rêo m./n. wa-St. (sekundär auch mit Pl.
rêwir nach den *-iz-/*-az-St.), seit dem 4. Vier-
tel des 8. Jh.s in Gl. und in MH, bei O: ‚Leich-
nam, Leiche, Kadaver, Grab, Tod, Begräbnis;
cadaver, exsequiae, feretrum, funus‘ 〈Var.: hr-;
re; -eh〉. – Mhd. rê, -wes st.m./n. ‚Leichnam,
Tod, Mörder‘, frühnhd. re-, re(c)h- (in re-,
re[c]hfle[c]k m. ‚Totenfleck[en], Flecken, die
den nahen Tod anzeigen‘), nhd. dial. schweiz.
rê(h)- (u. a. in rêbrëtt n. ‚Brett, auf dem der
Leichnam liegt und das nach der Beerdigung
öffentlich aufgestellt wird‘, rêhbâr f. ‚Toten-
bahre‘), schwäb. re m. ‚Tod‘, bair. rê m. ‚Lei-
che‘, tirol. reach-, reaf- (in reach-, reafprẹit n.
‚Leichenbrett‘, auch rechtuεch ‚Leichentuch‘),
steir. rech m. ‚Leichnam‘, thür. reh- (in rehfleck
n. ‚blaugelbliches Hautmal bei Fieberkranken
[bes. bei Kindern], das den baldigen Tod an-
zeigt‘), (unsicher wegen der abweichenden
Bed.) schlesw.-holst. rei n. ‚Gerippe‘.
Ahd. Wb. 7, 912 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 743; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rēo; Schützeichel⁷ 259; Starck-Wells 481;
Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 390; Seebold,
ChWdW8 239. 369; ders., ChWdW9 674. 1031; Graff 4,
1131 f.; Lexer 2, 355 f.; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 282
(funus). – Braune-Heidermanns 2018: §§ 43 (und Anm.
3a). 153. 197 Anm. 3. 204 (und Anm. 1. 4). – Schweiz.
Id. 4, 1432. 325 (†re-wund); 5, 906; Fischer, Schwäb.
Wb. 5, 196; 6, 2 Nachtr. 2766; Schmeller, Bayer. Wb.² 2,
1; Schöpf, Tirol. Id. 541; Schatz, Wb. d. tirol. Mdaa. 2,
476; Unger-Khull, Steir. Wortschatz 495; Spangenberg,
Thür. Wb. 5, 100; Mensing, Schleswig-holst. Wb. 4, 73. –
DRW 11, 982 f.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen: as.
hrē(u) n. ‚Leichnam‘; andfrk. (nur als KVG)
rēo- in der Lex Salica und im Pactus Legis Sa-
licae (u. a. in rēoburga ‚Leichengewölbe‘ und
rēowleta ‚tropfende Wunde‘), mndl. (nur als
KVG) ree- (n./m. [?]) ‚Leiche‘ (nur in reeroof
[reroof, rerof, reeurof, reeruoft, reeroift] m.
‚Leichenraub, Leichenberaubung‘; reerover
[re, reeu-, reu-] m. ‚Leichenräuber, Leichenbe-
rauber‘), nndl. reeuw, ree n./m. ‚Leiche, Lei-
chengeruch, Todesschweiß, Gestank‘; afries.
(nur als KVG) hrē- (in hrērāf, hrēesrāf n. ‚Lei-
chenraub‘ sowie im unklaren hrēlīk n. [?] [viel-
leicht aber auch ein entstelltes Adv. hrēlīke [?]
‚[wie eine] Leiche‘ (?)]); ae. hrǣw, hrāw m./n.
‚Körper, Leiche‘; aisl. hrǽ n. ‚Leichnam, (pl.)
Leichenfleisch, Wrack, Bruchstück‘, nisl. hræ
n. ‚Kadaver‘, fär. ræ n. ‚Kadaver, Leichnam,
lange, dünne Person‘, nnorw. dial. ræ n. ‚toter
Körper, Kadaver, Aas‘, langob. rai- (in rairaub
‚Leichenraub‘): < urgerm. *χrai̯u̯a-.
Dazu gehört wahrscheinlich auch got. hraiwa-
in hraiwadubo* f. ‚Turteltaube‘, wobei das Mo-
tiv der Benennung aber unsicher bleibt. Am
wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass die
Taube (wie der Rabe; vgl. dazu aisl. hrǽgammr
m. ‚Rabe‘) ein Totenvogel ist; vgl. dazu die Be-
schreibung von Paulus Diaconus, hist. lang. 5,
34 nach der bei den Langobarden neben Grä-
bern Stangen mit Taubendarstellungen aus
Holz aufgestellt wurden (vgl. P. Scardigli, in
Beck u. a. 1992: 425). Andere Benennungsmo-
tive, wie etwa als ‚Bluttaube‘ (so Grienberger
1900: 119) sind weniger naheliegend.
