rêrên sw.v. III, seit dem 3. Viertel des 8.
Jh.s in Gl., neben einmaligem rêrôn (nur in Gl.
2,703,22, geschrieben als 〈rfrpn〉 [die Lesung
wurde überprüft und bestätigt von A. Nievergelt],
ca. 1000 oder Mitte des 11. Jh.s, mfrk.): ‚röh-
ren, schreien, brüllen, blöken; balare, miccire
(?), rudere‘. In der neueren Literatur und in den
Wörterbüchern wird das Verb einheitlich und
unter Vernachlässigung von Gl. 2,703,22 als
rêren sw.v. I angesetzt. Aber schon die mfrk.
Form rerôn in Gl. 2,703,22 weist darauf, dass
die Belege mit -e- der sw. v. III und nicht I an-
gehören (vgl. dazu Braune-Heidermanns 2018:
§ 369 Anm. 2), da ein Schwanken zwischen
den Klassen I und II selten ist (vgl. Braune-
Heidermanns, a. a. O. Anm. 1). Diese Einord-
nung wird durch die ae. Entsprechung rārian
sw.v. II (s. u.) bestätigt, die auch auf ein voraus-
liegendes sw.v. III weist. – Mhd. rêren sw.v.
‚blöken, brüllen‘, nhd. röhren sw.v. ‚(beson-
ders vom brünstigen Hirsch) schreien, brüllen,
einen längeren lauten, hohl und rau klingenden
Laut von sich geben, (ugs.) röhrend irgendwo-
hin fahren‘.
Ahd. Wb. 7, 916; Splett, Ahd. Wb. 1, 1230; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rēren; Schützeichel⁷ 259; Starck-Wells 481;
Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 391; Bergmann-
Stricker, Katalog Nr. 752; Seebold, ChWdW8 239. 430.
468; Graff 2, 533; Lexer 2, 409; 3, Nachtr. 347; Dt. Wb. 14,
561. 1129; Kluge²¹ 605; Kluge²⁵ s. v. röhren; ePfeifer, Et.
Wb. s. v. röhren. – Wilmanns [1906–30] 1967: 2, § 62;
Franck [1909] 1971: § 198; Schatz 1927: § 30; Raven
1963–67: 1, 153; Riecke 1996: 182; Bailey 1997: 2, 400.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. râren sw.v. ‚schreien, brüllen‘; früh-
mndl. reren sw.v. ‚(von Tieren) brüllen, blöken,
(von Menschen) schreien‘, mndl. reren (neben
reeren) sw.v. ‚(von Tieren) brüllen, muhen,
blöken, heulen, (von Menschen) schreien‘, nndl.
dial. (östlich) reren sw.v. ‚(von Tieren) blöken,
röhren, (von Menschen) schreien, heulen‘; sa-
terfries. röärje sw.v. ‚brüllen, (Rind) um Futter
brüllen‘, roarje sw.v. ‚laut weinen, heulen‘; ae.
rārian sw.v. ‚brüllen, heulen, schreien, klagen‘
(zum Übertritt ehemaliger sw.v. III in die
Klasse der sw.v. II vgl. Brunner 1965: § 411
Anm. 7), me. rōren (neben rore, rori, rare[n],
raire, [frühme.] rarin) sw.v. ‚schreien, ausru-
fen, brüllen, röhren, bellen, brausen‘, ne. roar
sw.v. ‚brüllen, dröhnen, grölen, brausen, tosen,
röhren‘: < urgerm. *rai̯z/rai̯-/-i̯e/a- (zum An-
satz mit *-z- oder *-r- s. u.).
Für nndl. reren im Süden im 16./17. Jh. wird auch Ein-
fluss von frz. raire ‚röhren, orgeln, bellen‘ (zum Verb
vgl. Wartburg, Frz. et. Wb. 10, 32), für den Gebrauch
heute im Osten auch Entlehnung aus dem Ndd. ange-
nommen.
Das Verb könnte der Beleglage nach auch auf
urgerm. *rai̯rai̯-/-i̯e/a- zurückgehen. Falls aber
zur gleichen Wz. (wie etwa bei Kluge²¹ 605,
Kluge²⁵ s. v. röhren und Heidermanns, Et. Wb.
d. germ. Primäradj. 436) auch die ahd.
