râtan
Band VII, Spalte 202
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râtan red.v. VII (prät. riat, riatum,
part.prät. girâtan), ab dem letzten Viertel des 8.
Jh.s in Gl., in MF, Ps 138, Prs A, BGB III, bei
N, in WH: ‚raten, zureden, beraten, überlegen,
beistehen, beschließen, helfen, anraten, Rat ge-
ben, Rat halten, Rat schaffen, planen, einen An-
schlag planen, beratschlagen, erraten, schließen,
folgern; agere, cogitare, conicere, consiliari,
consilium colligere, consilium facere, consi-
lium inire, consulere, consultum praebere,
dicere, dictare, machinari, persuadēre, prophe-
tizare, prospicere, providēre, punire, quaerere,
remittere, suadēre, suggerere, susurrare, vel-
le‘, ana den lîb râtan ‚nach dem Leben trach-
ten; occīdere‘ 〈Var.: -á-; -d-, -ht-, -th-; -en〉. –
Mhd. râten st.v. red. ‚raten, beraten, überden-
ken, worauf sinnen, bereiten, anraten‘, nhd. ra-
ten st.v. ‚einen Ratschlag geben, zureden, ein
Rätsel zu lösen versuchen‘.

Ahd. Wb. 7, 680 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 726; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rātan¹; Schützeichel⁷ 253; Starck-Wells
472. 828. 853; Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 326 f.;
Seebold, ChWdW8 235. 428. 505; ders., ChWdW9 660.
1100; Graff 2, 457 ff.; Heffner 1961: 120; Lexer 2, 348 f.;
Diefenbach, Gl. lat.-germ. 142 (conjicere). 145 (consu-
lere). 430 (persuadere). 558 (suadere). 565 (suggerere);
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 115 (colligere). 139 (consiliari,
consilium). 143 (consulere). 444 (occīdere²). 485 (per-
suadēre). 632 (suadēre); Dt. Wb. 14, 173 ff.; Kluge²¹ 584
(s. v. Rat); Kluge²⁵ s. v. raten; ePfeifer, Et. Wb. s. v. raten.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen
meist ebenfalls red. Verben: as. rādan (rēd,
rēdun [-ie-], rādan) ‚sorgen für, sich beraten,
erraten, verüben, überreden, jmdn. beraten‘,
mndd. rāden st.v. red. (auch sw.v. prät. radde,
redde) ‚sich kümmern um, verfügen, Verfü-
gungsgewalt haben, bewältigen, meistern, gera-
ten, gelingen, sich entwickeln, mitteilen, vor-
hersagen, anraten, empfehlen, überreden, sich
beraten, beratschlagen, einen Beschluss fassen,
entscheiden, herrschen, Gewalt haben‘; andfrk.
rādan st.v. red. (riet, rieden, –) ‚raten, als Rat
geben‘, frühmndl. rāden st.v. ‚raten, anberau-
men, eingeben, meinen, als Rat geben, über-
zeugen‘, mndl. rāden sw.v. ‚beratschlagen,
meinen, raten, Rat geben, überlegen, voraus
bedenken, verursachen‘, nndl. raden st.v. ‚ra-
ten, erraten, beraten‘; afries. rēda, rētha, redia,
radia st.v. red. (rēd, –, –; daneben aber auch
Formen eines sw. V.) ‚raten, einen Rat geben,
schützen, versorgen, sorgen, helfen, verhelfen,
planen, anstiften zu, konspirieren, verursachen,
verschulden, vorschlagen, beraten, beschlie-
ßen, (durch Richterspruch) gerichtlich entschei-
den, bestätigen‘, nwestfries. riede st.v. red. ‚ra-
ten, einen Rat geben‘, riede sw.v. ‚sorgen für,
verschaffen, anschaffen‘, saterfries. räide ‚ra-
ten, erraten, geraten, fertig werden‘, nnordfries.
räide st.v. red. ‚raten, erraten‘, räide sw.v. ‚fer-
tig werden‘; ae. rǣdan st.v. red. (rēd, rēdon ne-
ben reord, hreordun [zu diesen Formen s. u.],
rǣden) ‚raten, überlegen, entscheiden, helfen,
sorgen für, deuten, lesen‘, me. meist präfigiert
irēden ‚raten, beratschlagen, lehren, lesen‘, ne.
read ‚lesen, vorhersagen, verstehen, erkennen‘,
obs. auch ‚raten, beratschlagen‘; aisl. ráða st.v.
(réð, réðun, ráðinn) ‚raten, Macht haben, herr-
schen, beschließen, bereiten, sich anschicken,
einlassen, verraten, erraten, deuten, anfallen‘,
nisl. ráða, fär. ráða, ndän. råde ‚leiten, steuern,
bestimmen, besitzen, beratschlagen, einen Rat
geben‘, nnorw. rå(de) ‚dss.‘, (nn.) råda ‚dss.‘,
shetl. -ro(d) in afro(d) ‚abraten‘, aschwed. rāþa
(rēþ/rǣþ, radd[h]e), nschwed. råda ‚sorgen
für, besprechen, beratschlagen, Rat geben, ra-
ten‘; got. -redan, -rairoþ (z. B. in garedan*
red.v. ‚Vorsorge treffen; προνεῖσθαι‘): < ur-
germ. *rēđ-e/a-.
Neben dem Verb gibt es gemeingerm. ein Subst.
urgerm. *rēđ-i- ‚Rat, Ratschlag‘ (s. rât).
Die etwa im Fries. (aber auch im Ae.) bezeug-
ten Formen eines homonymen sw. Verbs (z. B.
afries. rēda sw.v. ‚ausrüsten, ausstatten, berei-
ten, beschaffen, beibringen‘, nwestfries. riede
sw.v. ‚sorgen für, verschaffen, anschaffen‘, sa-
terfries. räide sw.v. ‚geraten, fertig werden‘,
nnordfries. räide sw.v. ‚fertig werden‘) sind
etym. vom red. st.v. zu trennen. Es handelt sich
um Formen, die auf urgerm. *ra/eđ- zurückge-
hen und zur Sippe von nhd. bereit, ahd. gireiti¹
‚gerüstet, bereit‘ (s. d.) gehören (zur Etym. s.
antreita).

