rêh n. a-St., seit dem Anfang des 9. Jh.s
in Gl.: ‚Reh, Alpensteinbock (?), Gemse (?),
Hirsch (?); campolus, caprea, capreolus, feles‘
(Capreolus capreolus L., vielleicht auch Capra
ibex L. und Rupicapra rupicapra L.) 〈Var.:
-ch〉. Das Wort ist auch Bestandteil von ON
(Förstemann [1900–16] 1966–68: 2, 2, 562 f.).
Die Bed. ‚Gaffel‘ erscheint wohl in Gl.
3,369,63, da hier Bootstermini glossiert sind;
die lat. Vorlage lus ist jedoch verderbt (vgl.
StSGl 3, 369 Anm. zur Stelle). – Mhd. rêch, rê
(-hes) st.n. ‚Reh‘, nhd. Reh n. ‚dem Hirsch ähn-
liches, aber kleineres, zierlicheres Tier mit kur-
zem Geweih, das vorwiegend in Wäldern lebt
und sehr scheu ist‘.
Ahd. Wb. 7, 777 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 733; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rēh; Schützeichel⁷ 256; Starck-Wells
476; Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 357 f.; Seebold,
ChWdW9 666. 1101; Graff 2, 385; Lexer 2, 358; Diefen-
bach, Gl. lat.-germ. 93 (campolus). 98 (caprea, capreo-
lus). 229 (felena); Dt. Wb. 14, 553 ff.; Kluge²¹ 591;
Kluge²⁵ s. v. Reh; ePfeifer, Et. Wb. s. v. Reh. – Palander
1899: 109–112; N. Thun, SNph 40 (1968), 105. 111 f.;
RGA² 24, 328–330.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. rê (ree, rhe; pl. -e, -he, rê [reͤ]) n. ‚Reh,
Braten vom Reh, junger weiblicher Hirsch‘;
frühmndl. ree (re) n. ‚Reh‘, nndl. ree (n.) ‚Reh,
Hirschkuh, Rentier‘: < westgerm. *rai̯χa-.
Unsicher bleibt, ob nwestfries. ree (m./f.)
‚Reh‘, saterfries. ree n. ‚dss.‘ ererbt oder aus
dem Ndl. bzw. Mndd. entlehnt sind (Hinweis
von R. Bremmer).
Die ahd. Form rêho m. ‚Rehbock‘ (s. d.) hat Pa-
rallelen in as. rēho m. ‚Reh‘, frühmndl. ree (re)
m. ‚Reh‘, run.-ae. (gen./dat.sg.) raïhan ‚des
Rehs/dem Reh‘ (Astragalus aus Caistor-by-
Norwich, frühes 5. Jh.), ae. rā, rāha m. ‚Reh‘
(Brunner 1965: §§ 134, 1. 277 Anm. 2), me. rō
(roe, rou, rae, [frühme., nordme.] rā, [frühme.]
roa, [frühme. in ON] rache, raghe) ‚dss.‘, ne.
roe ‚dss.‘ < westgerm. *rai̯χan-.
Daneben stehen fem. Formen: andfrk. rēa f.
‚Reh‘, frühmndl. ree (re) f. ‚Reh‘, mndl. ree (re)
(f.) ‚Reh, Rehbock, Hirschkuh‘, nndl. ree (f.)
‚Reh, Hirschkuh, Rentier‘; aisl. rá f. ‚Rehkuh‘
(mit analogischem Nom.Sg. rá anstelle von
lautlich zu erwartendem *rǫ́ nach dem Gen.Sg.
rár), nisl. rá f. ‚dss.‘ fär. rá- (in rádjór, rádýr
‚Reh‘), adän. ra, ndän. rå ‚dss.‘, nnorw. rå
‚dss.‘, älv. rå- (in rådiuor ‚Reh‘), aschwed. ra,
nschwed. rå ‚dss.‘ < urgerm. *rai̯χō-.
Zu dem ahd. Wort reiga f. ‚Reh, Ricke‘ (s. d.)
gehört ae. rǣge f. ‚Rehkuh, Ricke‘, me. ræghe
‚dss.‘, die auf westgerm. *rai̯gii̯ōn- beruhen.
In den Wörterbüchern und auch teilweise in der Literatur
findet sich anstelle von ahd. reiga als Lemmatisierung
die Form rêia. Dieser Ansatz ist jedoch kaum zutreffend,
wie die Überlieferung in Gl. 3,684,68 als 〈reiga〉 und die
beiden Notkerbelege (nom.sg.) 〈réia〉 zeigen. Auch die
mehrfachen Belege 〈rêion〉 in WH sind kein Anzeichen
für einen Langvokal, da hier der Diphthong generell mit
einem Zirkumflex gekennzeichnet wird, vgl. etwa 〈hêili-
gon〉, 〈schêinet〉 oder 〈gehêizzan〉 (vgl. dazu Nievergelt-
Schuhmann [in Vorbereitung]).
Fick 3 (Germ.)⁴ 332; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 402 f.;
Tiefenbach, As. Handwb. 310; Wadstein, Kl. as.