KHG -reisîg (in lûtreisîg ‚wohl tönend, laut tö-
nend‘ [s. d.]), -reisti (in lûtreisti ‚wohl tönend,
laut tönend‘ [s. d.], unlûtreisti ‚dumpf, leise‘
[s. d.]), -reistî (in lûtreistî ‚Wohlklang, lauter
Klang‘ [s. d.]), -reistîg (in lûtreistîg ‚laut tö-
nend, wohl tönend‘ [s. d.]) und -reistgî (in
lûtreistgî ‚Wohlklang‘ [s. d.]) und das KVG
reisti- (in reistijâr ‚Festjahr, Jubeljahr‘ [s. d.])
gehören, ist nur der Ansatz mit *-z- möglich
(die s. v. lûtreisti vorgeschlagene etym. Anbin-
dung an reisôn ‚aufbrechen, bereiten‘ [s. d.] ist
semantisch wenig wahrscheinlich).
Mit diesem Ansatz ist dann die von H. M.
Flasdieck, Anglia 59 (1935), 139. 182 vorge-
schlagene (und von Lehmann, Gothic Et. Dict.
R-19 als Möglichkeit erwogene) unmittelbare
Verbindung mit got. reiran* sw.v. ‚zittern‘
nicht mehr möglich.
Wohl nicht (auch nicht entfernter) zugehörig ist die
Gruppe um aisl. jarma sw.v. ‚meckern‘ (so etwa bei
Kluge²¹ 605), da diese eine Variante der Wortgruppe um
aisl. jalma sw.v. ‚schreien, toben‘ ist (vgl. Vries, Anord.
et. Wb.² 290 f.).
Nicht zugehörig ist das u. a. von Vries, Anord. et. Wb.²
433 angeschlossene Wort aisl. rámr adj. ‚heiser‘ (< ur-
germ. *rēma-; vgl. dazu Rasmussen 1989: 57: zu einer
Wz. *rem-; abzulehnen ist die von Kroonen, Et. dict. of
Pgm. 409 gebotene Etym., nämlich die Anbindung an lat.
rāvus adj. ‚heiser‘, da dieses eher auf *h₃rou̯H-ó- beruht
[vgl. B. Vine, HS 119 (2006), 237]).
Fick 3 (Germ.)⁴ 341; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb.
2, 2, 1862; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 3, 422; VMNW
s. v. reren; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6, 1296 f.; WNT
s. v. reren; Fort, Saterfries. Wb.² 496; Holthausen, Ae. et.
Wb. 255; Bosworth-Toller, AS Dict. 786; Suppl. 2, 52;
eMED s. v. rōren v.¹; Klein, Compr. et. dict. of the Engl.
lang. 2, 1352; eOED s. v. roar v.¹.
Urgerm. *rai̯zai̯-/-i̯e/a- stellt Pokorny 859 zu
einer Schallwz. uridg. „*rei-, rē(i)- Schallwur-
zel ‚schreien, brüllen, bellen‘ usw.“. Die dort
angeführten Fortsetzer dieser Wz. (ohne die
dort angeführten Erweiterungen *rēb-, *rk-
und *rēt-) sind jedoch nicht alle zugehörig. So
stammt aisl. rámr von einer eigenständigen Wz.
*rem- (s. o.) und ai. ryati ‚bellt‘ wohl von der
Verbalwz. uridg. *leh₂- ‚bellen‘ (vgl. Mayrhofer,
KEWA 3, 55; ders., EWAia 2, 443; LIV² 400 f.;
dort auch weiteres Material). Für die Wz. uridg.
„*rei-, rē(i)-“, (jetzt *reh₂i̯- ‚schreien, brüllen‘)
bleiben somit nur gesicherte Fortsetzer im
Baltoslaw., nämlich nruss. dial. rájat’ ‚lär-
men, schallen‘, lett. rāt [rãt] ‚schelten, tadeln,
strafen, sich streiten, zanken‘, (vielleicht
auch) apreuß. ett-rāi ‚sie antworten‘ (doch nach
Smoczyński, Lex. d. apreuß. Verb. 131 als et-tr-
zur Verbalwz. uridg. *ter- ‚sprechen‘) < uridg.