Aus dem Nordgerm. wurde das Wort als finn.
räivä ‚schlechtes Ding, an den Strand gespülte
Reste von Gewächsen, armer Mensch, Schurke,
Gauner; frivol, unanständig‘ und vielleicht
auch in estn. raibe, rõibe, reibe ‚Aas, Kadaver‘
entlehnt.
Unsicher bleibt, ob der a-St. urgerm. *χrai̯u̯a-
auf einem vorausliegenden s-St. *χrai̯u̯a/iz- be-
ruht oder ob ein solcher daneben bestand. Die
meiste Beweiskraft für den Ansatz eines ur-
germ. s-St. hat die ae. Form hrǣw, die auf
*χrai̯u̯iz- zurückgehen kann (so etwa angesetzt
von W. v. Unwerth, PBB 36 [1910], 3; Brunner
1965: §§ 250 Anm. 1. 288 Anm.; Hogg 1992:
69; Hogg-Fulk 2011: 24; RGA² 18, 234). Die
weiteren, als Beweis eines ehemaligen s-St. an-
geführten Formen sind dagegen wenig aussage-
kräftig: Die ahd. Pl.form auf -ir kann, wie häufi-
ger, sekundär sein und die estn. Form auf -e ist
mehrdeutig (vgl. dazu Casaretto 2004: 165).
Doch ist denkbar, dass urgerm. *χrai̯u̯a/iz- eine
sekundäre, analogische Bildung nach dem se-
mantisch nahestehenden urgerm. *χrefa/iz ‚Leib,
Unterleib‘ (s. ref) ist (so RGA² a. a. O.).
Fick 3 (Germ.)⁴ 101; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 242;
Tiefenbach, As. Handwb. 181; Sehrt, Wb. z. Hel.² 271 f.;
Berr, Et. Gl. to Hel. 200 f.; ONW s. v. *rēo; Verwijs-Verdam,
Mndl. wb. 6, 1168. 1178 f.; Vries, Ndls. et. wb. 568; WNT
s. vv. ree⁴, reeuw¹; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 233;
Richthofen, Afries. Wb. 828. 992; Holthausen, Ae. et. Wb.
172; Bosworth-Toller, AS Dict. 556; Suppl. 562 f.; Vries,
Anord. et. Wb.² 263; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 230. 841;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 70 f.; ONP s. v.
hrǽ; Jónsson, Lex. poet. 288 f.; Holthausen, Vgl. Wb.
d. Awestnord. 130; Magnússon, Ísl. Orðsb. 383; Torp,
Nynorsk et. ordb. 558; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 269 f.;
Lehmann, Gothic Et. Dict. H-93; Bruckner, Spr. d.
Langob. 104. 132. 162. 178. 210; Rhee, Die germ. Wörter
i. d. langob. Gesetzen 40. 111 f.; Kylstra, Lehnwörter 3,
202 f. – RGA² 18, 233–236; Francovich Onesti 2000:
112 f.; Casaretto 2004: 164 f. 218 f.
Urgerm. *χrai̯u̯a- hat keine gesicherte Etym.
Dies hängt damit zusammen, dass es keine un-
mittelbaren Entsprechungen in anderen idg.
Sprachen gibt und sämtliche Etym. mit Zusatz-
annahmen verbunden sind.
Es stehen sich mehrere Vorschläge gegenüber:
1. Anbindung an die Verbalwz. uridg. *kreh₁(i̯)-
‚sieben, trennen‘; vgl. das Nasal-Infix-Präs.
uridg. *kri-né/n-h₁- > gr. κρνω ‚scheide, trenne,
entscheide‘ (aus dem Stamm *krin- + Suff.
*-i̯e-), lat. cernere ‚sieben, scheiden, unterschei-
den‘, air. ar-a:chrin ‚geht zugrunde‘ (vgl. LIV²
366 f.). Dabei wäre die gleiche Bed.entwicklung
wie im Air. (vgl. dort air. crín ‚altersschwach‘ <
uridg. *krih₁-no- ‚durchsiebt‘) auch für das
Germ. vorauszusetzen. Für das Germ. müsste
aber, anders als im Air., von einer neuen Voll-
stufe *krei̯h₁- ausgegangen werden, die über die
Schwundstufe *krh₁i- mit darauffolgender La-
ryngalmetathese zu *krih₁- vor Konsonant und
neuer Vollstufe *krei̯h₁- entstanden ist; diese
neue Vollstufe ist im Germ. belegt in ae. hrīdder
n. ‚Sieb‘); urgerm. *χrai̯u̯a- ginge dann auf vor-
urgerm. *krói̯(h₁)-u̯o- zurück.
Die Argumentation gegen diese Verbindung in RGA² 18,
234 überzeugt nicht, da dort eine Grundbed. ‚abgezogene
Haut‘ angenommen wird. Ebd., 235 (und nachfolgend
bei Casaretto 2004: 164) werden die germ. Wörter zwar
ebenfalls mit air. crín ‚altersschwach‘ zusammengestellt,
aber auf voreinzelsprachliches *k̂rei̯H- zurückgeführt.
Diese Wz. wird dann mit der Verbalwz. uridg. *k̂erh₂-
‚brechen, zerbrechen‘ in Beziehung gesetzt. Die air. For-
men sind aber besser zu *kreh₁(i̯)- zu stellen (vgl. die An-
gaben in LIV² 367).
2. Lühr (2000: 80) führt urgerm. *χrai̯u̯a- <
vorurgerm. *kroi̯-u̯o- auf eine Farbwz. vorur-
germ. *kr-ei̯- ‚dunkel‘ zurück, eine Erweite-
rung mit *-ei̯- zu der in ahd. horo ‚Erde, Brei,
Schlamm, Morast, Schmutz‘ (s. d.) bezeugten
Wz. *ker-ku̯- ‚dunkel, schmutzig‘. Das Benen-
nungsmotiv wäre dabei die dunkle Farbe von
Leichen. Formal spricht nichts gegen diese
Etym. Doch ist eine Farbwz. *kr-ei̯- sonst
nicht belegt. Der in RGA² 18, 234 geäußerte
Einwand, dass daraus die im Nordgerm. beleg-
ten Bed. ‚Wrack, Bruchstück‘ nicht erklärbar
seien, ist hinfällig. Diese Bed. können etwa
über eine vermittelnde Zwischenbed. ‚Dreck-
klumpen‘ aufgekommen sein.
3. Zuletzt hat Kroonen, Et. dict. of Pgm. 242
wieder die Anbindung an die Wz. uridg. *kreu̯h₂-
‚(geronnenes) Blut, Blut außerhalb des Körpers‘
(vgl. dazu NIL 444 ff.; s. rô) vorgeschlagen. In
diesem Fall wäre bei einer Vorform *krou̯(h₂)-
i̯o- (> ved. kravyá- ‚blutig‘, lit. kraũjas m.
‚Blut‘, apreuß. crauyo, krawia ‚dss.‘ [zur wei-
teren Etym. dieser Gruppe s. rô]) eine Meta-
these *-u̯i̯- > *-i̯u̯- eingetreten. Aber einerseits
ist die semantische Entwicklung nicht offen-
sichtlich, andererseits auch die Annahme einer
solchen Metathese schwierig (das von Kroonen,
a. a. O. angeführte einzige weitere Beispiel für
eine solche Metathese – urgerm. *fraiwa- ‚Sa-
men‘ – bleibt letztendlich unsicher).
E. A. Ebbinghaus, GL 16 (1976), 9–13 hatte
hraiwa- in got. hraiwadubo* von der Gruppe
um ahd. rêo getrennt und für das got. Wort eine
Anbindung an die Verbalwz. uridg. *(s)ker-
‚Schallnachahmung für heisere, raue Töne‘
vorgeschlagen, die in ahd. skrîan ‚schreien‘
(s. d.) < urgerm. *skrei̯e/a- vorliegt (vgl. ohne
s-mobile aisl. hrína ‚schreien [vom Schwein]‘
< urgerm. *krei̯ne/a-); zur Wz. vgl. Pokorny
567 ff. (auch weitere nicht dorthin gehörige
Wörter). Got. hraiwa- könnte dann entweder
ein Adj. ‚schreiend‘ oder ein Subst. (sowohl
o- als auch n-St.) ‚Geschrei‘ sein (zu den Ver-
wendungsweisen des Suff. urgerm. *-u̯o- vgl.
Krahe-Meid 1969: 3, § 77). Eine Zusammen-
stellung von der Gruppe um ahd. rêo und got.
hraiwa- ist bei dieser Etym. aber auch möglich,
wenn man von einer Metonymie ausgeht und
annimmt, dass die Bezeichnung der Schreie
beim Tode eines Menschen auch zur Benen-
nung des Toten selbst verwendet wurden.
Wenig wahrscheinlich ist mit E. Polomé, FS Risch 1986:
667 die Annahme eines Substratwortes.
Abzulehnen ist die Verbindung von urgerm. *χrai̯u̯a- mit
mir. (indeklinabel) crí ‚Körper‘ (so Fick 2 [Kelt.]⁴ 97), da
dieses Wort nicht auf urkelt. *krei̯u̯o- beruht, sondern zu
lat. corpus n. ‚Leib, Körper‘ und damit auch zu urgerm.
*χrefa/iz- ‚Leib, Unterleib‘ (s. ref) gehört (vgl. Matasović,
Et. dict. of Proto-Celt. 224; Vendryes, Lex. ét. de l’irl.
anc. C-233; de Bernardo Stempel 1999: 31).
Walde-Pokorny 1, 479; 2, 585.
RS