reda f. ō/n-St., seit dem Ende des 8. Jh.s
in Gl. und in I, MF, T, OT, E, B, GB, O, RB, N,
Npg, Ph: ‚Verstand, Vernunft, Vernunft und
Rede(kunst), Überlegung, (überlegte) Vorge-
hens-, Verfahrensweise, (Be-)Rechnung, Re-
chenschaft, Rechtfertigung, Zahlenverhältnis,
Ansicht, Meinung, Überzeugung, (mitgeteilte)
Begründung, Argument, Beweismittel, logischer
Schluss, Schlussfolgerung, kurze geformte Äu-
ßerung, Ausspruch, Aussage, (Denk-)Spruch,
Sentenz, Wort(e), längere geformte Äußerung,
Rede, Darlegung, Ausführung, Textstück, Ab-
schnitt, das Reden, Streitgespräch, Wortwech-
sel, Redeweise, Ausdrucksweise, Thema, Stoff,
Gegenstand einer Darlegung, Ursache, (Be-
weg-)Grund, Veranlassung, Motiv, Sinn, Be-
deutung, Gesetzmäßigkeit, Ordnung, Wesens-
art (?), Beschaffenheit (?); allegatio, altercatio,
causa, comma, commentarius, concentus, cursu
relegere [= mit widarwerbitero redo zellen],
dicere, disputatio, fabula, hinc [= fona dero
redo], logos, materia, negotium, obiectio, ora-
culum, oratio, os, propositio, propositum, pro-
secutio, quaestio, ratio, ratiocinatio [= bislozzan
reda], ratiocinium, satisfactio, sensus, sententia,
sermo, supputatio, suscipere [= intdîhan dera
reda], thema, via, vis‘, in Redewendungen after
redo ‚vernunftgemäß, vernünftigerweise; ratio-
ne‘, mit redo ‚in unerschütterlicher Vernunft;
firma ratione‘, nâh redo ‚in völlig gehöriger
Weise, geziemender Art; ordinatissime‘, reda
irgeban ‚Rechenschaft ablegen über; rationem
reddere‘, reda sezzen ‚Rechenschaft verlangen
von, abrechnen, abrechnen mit; rationem po-
nere‘, deseru selbûn redu sîn ‚dasselbe sagen‘,
reda tuon ‚Rechenschaft ablegen über, sich
rechtfertigen, sich verantworten, berichten, er-
zählen, einen Grundsatz anwenden; narrare,
ratiocinari‘ 〈Var.: -dh- (zur Schreibung vgl.
Braune-Heidermanns 2018: § 167); -ia, -ea (zur
Entwicklung von *-i̯- im Ahd. und zum Feh-
len der westgerm. Konsonantengemination in
diesem Wort vgl. Braune-Heidermanns 2018:
§ 118 [und Anm. 1. 4]; Franck [1909] 1971:
§ 55, 2 [S. 68]; zur Erklärung, nämlich bedingt
durch frühen Ausfall von j in diesem Wort, vgl.
Simmler 1981: 307 f.)〉. – Mhd. rede st.f. ‚Re-
chenschaft, Verantwortung, Gebühr, Vernunft,
Verstand, Rede, Gespräch, Erzählung, Ausrede,
Verabredung, gegebenes Wort, Abkommen, Ver-
trag, Nachrede, Nachricht, Kunde, Epos oder
Lehrgedicht in Reimprosa oder unstrophischen
Versen, Text eines Gedichts, der Melodie ent-
gegengesetzt, Gegenstand der Rede, Sache,
Handlung‘, frühnhd. rede f. (ohne Bed.angabe
in Götze [1920] 1971: 174, aber in den Verbin-
dungen éin rede machen aus ‚identifizieren‘,
eine rede begeben ‚Erwähnung tun‘, schlechte
rede ‚Prosa‘), nhd. Rede f. ‚mündliche Darle-
gung von Gedanken vor einem Publikum über
ein bestimmtes Thema oder Arbeitsgebiet, ge-
übtes Sprechen, rhetorischer Vortrag, das Re-
den, zusammenhängende Äußerung, geäußerte
Meinung, Ansicht, Gerede, Gerücht‘.
Ahd. Wb. 7, 726 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 730; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. reda; Schützeichel⁷ 254 f.; Starck-Wells
475; Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 346 ff.; Seebold,
ChWdW8 236. 429. 505 ders., ChWdW9 347. 662 f. 872.
1101; Graff 2, 444 ff.; Heffner 1961: 120; Lexer 2, 364 f.;
3, Nachtr. 345; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 221 (fabula).
335 (logus). 485 (ratio, ratiocinari). 529 (sermo); Götz,
Lat.-ahd.-nhd. Wb. 95 (causa). 193 (dicere). 303 f. (hinc).
379 (logos). 422 (narrare). 438 (obiectio). 453 (oratio).
454 (ordinatus). 531 (propositio, propositum). 544
(quaestio). 553 f. (ratio). 554 (ratiocinari, ratiocinatio). 602
(sensus). 602 f. (sententia). 606 (sermo). 648 (suscipere).
720 (vox); Dt. Wb. 14, 450 ff.; Kluge²¹ 589; Kluge²⁵ s. v.
Rede; ePfeifer, Et. Wb. s. v. Rede. – Braune-Heidermanns
2018: §§ 207 Anm. 7. 210 (und Anm. 2. 3).
In den anderen germ. Sprachen entsprechen: as.
rethia f. (nur dat.sg. rethiu [Hel 2611] in der
Verbindung an rethiu standan ‚Rechenschaft
ablegen‘), mndd. rēde (reede, reyde, reͤde), rede
f. ‚gesprochene oder geschriebene Worte, Äuße-
rung, Rede, Aussagegegenstand, Inhalt, Unter-
redung, Unterhaltung, feste Zusage, vertragliche
Vereinbarung, Grund, (rechtlich stichhaltige)
Begründung, Legitimation, Anschuldigung vor
Gericht, vorgebrachte Klage, Entgegnung auf
einen Vorwurf, Rechtfertigung, Einrede, Ein-
spruch, Vernunft, vernünftiges Denken und
Handeln‘; andfrk. retha f. ‚gesprochenes Wort‘
(nur in der Verbindung thie [sine] retha kēren
[tuo] ‚das [sein] Wort richten [an], sprechen
[zu]‘), frühmndl. rede, (mit einem aus den obli-
quen Kasus eingedrungenem n) reden f. ‚Ord-
nung, Recht, Maß, Verstand, Wörter, Erzäh-
lung, Grund, Ursache, Voraussetzung‘, mndl.
rede, reden (f.) ‚Recht, Ordnung, Vernunft,
Verstand, Rechenschaft, Verantwortung, Be-
weisgrund, Argument‘, nndl. rede (f.) ‚Denk-
vermögen, das Sprechen, Sprache‘, reden (f.)
‚Ursache, Motiv‘; afries. rethe, rede, rēd, rē f.
‚Rede, Vortrag des Klägers, Gegenrede, Vor-
trag des Beklagten, Beweis (der Unzulässigkeit
einer Klage)‘, nwestfries. reden (m./f.) ‚Ursa-
che, Grund, Argument, Motiv, Verhältnis, Ge-
spräch, Behauptung‘, saterfries. rede f. ‚Rede‘;
got. raþjo f. ‚Zahl, Rechnung; ἀριθμός, λόγος‘
< urgerm. *raþi̯ōn-.
Die Annahme einer Entlehnung aus lat. ratiō f. ‚Rech-
nung, Berechnung‘ (so u. a. M. Bréal, MSLP 7 [1892],
137 f.; Leumann [1926–28] 1977: 366; bevorzugt von
Weiss 2011: 312 Fn. 48) ist unwahrscheinlich: Die Ent-
lehnung der Wortgruppe müsste entweder vor der ersten
Lautverschiebung erfolgt oder eine Lautsubstitution ein-
getreten sein, wofür eindeutige Parallelen fehlen. Für
eine Lautsubstitution ist got. kawtsjo* f. ‚Bürgschaft‘ <
lat. cautiō f. ‚dss.‘ (M. Bréal, MSLP 7 [1892], 138) kein
Beispiel; ein Einfluss der got. Form garaþana ‚gezählt‘
[s. u.] ist ebenfalls nicht zu beweisen. Auch ist die Bed.
‚Zahl‘ nicht aus den Bed. von lat. ratiō vermittelbar (vgl.
dazu Schubert 1968: 89); auch das KHG urgerm. *-rađa-
‚Zahl‘ im Zahlwort ‚hundert‘ (s. dazu unter -hunt ‚hundert‘)
spricht für ein Erbwort. Sicher ist dagegen, dass die Bed.
von lat. ratiō später auf das germ. Wort eingewirkt hat.
Die Wortbildung von urgerm. *raþi̯ōn- ist we-
gen des ungesicherten Verhältnisses zwischen
dem Subst. und der im Got. einmal belegten
Form garaþana ‚gezählt‘ (Mt. 10, 30) unklar.
Es ist umstritten, ob garaþana zum Ansatz ei-
nes st.v. VI garaþjan* ‚zählen‘ < urgerm.
*raþi̯e/a- (oder garaþan*?; so Schubert 1968:
90 mit Hinweis auf Fälle wie sakja ‚Streit‘ :
sakan ‚streiten‘; als Möglichkeit auch bei Kroo-
nen, Et. dict. of Pgm. 406) berechtigt, von dem
das Subst. mit dem Suff. *-i̯ōn- abgeleitet wäre,
oder ob garaþana (wie in got. usalþans* ‚al-
tersschwach geworden‘) eine n-Ableitung zu
einem urspr. Part. urgerm. *raþa- (vgl. lat. ra-
tus ‚berechnet, ausgerechnet, durch die Rech-
nung bestimmt‘) ist (so Seebold, Germ. st. Ver-
ben 365; ders., IF 76 [1971], 325). In diesem
Fall würde das Dentalsuff. nominaler Herkunft
sein (unentschieden Casaretto 2004: 263).
Fick 3 (Germ.)⁴ 336; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 405 f.;
Tiefenbach, As. Handwb. 312; Sehrt, Wb. z. Hel.² 434; Berr,
Et. Gl. to Hel. 316; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2,
2, 1953 ff. (rēde²); Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 3, 440 f.;
ONW s. v. retha; VMNW s. v. reden¹; Verwijs-Verdam,
Mndl. wb. 6, 1150 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 538 f.;
Vries, Ndls. et. wb. 566; Et. wb. Ndl. Ke-R 637 f.; WNT
s. vv. rede¹, reden¹; Boutkan, OFris. et. dict. 319
(s. v. -rehtia); Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 402;
Richthofen, Afries. Wb. 985 (s. vv. reden¹, reden²); Fryske
wb. 17, 314 f.; Dijkstra, Friesch Wb. 3, 11; Fort, Sater-
fries. Wb.² 488; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 394; Lehmann,
Gothic Et. Dict. R-9. – Casaretto 2004: 262 f.
Urgerm. *raþi̯ōn- hat eine formale Entsprechung
in lat. ratiō f. ‚(Be-)Rechnung, (Geschäfts-)
Angelegenheit, Geschäft, Rechenschaft, Auf-
schluss, etc.‘.
Die beiden Formen ließen sich mit der von
Nussbaum 2006: 15–19 postulierten Analyse
des Suff. lat. -tiōn- zusammenbringen. Er geht
dabei von einer Ableitungskette *-ti- (Abstrak-
tum) → *-ti-h₁, eine Instr.bildung in adj. Ver-
wendung, → *-tih₁-on-, eine Abstraktbildung
aus, exemplarisch an *Haĝ-ti- ‚Aktion‘ →
*Haĝti-h₁ ‚aktiv‘ → *Haĝtih₁-on- ‚Handlung,
Aktivität, Aktion‘ dargestellt. Als Ableitung von
der Verbalwz. uridg. *reh₁- ‚zählen, rechnen‘
können urgerm. *raþi̯ōn- und lat. ratiō folgen-
dermaßen gebildet sein: *rh₁-ti- ‚(Be-)Rech-
nung‘ → *rh₁ti-h₁ ‚mit (Be-)Rechnung,
(be-)rechnend‘ → *rh₁tih₁-on- ‚(Be-)Rechnung‘
(zu schwundstufigen Bildungen vgl. lat. natiō f.
‚Geburt, Volk‘ < *ĝh₁-).
Abweichend setzt Lühr 2000: 50 als Vorform der germ.
und lat. Wörter uridg. *rh₁-ti-h₂-ōn- an, jedoch ohne die
morphologische Funktion von *-h₂- näher auszuführen.
Zwar kann ein *h₂ bei Abstraktbildungen auftreten, dann
bleibt aber die Weiterbildung mit dem Suff. *-ōn- unklar.
Der Nachteil einer Herleitung im Sinne Nuss-
baums ist jedoch, dass letztendlich die Bilde-
weise von got. garaþana ‚gezählt‘ ungeklärt
bleibt: Eine Trennung der Dentalbildung im
Subst. von der im Verb ist unwahrscheinlich.
Aus diesem Grund liegt die Annahme einer Ab-
leitung von urgerm. *raþi̯ōn- von einem st. V.
urgerm. *raþ(i̯)e/a- ‚zählen‘ näher. Das Subst.
ist dann von lat. ratiō etym. zu trennen (so auch
etwa Kroonen, Et. dict. of Pgm. 406).
Urgerm. *raþ(i̯)e/a- kann durch Reanalyse des
Verbaladj. *rh₁-tó- als *rh₁t-ó- entstanden sein
und so eine daraus abstrahierte Wz. *rh₁t- mit
einer Präs.bildung *rh́₁t-(i̯)e/o- voraussetzen.
Wenig überzeugend ist die Annahme eines uridg. t-Präs.
(vgl. dazu LIV² 20) *réh₁-te/o-, da diese Bildungen immer
betonte Vollstufe haben würden. Denn in diesem Fall
wäre urgerm. *-a- sekundär.
Bei allen Vorschlägen müsste eine analogische Syllabifi-
zierung nach danebenstehenden Formen mit *reh₁- ein-
getreten sein.
Auch got. us-alþans* ‚altersschwach geworden‘ könnte
letztendlich eine ähnliche reanalysierte Form *alþ- ←
*h₂t- ← *h₂-t- zugrunde liegen.
Die unerweiterte Verbalwz. uridg. *reh₁- kommt
verbal nur in lat. rērī ‚berechnen, meinen‘ (ent-
weder mit Weiterbildung zu einem i̯e/o-Präs.
aus vorurit. *réh₁-/h₁- oder unmittelbar aus
*réh₁-i̯e/o-) vor.
Anstelle des Ansatzes uridg. *reh₁- finden sich in der Li-
teratur auch Formen wie *h₂reh₁- (Kroonen, Et. dict. of
Pgm. 406) oder *h₁reh₁- (de Vaan, Et. dict. of Lat. 520),
um die isoliert stehende Wz. *reh₁- besser anzuschließen.
Argumente dafür fehlen.
Die Wz. uridg. *reh₁- ist wohl auch die Basis
der Erweiterung *reh₁-dh-, die in ahd. râtan ‚ra-
ten, zureden, beraten‘ (s. d.) fortgesetzt ist.
Walde-Pokorny 1, 73 f.; Pokorny 59; LIV² 499; Walde-
Hofmann, Lat. et. Wb. 2, 419. 429; Ernout-Meillet, Dict.
ét. lat.⁴ 570; de Vaan, Et. dict. of Lat. 519 f. – Schrijver
1991: 140. 307.
S. redôn.
RS