Präs. *réh₂-i̯e/o- und lit. ríeti ‚laut schelten,
scheltend anschreien, anfallen, anbellen (von
Hunden), beißen (von tollen Hunden)‘ < ur-
idg. Präs. *ré-roh₂i/rih₂- (zur Umbildung vgl.
Rasmussen 1989: 57; die Nebenformen lit. rejù
‚laut schelten, scheltend anschreien, anfallen,
anbellen (von Hunden), beißen (von tollen
Hunden)‘, lett. riet [riêt] ‚[an-]bellen, beißen‘
sind wohl nicht alt; falls doch, weisen sie auf
eine Wz. *rei̯H-).
Der Anschluss des urgerm. Verbs *rai̯zai̯-/
-i̯e/a- ist problematisch. Zugrunde läge eine Er-
weiterung mit uridg. *-s-, *reh₂i̯-s-, die vor Vo-
kal mit Metathese *rei̯h₂-s- ergibt (vgl. Ras-
mussen 1989: 48 f.), vor Konsonant dagegen
erhalten bleibt (*reh₂i-sK-; vgl. Rasmussen,
a. a. O. 47 f.); schwundstufiges *rh₂i̯-s- wäre
dagegen vor Vokal zu *rh₂-s- geworden, vor
Konsonant als *rh₂i̯-s- beibehalten worden
(vgl. Rasmussen, a. a. O. 47). Als deverbale
Bildung ist urgerm. *rai̯zai̯-/-i̯e/a- so nicht zu
erklären, da eine solche Bildung die Schwund-
stufe (also *rih₂-s-, *rh₂i-sK- bzw. *rh₂-s-,
*rh₂i̯-sK-) hat (vgl. dazu Krahe-Meid 1969: 3,
§ 185, 3a).
Daher ist urgerm. *rai̯zai̯-/-i̯e/a- wohl eine de-
nom. Ableitung. Obwohl solche Bildungen zu-
meist inchoative (seltener faktitive) Bed. haben
(vgl. Krahe-Meid 1969: 3, § 185, 3b), finden
sich unter ihnen auch welche mit durativer
Bed., wie harên ‚laut rufen, schreien, flehen,
zurufen, anrufen, rufen, sagen‘ und kriegên
‚lärmen, schallen‘. Ausgangspunkt könnte da-
bei ein s-St. *réh₂i̯-e/os- ‚Geschrei‘ gewesen
sein, wozu eine Ableitung mit *-ó-, urgerm.
*roh₂i̯-s-ó- (mit Metathese) > *roi̯h₂-s-ó- ‚Ge-
schrei habend, schreiend‘ > urgerm. *rai̯za- ge-
bildet wäre (vgl. zum Typ uridg. *h₁énh₃-os-
‚Last‘ : *h₁onh₃-s-ó- ‚tragend‘; vgl. S. Neri, in
Neri-Ziegler 2012: 16). Da aber sowohl der
s-St. als auch das Adj. nicht eigens belegt sind,
bleibt diese Annahme letztendlich spekulativ.
Walde-Pokorny 2, 342 f.; Pokorny 859 f.; LIV² 501;
Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 242 f.; Derksen, Et. dict. of
Slav. 432; Vasmer, Russ. et. Wb. 2, 486; ders., Ėt. slov.
russ. jaz. 3, 436; Derksen, Et. dict. of Balt. 382; Fraenkel,
Lit. et. Wb. 2, 732 f.; Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.² s. v.
ríeti¹; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3, 498. 548 f.;
Karulis, Latv. et. vārd. 2, 106. 120; Trautmann, Apreuß.
Spr.denkm. 305; Mažiulis, Apreuß. et. Wb. 52 f.; Toporov,
Prusskij jazyk A-D 140 ff.; Smoczyński, Lex. d. apreuß.
Verb. 29 f. 131.
RS