reichen
Band VII, Spalte 333
Symbol XML-Datei TEI Symbol PDF-Datei PDF Zitat-Symbol Zitieren

reichen sw.v. I, im Clm. 6300 (Ende
8./Anfang 9. Jh., bair.; vgl. Mayer 1974: 76;
Glaser 1996: 226 f.), Hs. Paris, lat. 8318 (11.
Jh., alem. und rheinfrk.; vgl. Tiefenbach 1977:
27. 61) und bei NMC, Nm, Npw: ‚sich weit
erstrecken, sich (auf etw.) beziehen, auf etw.
zielen, etw. (herbei-)holen, bringen, nach etw.
greifen, langen, etw. über ein bestimmtes Maß
hinaus dehnen; corripere, irrogare, pertinēre,
spectare‘ 〈Var.: -ch-, -h-, -g-〉. Da im Frk. die
Schreibung 〈g〉 für h vorkommt (vgl. Tiefen-
bach 1977: 47 [mit Fn. 309]; Franck [1909]
1971: § 106, 2), ist der in der Literatur mehr-
fach anzutreffende Ansatz zweier Lemmata
(reigen neben reichen) unnötig. – Mhd. reichen
(reigen) sw.v. ‚erreichen, erlangen, wonach
langen‘, frühnhd. reichen sw.v. ‚holen, erlan-
gen, (refl.) sich erstrecken‘, nhd. reichen sw.v.
‚jmdm. etw. zum Nehmen hinhalten, [einem
Gast] servieren, anbieten, in genügender Menge
für einen bestimmten Zweck o. Ä. vorhanden
sein, in genügender Menge bis zu einem be-
stimmten Zeitpunkt zur Verfügung haben, ohne
dass es vorher aufgebraucht wird, mit etw. aus-
kommen, sich bis zu einem bestimmten Punkt
erstrecken‘.

Ahd. Wb. 7, 853 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 748; eKöbler,
Ahd. Wb. s. vv. reigen, reihhen¹; Schützeichel⁷ 257 (reigen,
reihhen); Starck-Wells 478 (reigen, reihhen); Schütz-
eichel, Glossenwortschatz 7, 370 (reigen, reihhen);
Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 523. 750; Seebold,
ChWdW8 238. 429. 505; Graff 2, 396; Lexer 2, 384 f.;
Götze [1920] 1971: 175; Dt. Wb. 14, 584 ff.; Kluge²¹ 592;
Kluge²⁵ s. v. reichen; ePfeifer, Et. Wb. s. v. reichen. –
DRW 11, 595 ff.; Riecke 1996: 556 f.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. rêiken (rei[c]ken, reyken) sw.v. ‚sich er-
strecken, hingelangen, erreichen, übergeben,
darreichen‘; andfrk. reiken sw.v. ‚(dar-)reichen‘
(nur imper.sg. rek mit afries. [?] Monophthong),
frühmndl. reiken sw.v. ‚ausdehnen, strecken‘,
mndl. reiken (re[e]ken) sw.v. ‚(aus-)strecken,
geben, überreichen, holen, bemächtigen, mit
der Hand erreichen‘, nndl. reiken sw.v. ‚reichen,
langen (nach)‘; afries. rēka, -rētza sw.v. ‚geben,
übergeben, überreichen, gewähren, leisten, in
Zahlung geben, zahlen, bezahlen, entrichten,
voranbringen, treiben, erreichen, ergeben (eine
Summe)‘ (zur möglichen fehlenden Palatalisie-
rung bei den sw. V. I vgl. Bremmer 2009: 79),
nwestfries. rikke (reke) sw.v. ‚die Hand ausstre-
cken, sich erstrecken, erreichen, bieten‘, sater-
fries. räkke sw.v. ‚strecken, recken, dehnen,
langen, reichen, erreichen, genügen‘, nnord-
fries. reeke ‚reichen‘ (s. u.); ae. rǣcan sw.v.
‚ausstrecken, reichen, anbieten, bringen, geben,
gewähren, sich erstrecken‘, me. rēchen (rech[e],
rec[h]che[n], retchen, reiche[n], rachche,
frühme. reach[e][n], ræchen) sw.v. ‚ausstre-
cken, nehmen, halten, greifen, anlangen, geben,
gewähren, verstehen, begreifen, ausdehnen‘,
ne. reach sw.v. ‚(er-)reichen, erzielen, eintref-
fen, ausreichen, sich erstrecken‘: < westgerm.
*rakie/a-.