Spr.denkm. 214; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2,
1889; ONW s. v. rēa; VMNW s. v. ree¹; Verwijs-Verdam,
Mndl. wb. 6, 1166 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 539;
Vries, Ndls. et. wb. 567; Et. wb. Ndl. Ke-R 638; WNT s. v.
ree¹; Fryske wb. 17, 320 (ree¹); Fort, Saterfries. Wb.²
488; Holthausen, Ae. et. Wb. 253. 254; Bosworth-Toller,
AS Dict. 780. 784; eMED s. vv. ræghe n., rō n.¹; Klein,
Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2, 1353 f.; eOED s. v.
roe n.¹; Vries, Anord. et. Wb.² 430 (rá³); Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 701; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 1;
ONP s. v. rá²; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 222
(rá²); Magnússon, Ísl. Orðsb. 736 (rá³); Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 2, 864 (raa¹). 1529 (raa¹); Nielsen,
Dansk et. ordb. 356 (rå¹); Ordb. o. d. danske sprog 17,
236 f. (raa¹); Bjorvand, Våre arveord² 914 f. (rå²); Torp,
Nynorsk et. ordb. 519 (raadyr); NOB s. v. rå; Hellquist,
Svensk et. ordb.³ 2, 861 (rå⁴); Svenska akad. ordb. s. v. rå
subst.⁵. – RGA² 4, 323; Düwel 2008: 71.
Westgerm. *rai̯χa- hat ebensowenig wie die
anderen germ. Rekonstrukte eine unmittelbare
Anbindung in den sonstigen idg. Sprachen. Aus
diesem Grund bleibt auch die weitere Etym.
schwierig.
Wenn man als Benennungsmotiv von der Fell-
farbe des Tieres, die in der Abenddämmerung
als ‚grau‘ empfunden werden kann, ausgeht, ist
eine Verbindung mit dem Adj. nir. riach ‚grau‘
denkbar. Letzteres kann auf vorurkelt. *(H)rei̯ko-
zurückgeführt werden. Auf der Basis des von S.
Neri (Kratylos 61 [2016], 30. 34) aufgezeigten
Musters, nach dem ein Subst. aus einem Adj.
durch Einführung der o-Stufe und Akzentver-
schiebung gebildet wird, können westgerm.
*rai̯χa- und urgerm. *rai̯χō- < vorurgerm.
*(H)rói̯-ko-/-ah₂- Substantivierungen eines
Adj. vorurgerm./vorurkelt. *(H)rei̯-kó- sein (zum
Adj. bildenden Suff. uridg. *-ko- vgl. Krahe-
Meid 1969: 3, § 144).
Als Ableitungen von der daraus zu erschließen-
den Wz. uridg. *(H)rei̯- kommen semantisch
auch die folgenden Wörter, die mit unterschied-
lichen Suff. gebildet sind, in Frage: lit. ráibas,
raĩbas adj. ‚graubunt, gesprenkelt‘, lett. raibs
[ràibs] adj. ‚bunt, fleckig, scheckig‘, apreuß.
roaban adv. ‚gestreift‘ (zur Schreibung 〈oa〉
vgl. J. H. Larsson, FS Klingenschmitt 2005:
364), lit. ráinas, raĩnas adj. ‚grau und schwarz
gestreift, graubunt‘, lett. raĩns adj. ‚bunt ge-
streift‘ (vielleicht ein Lehnwort aus dem Lit.)‚
lit. ráimas, raĩmas adj. ‚graubunt, gesprenkelt‘,
ráivas ‚dss.‘.
Die Zugehörigkeit der balt. Wörter ist aber um-
stritten. Sie werden neben der oben angeführten
Anbindung an die Wz. uridg. *(H)rei̯- auch mit
der Verbalwz. uridg. *u̯rei̯- ‚(sich) drehen‘ oder
*h₃rei̯H- ‚wallen, wirbeln‘ verknüpft (vgl. die
Angaben in ALEW 2, 837).
Teilweise findet sich in der Literatur eine Verknüpfung
der balt. Wörter mit aruss. rjábyj, rjábój, russ. (dial.)
rjabój ‚bunt, gefleckt‘, wruss. rjáby, ukrain. dial. rjabýj
‚dss.‘ (vgl. u. a. Vasmer, Russ. et. Wb. 2, 561). Die For-
men gehen aber auf (vor-)urslaw. *remb- > gemeinslaw.
*ręb- zurück und gehören innerslaw. mit nruss. dial.
rjab’ m. ‚Haselhuhn‘ und dann weiter mit alit. jerub f.
‚dss.‘, ėrub f. ‚Birkhuhn, Haselhuhn‘ zusammen. Diese
Gruppe ist an die Wz. uridg. *h₂oron- (oder *h₃eron-)
‚Adler‘ (s. aro) anzubinden (vgl. dazu ALEW 1, 414 f.).
Eher unwahrscheinlich ist eine mögliche Zugehörigkeit
von air. ríab f. ‚Streifen‘, da dies wohl eine Var. von
sríab f. ‚Streifen, Linie‘ ist.
Wenig wahrscheinlich ist die von Specht 1944: 37 f. vorge-
schlagene Verbindung mit ved. śya- m. ‚Antilopenbock‘
(vgl. Mayrhofer, KEWA 1, 124 f.; ders., EWAia 1, 260).
Walde-Pokorny 2, 346; Pokorny 859; Trautmann, Balt.-
Slav. Wb. 235 f.; Derksen, Et. dict. of Slav. 435; Vasmer,
Russ. et. Wb. 2, 561; ders., Ėt. slov. russ. jaz. 3, 535;
Fraenkel, Lit. et. Wb. 2, 686 f.; Smoczyński, Słow. et.
jęz. lit.² 990 f.; ALEW 2, 837; Mühlenbach-Endzelin,
Lett.-dt. Wb. 3, 468 f. 470; Karulis, Latv. et. vārd. 2, 99 f.;
Trautmann, Apreuß. Spr.denkm. 416; Mažiulis, Apreuß.
et. Wb.² 792; Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. R-25; eDIL
s. vv. ríab, sríab. – B. Kabašinskaitė, G. Klingenschmitt,
Baltistica 39 (2004), 97 f.
RS