Fick 3 (Germ.)⁴ 336 f.; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 408;
Seebold, Germ. st. Verben 365 ff.; Tiefenbach, As.
Handwb. 308; Sehrt, Wb. z. Hel.² 433; Berr, Et. Gl. to
Hel. 315 (s. v. rād); Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 214;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2, 1834 ff.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 3, 413 f.; ONW s. v. rādan; VMNW
s. v. rāden; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6, 944 ff.;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 528 f. (s. v. raad); Suppl. 134;
Vries, Ndls. et. wb. 558; Et. wb. Ndl. Ke-R 618; WNT s. v.
raden; Boutkan, OFris. et. dict. 314; Hofmann-Popkema,
Afries. Wb. 396 (rāde¹). 397 (rāde³); Richthofen, Afries.
Wb. 986; Fryske wb. 18, 10 f. (riede¹, riede²); Dijkstra,
Friesch Wb. 3, 21 (riede¹, riede²); Fort, Saterfries. Wb
485 f.; Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnordfries. 160. 161;
Holthausen, Ae. et. Wb. 252; Bosworth-Toller, AS Dict.
782; Suppl. 683; Suppl. 2, 52; eMED s. v. irēden; Klein,
Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2, 1306; eOED s. v.
read v.; Vries, Anord. et. Wb.² 431; Jóhannesson, Isl. et. Wb.
33 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 9 ff.; ONP s. v.
ráða; Jónsson, Lex. poet. 458 f.; Holthausen, Vgl. Wb. d.
Awestnord. 222; Magnússon, Ísl. Orðsb. 737; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 2, 865 f. (s. v. Raad). 1529; Nielsen,
Dansk et. ordb. 356; Ordb. o. d. danske sprog 17, 268 ff.;
Bjorvand, Våre arveord² 906 (s. v. røde). 915; NOB s. vv.
(bm./nn.) , (bm./nn.) råde, (nn.) råda; Jakobsen, Et.
dict. of the Norn lang. 1, 5; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2,
862 f.; Svenska akad. ordb. s. v. råda v.¹; Feist, Vgl. Wb. d.
got. Spr. 199; Lehmann, Gothic Et. Dict. G-57. – K.-H.
Mottausch, NOWELE 33 (1998), 51. 54 ff.; Levickij
2010: 1, 426; Mottausch 2013: 55. 184. 202. 209.

Urgerm. *rēđ-e/a- geht auf vorurgerm.
*reh₁dh-e/o- zur Wz. uridg. *reh₁dh- ‚erfolg-
reich durchführen‘ zurück. Die Wz. hatte mög-
licherweise urspr. die Bed. ‚Erfolg haben‘, die
sich über ‚in Bezug auf etwas Erfolg haben‘ >
‚zustande bringen‘ weiter zu ‚für Gelingen sor-
gen‘ > ‚Vorsorge treffen‘ > ‚beraten‘ entwickelt
hat. Das Perf. zu diesem Verb ist als uridg. *re-
róh₁dh-, *re-rh₁dh-´ > urgerm. *rerōđ-, *rerađ-
anzusetzen; die Formen ae. (h)reord(un) kön-
nen lautgesetzlich aus dem sw. St. dieses Perf.
entstanden sein, den st. St. setzt got. -rairoþ
(mit Auslautverhärtung) fort.
Die Form vorurgerm. *reh₁dh-e/o- hat als
Präs.st. in den anderen idg. Sprachen keine ge-
naue Entsprechung. Vielmehr ist hier mit
Mottausch 2013: 55 davon auszugehen, dass,
wie in anderen Fällen auch, das germ. Präs. aus
einem uridg. Konj.Aor. entstanden ist (der ei-
nerseits futurische Bed. hatte, wie sie das Präs.
auch haben konnte, und andererseits strukturell
mit dem Konj.suff. uridg. *-e- und seiner oft
vollstufigen Wz. einem themat. Präs. ähnelte).
Ein solcher ist in ved. konj.aor. rādhat(i) ‚wird
zustande bringen‘, aav. rāda ‚wird recht ma-
chen‘ bezeugt. Im Ai. begegnen für das Präs.
die Neubildungen rādhnóti ‚bringt zustande,
macht zurecht, bereitet, stellt zufrieden, er-
langt‘, rdhyate ‚kommt zustande, fügt sich‘
sowie das Kaus. ved. (AV) rādhayati ‚bringt
zustande, lässt gelingen‘ < uridg. *roh₁dh-ée/o-.
Auf diese Form gehen auch got. rodjan ‚reden‘,
aisl. rœða ‚dss.‘ etc. (< urgerm. *rōđ-ee/a-) zu-
rück (Vries, Anord. et. Wb.² 457; Jóhannesson,
Isl. et. Wb. 33; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awest-
nord. 235; Magnússon, Ísl. Orðsb. 784; Feist,
Vgl. Wb. d. got. Spr. 400; Lehmann, Gothic Et.
Dict. R-28; García García 2005: 109–111) so-
wie im Kelt. air. -ráidi ‚überlegt, sagt, erzählt‘,
immrád(a)im ‚bespreche, überlege‘, mkymr.
ad-rawd ‚erzählt ?‘ und im Slaw. aksl. raditi
‚sich kümmern um, sorgen für‘, aruss. raditi
‚sorgen für‘, russ. (obs.) radét’ ‚sorgen für,
unterstützen‘, serb., kroat. ráditi ‚arbeiten,
machen‘, bulg. rádja ‚sorge, versuche‘. Dane-
ben finden sich im Slaw. auch weitgehend
gleichbedeutende Verben mit Wz.vokal -o- <
gemeinslaw. *-o- < urslaw. *-a-. Bei diesen
handelt es sich dann um innerslaw. Neubil-
dungen, die analogisch nach dem üblicheren
Strukturmuster der auf Kaus. basierenden i-
Verben gebildet wurden; vgl. aksl., atschech.
neroditi ‚sich nicht kümmern um‘, osorb.
rodźić, auch rodźeć, ndsorb. roźiś, auch roźeś
‚wollen, streben nach‘, apoln. radzić ‚dss.‘,
slowen. róditi ‚sich sorgen um, beachten‘,
bulg. rodjá ‚dss.‘.
Die früher bisweilen damit verbundenen Ver-
ben lit. ródyti, ródžiu ‚zeigen‘, lett. rādīt [rãdît]
‚dss.‘ < urbalt. *rād-ī/i- und lit. ràsti, randù
‚finden‘, lett. rast ‚dss.‘ < urbalt. *rad-/*ra-n-
d- bleiben fern, da ihr Vokalismus nicht mit der
v. a. vom germ. Material geforderten Rekon-
struktion vereinbar ist. Letztlich bleibt auch un-
sicher, ob ródyti ein Kaus. zu ràsti ist.