Zur Unsicherheit, ob die Belege von afries. rēka wenigs-
tens teilweise auch Fortsetzer von urgerm. *rake/a- sind,
s. recken. Im Saterfries. und Nnordfries. sind die Konti-
nuanten von westgerm. *rakie/a- wohl teilweise mit de-
nen von bed.verwandtem urgerm. *rake/a- (s. recken)
zusammengefallen.

Innerhalb des Germ. stellt man regelmäßig aisl.
reik f. ‚Scheitellinie, Kopf‘, nisl. reik f. ‚Schei-
tellinie‘, fär. reikur f. ‚dss.‘, nnorw. reik ‚Strich,
Linie‘, norn reg ‚(Scheitel-)Linie‘, nschwed.
dial. rek, gotl. raik ‚Scheitel‘ (< nordgerm.
*ra-) hinzu, was wegen der Bed. offen blei-
ben muss. Eine Verbindung ist über die seltene
Bed. ‚Kopf‘ als ‚das, was (am weitesten) ausge-
streckt ist‘ jedoch denkbar.

Fick 3 (Germ.)⁴ 342; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb.
2, 2, 2004 f.; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 3, 456; ONW
s. v. reiken; VMNW s. v. reiken; Verwijs-Verdam, Mndl.
wb. 6, 1214 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 542; Vries,
Ndls. et. wb. 569; Et. wb. Ndl. Ke-R 646; WNT s. v. rei-
ken; Boutkan, OFris. et. dict. 317; Hofmann-Popkema,
Afries. Wb. 399 (rēka²); Richthofen, Afries. Wb. 990 f.;
eFryske wb. s. v. rikke; Dijkstra, Friesch Wb. 3, 24;
Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnordfries. 164 (reeke²); Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 252; Bosworth-Toller, AS Dict. 781;
Suppl. 683; eMED s. v. rēchen v.¹; Klein, Compr. et. dict.
of the Engl. lang. 2, 1306; eOED s. v. reach v.¹; Vries,
Anord. et. Wb.² 438 (reik¹); Jóhannesson, Isl. et. Wb. 702;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 63; ONP s. v.
reik¹; Jónsson, Lex. poet. 462 (reik¹); Holthausen, Vgl. Wb.
d. Awestnord. 225 (reik¹); Magnússon, Ísl. Orðsb. 749;
Torp, Nynorsk et. ordb. 522 f.; NOB s. v. reik; Jakobsen,
Et. dict. of the Norn lang. 2, 687 (reg¹); Svenska akad.
ordb. s. v. rek¹.

Westgerm. *rakie/a- ist eine Iterativbildung
zur Wz. uridg. *reĝ- ‚(sich) strecken, recken‘,
von der zwei Präs.bildungen in lit. réižti
‚(Körperteil) recken, straffen, stolz einher-
schreiten‘, air. rigid ‚ausstrecken, herrschen‘,
mbret. re ‚führt‘ (< uridg. *ĝ-/riĝ-) und lit.
(Neubildung?) rìžti ‚sich sträuben, zu Berge
stehen (vom Haar)‘, air. *-ringi ‚foltert‘
(3.pl.prät. -ringset) (< uridg. *ri-/n-ĝ-) fort-
gesetzt sind.
Wohl ebenfalls hierher gehört lat. rigēre ‚star-
ren, steif sein, sich sträuben (vom Haar)‘, falls
< uridg. *riĝ-h₁é/ó-.

Zur Frage einer möglichen Verbindung mit der Wz.
uridg. *h₃reĝ-, die sich mit *reĝ- semantisch teilweise
überlappt, s. recken.

Walde-Pokorny 2, 347 f.; Pokorny 862; LIV² 503; Add.
s. v. *reĝ-; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 2, 434; Ernout-
Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 573; de Vaan, Et. dict. of Lat. 523;
Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 242; Derksen, Et. dict. of
Balt. 380; Fraenkel, Lit. et. Wb. 2, 715. 741; Smoczyński,
Słow. et. jęz. lit.² s. v. réižtis; Fick 2 (Kelt.)⁴ 231; Matasović,
Et. dict. of Proto-Celt. 312 f.; Schumacher, Kelt. Primär-
verb. 543 ff.; Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. R-13 f. 26.
33; eDIL s. vv. rigid¹, ringid.

RS


____________

Information

Band VII, Spalte 333

Zur Druckfassung
Zitat-Symbol Zitieren
Symbol XML-Datei Download (TEI)
Symbol PDF-Datei Download (PDF)

Lemma:
Referenziert in: