. Jh.s, bair.) gehört, anders als Schützei-
chel, Glossenwortschatz 7, 322 (s. v. girāsn)
annimmt, mit Seebold, ChWdW8 235 hierher.
Glaser 1996: 342 lehnt einen Zusammenhang
des Gl.belegs mit rasôn (jetzt: râsôn) ab und er-
wägt zurückhaltend eine Verschreibung für
eine Form von girefsen ‚tadeln‘ (s. d.). Doch er-
scheint es möglich, dass der Glossator eine
leicht abweichende Auffassung von der lat.
Textpassage hatte: Eum … non transire de-
prehendi, wörtl. „den … ich nicht vorbeigehen
bemerkt habe“ > „von dem … ich nicht vermu-
tet habe, dass er vorbeigegangen ist“.
Gegenüber den bisherigen Ansätzen geht Ahd.
Wb. 7, 673 f. nun von einem Ansatz râsôn mit
Langvokal -â- in der Wz.silbe aus (s. u.).

Ahd. Wb. 7, 673 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 1230; eKöbler, Ahd.
Wb. s. v. rasōn; Schützeichel⁷ 253; Starck-Wells 472;
Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 322; Bergmann-Stricker,
Katalog Nr. 45. 418. 523; Seebold, ChWdW8 235.

Die Etym. blieb bislang unklar. Weder eine
Verbindung mit der Wz.form urgerm. *ras- in
rarta ‚Stimme, Melodie‘ (s. d.) noch mit dem
Element *ras- in rasta¹ ‚Ruhe, Meile‘ oder
rasta² ‚Klumpen‘ überzeugte. Auch über einen
Ansatz urgerm. *χras- oder *ras- ergaben sich
keine sinnvollen Verknüpfungen.
Der neue Ansatz mit ahd. -â- lässt nun eine Ver-
bindung mit fries. und ae. Wortmaterial erken-
nen: Eine exakte Gleichung bildet das ahd.
Verb mit afries. rēsia sw.v. ‚vermuten, halten
für‘ und ae. rǣs(w)(i)an, rēswian sw.v. ‚denken,
annehmen, vermuten‘. Diese Verben gehen auf
westgerm. *rēs()-ō-e/a- zurück. Dabei handelt
es sich um eine denominale Bildung zu in ae.
rǣs, dat.pl. rǣswum f. ‚Rat‘ fortgesetztem
westgerm. *rēsō- (davon abgeleitet ist zudem
das Nomen agentis westgerm. *rēsan- > ae.
rǣswa m. ‚Berater, Prinz, König‘). Dieses wie-
derum ist eine Ableitung mit dem (Verbal-)Ab-
strakta bildenden Suff. vorurgerm. *-tā- zur
Wz. urgerm. *rēđ-, die in ahd. râtan ‚raten‘
(s. d.; ebd. auch alles Weitere zur Etym.) und
seiner Sippe fortlebt. Die virtuelle Vorform
vor-/frühurgerm. *rēđ-tā- entwickelte sich zu
*rēssō- und weiter mit Vereinfachung der Ge-
minate nach Langvokal zu westgerm. *rēsō-.
Später fiel dann *-- in den einzelsprachlichen
Formen in dieser Position meist aus.

Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 402; Holthausen, Ae. et.
Wb. 254 (rǣs²); Bosworth-Toller, AS Dict. 785; Suppl.
684. – Kluge 1926: § 140b; Krahe-Meid 1969: 3, § 127;
Hill 2003: 74–78; Braune-Heidermanns 2018: § 109
Anm. 2.

S. râtan.

HB

Information

Band VII, Spalte 192

Zur Druckfassung
Zitat-Symbol Zitieren
Symbol XML-Datei Download (TEI)
Symbol PDF-Datei Download (PDF)

Lemma: