reizen¹
Band VII, Spalte 364
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reizen¹ sw.v. I, in NBo, NMC, Nps und
Gl. 1,626,6 (12. Jh.); 2,548,10 (11. Jh.);
4,203,57 (1. Drittel des 11. Jh.s, mfrk.): ‚erre-
gen, hervorrufen, treiben, antreiben, herausfor-
dern; concitare, exercēre, irritare, laedere, mo-
vēre, provocare, pulsare‘, reizen zi fehtanne
‚zum Kampf herausfordern; ad certamen pro-
vocare‘ 〈Var.: -zz-〉. – Mhd. rei(t)zen, reis(s)en
(prät. reiz[e]te, reizte, reiste) sw.v. ‚(an-)reizen,
antreiben zu etw., erregen, anregen, locken‘,
frühnhd. reizen sw.v. ‚heraufbeschwören [Un-
glück, Schicksal]‘, nhd. reizen sw.v. ‚herausfor-
dern, provozieren, ärgern, als schädlicher Reiz
auf einen Organismus einwirken, jmds. Auf-
merksamkeit erregen, verlocken, bezaubern‘.

Ahd. Wb. 7, 886 (reizen²); Splett, Ahd. Wb. 1, 761; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. reizen¹; Schützeichel⁷ 258; Starck-Wells
480; Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 382; Bergmann-
Stricker, Katalog Nr. 402. 681. 877; Graff 2, 558; Lexer
2, 401 f.; Götze [1920] 1971: 176; Diefenbach, Gl. lat.-
germ. 139 (concitare). 310 (irritare). 468 (prouocare);
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 99 (s. v. certamen). 126 (conci-
tare). 238 (exercēre). 415 (movēre). 536 (provocare).
540 (pulsare); Dt. Wb. 14, 794 ff.; Kluge²¹ 595; Kluge²⁵
s. v. reizen; ePfeifer, Et. Wb. s. v. reizen. – Sehrt-Legner
1955: 413. – Riecke 1996: 557 f.; Braune-Heidermanns
2018: § 160 Anm. 4b.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. reyten (s. auch u.), neben (aus dem Hd.
entlehnten) rêissen (reisen, resen), reyssen
(reysen), rê(i)zen, rê(i)schen, reyschen, reyzen
(reytzen) sw.v. ‚anregen, veranlassen, reizen,
erzürnen, verführen, verlocken, aufwiegeln,
aufhetzen, (refl.) sich auflehnen gegen‘; aisl.
reita sw.v. ‚reizen, locken, aufhetzen‘, nisl.
reita sw.v. ‚in Wut versetzen, aufregen‘, fär.
reita sw.v. ‚erzürnen, provozieren, aufregen,
aufwühlen‘, nnorw. (nn.) reite sw.v. ‚in Reihen
setzen, reizen, anregen‘, dial. auch vreita sw.v.
‚Erde umgraben, wütend machen, ärgern, rei-
zen‘, aschwed. reta sw.v., nschwed. reta sw.v.
‚reizen, ärgern, necken, hänseln‘, älv. rieta
sw.v. ‚dss.‘.
Die Wortgruppe wird in der Literatur zumeist
auf urgerm. *ratie/a- zurückgeführt, ein
Kaus. zu urgerm. *rete/a- ‚ritzen‘. Dabei
nimmt man eine übertragene Bed. von ‚reißen
machen‘ i. S. v. ‚machen, dass jmd. aus sich her-
ausgeht‘ an. Lautlich ist eine einheitliche Vor-
form für alle Belege aber kaum möglich; viel-
mehr sind offenbar zwei bedeutungverwandte
germ. Wortgruppen zusammengefallen, nämlich
einerseits urgerm. *ratie/a-, andererseits ur-
germ. *χratie/a-. Von den oben genannten Ver-
ben gehen die schwed. und wohl auch die mndd.
Formen auf urgerm. *χratie/a-, die nnorw.
dial. Formen auf urgerm. *ratie/a- zurück.
Bei den anderen ist eine Entscheidung nicht
möglich, da in diesen Sprachen sowohl urgerm.
*- wie auch *χ- im Anlaut vor r schwindet.
Der gleiche Zusammenfall findet sich in den
germ. Sprachen auch bei den Kontinuanten der
jeweiligen Ableitungsbasis, urgerm. *rete/a-
‚ritzen‘ und urgerm. *χrete/a- ‚reißen‘ (s. dazu
s. v. rîzan).

Eine einheitliche Vorform urgerm. *ratie/a- wäre nur
dann denkbar, wenn mndd. reyten eine aus entlehntem
rêissen sekundär wieder verniederdeutschte Form und
schwed. reta aus ebendieser Form entlehnt ist.
Einfacher ist die Rückführung sämtlicher Formen auf ur-
germ. *χratie/a-; dann wäre lediglich nnorw. dial. vreita
sekundär von urgerm. *rete/a- beeinflusst; dafür könn-
ten die nur im Norw. bezeugten Bed. ‚Erde umgraben‘
und ‚in Reihen setzen‘ sprechen.
Abweichend verbinden Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 1,
719 (übernommen von Kluge²⁵ s. v. reizen; Riecke 1996:
557 f.) die germ. Gruppe mit lett. raidīt [raĩdît] ‚hetzen‘
und weiter mit lat. irritāre ‚erregen, reizen, anreizen‘.
Lett. raidīt schließt sich aber besser an uridg. *redh-
‚sich schwankend bewegen‘ an (s. rîtan). Lat. irritāre ge-
hört letztendlich zur Wz. uridg. *h₃reH- ‚wallen, wir-
beln‘ (dazu s. rinnan). Dazu könnten die germ. Formen
zwar ebenfalls als Kaus.bildung eines d-Präs. (oder einer
Dentalerweiterung?) uridg. *h₃réH-de/o- gehören; da
eine solche aber sonst nicht nachweisbar ist, ist diese
Etym. weniger wahrscheinlich; auch hier wäre die
nnorw. dial. Form mit v- durch sekundären Einfluss von
urgerm. *rete/a- entstanden.

Fick 3 (Germ.)⁴ 418; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 594;
Seebold, Germ. st. Verben 567; Tiefenbach, As. Handwb.
310 (nur mit einem ahd. Beleg); Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. 2, 2, 2069; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 3, 453;
Vries, Anord. et. Wb.² 439; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 155;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 69; ONP s. v.
reita²; Jónsson, Lex. poet. 463; Holthausen, Vgl. Wb. d.
Awestnord. 226; Magnússon, Ísl. Orðsb. 751; Torp, Ny-
norsk et. ordb. 524; NOB s. v. (nn.) reite; NOBFM s. v.
reita; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 831; Svenska akad.
ordb. s. v. reta¹.

RS

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