Lit. rõdyti, rõdiju ‚einen Rat geben‘ ist dagegen ein slaw.
Lehnwort, wohl aus poln. radzić ‚raten‘, das wiederum
entweder selbst aus dem Mndd. stammt oder denominal zu
aus dem Mndd. entlehntem poln. rada ‚Rat‘ gebildet ist.

Abzulehnen ist die in den älteren Etymologika
weit verbreitete, auf Walde-Pokorny 1, 73 ff.,
Pokorny 59 f. beruhende Auffassung, es handle
sich bei der ahd. râtan zugrunde liegenden Wz.
um eine dh-Erweiterung der Wz. uridg. *h₂er-
‚zusammenfügen‘ (LIV² 269 f.). Dies ist mor-
phophonologisch unwahrscheinlich, es sei
denn, man rechnet mit einer Erweiterung *h₂r-
edh- und postuliert auf der Grundlage dieser
Neowz. eine unmotiviert dehnstufige Bildung
im Germ. etc.
Will man die Wz. uridg. *reh₁dh- weiter zerlegen
(wofür keinerlei Notwendigkeit besteht), kann
man allenfalls entweder eine dh-Erweiterung der
Wz. uridg. *reh₁- ‚zählen, rechnen‘ oder ein
verdunkeltes Komp. uridg. *reh₁-dhh₁- zur sel-
ben Wz. ansetzen, woraus dann eine neue Wz.
abstrahiert worden wäre.

Walde-Pokorny 1, 73 ff.; Pokorny 59 f. 853; LIV² 499 f.;
Mayrhofer, KEWA 3, 54; ders., EWAia 2, 448; Bartholomae,
Airan. Wb.² 1520 f.; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 235;
Derksen, Et. dict. of Slav. 432. 437 (roditi²); Et. slov. jaz.
staroslov. 773 f.; Bezlaj, Et. slov. slov. jez. 3, 191; Snoj,
Slov. et. slov.³ 467 f. (s. v. nerọ̑da); Vasmer, Russ. et. Wb.
2, 482; ders., Ėt. slov. russ. jaz. 3, 430; Schuster-Šewc,
Hist.-et. Wb. d. Sorb. 1230 f.; Derksen, Et. dict. of Balt.
383; Fraenkel, Lit. et. Wb. 2, 741 f.; Smoczyński, Słow.
et. jęz. lit.² 1001 f. 1037 (s. v. rodà). 1038; ALEW 2, 843 f.
872; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3, 479. 494 f.;
6, 354 f. 361; Karulis, Latv. et. vārd. 2, 97. 104 f.; Fick 2
(Kelt.)⁴ 226; Matasović, Et. dict. of Proto-Celt. 305 f.;
Hessens Ir. Lex. 2, 191; Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc.
R-3; Kavanagh-Wodtko, Lex. OIr. Gl. 745; eDIL s. v.
ráidid; Dict. of Welsh 1, 99. – Brückner [1927] 1993:
452; Georgiev 1974 ff.: 6, 145 f.; Skok 1971–1974: 3, 97;
Orel 2011: 3, 138 (radet’¹); Králik 2015: 487 f.; Rejzek
2015: 577.

HB


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