rîhan st.v. I (präs. –, prät. re[i]h, –,
part.prät. girigan), ab dem 9. Jh. in Gl.: ‚(um-)
gürten, winden, flechten, zusammenbinden,
aufnähen; praecin(g)ere, sutilis‘ 〈Var.: -i-〉. Bei
der in 1,287,34 vorliegenden Glossierung pre-
cinebat: forasanc, reh handelt es sich mit See-
bold, Germ. st. Verben 566 um ein Missver-
ständnis eines zweiten Glossators, der (an der
glossierten Bibelstelle 2. Mos 15, 1 tatsächlich
vorliegendes) lat. praecinere ‚(vor-)singen‘ mit
praecingere ‚umgürten‘ verwechselt hat. Der
bei Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 403
vorgenommene Bed.ansatz ‚(Lied) vortragen‘
ist mithin hinfällig. – Mhd. rîhen st.v. (rêch, ri-
gen, gerigen) ‚auf einen Faden ziehen, mit ei-
nem Faden durchnähen, heften, zusammen-
schnüren, fälteln (tr.), stecken (tr. bzw. refl.),
spießen (tr. bzw. refl.), wenden (intr.)‘ zeigt
wohl bereits den Zusammenfall zweier Verben,
nämlich von vorahd. *u̯rīχ-e/a- st.v. ‚winden‘
und *rīχ-i̯e/a- ‚reihen‘. Im Frühnhd. ist der laut-
liche Zusammenfall der beiden Verben end-
gültig vollzogen. Nhd. reihen¹ sw.v. ‚zu einer
Reihe verbinden, ordnen‘ bleibt fern; dieses
ist ausschließlich Fortsetzer von denomina-
lem vorahd. *rīχ-i̯e/a- (Kluge²¹ 592 s. v.
Reihe; Kluge²⁵ s. v. Reihe; ePfeifer, Et. Wb.
s. v. Reihe). Daneben existierendes nhd. reihen²
(sw.v. reihte, gereiht neben st.v. rieh, geriehen
[DWDS s. v. reihen²]) ‚einen Faden mit kleinen
Stichen durch den Stoff ziehen und den Stoff
auf dem Faden in kleinen, losen Fältchen zu-
sammenschieben‘ dürfte ahd. rîhan st.v. fort-
setzen.
Ob präfigierte Formen wie ahd. intrîhan ‚ent-
hüllen‘ (s. d.) tatsächlich zu rîhan ‚winden,
flechten‘ gehören (nach LIV² 699 eine bereits
uridg. Wz. mit diesen beiden Bed.; s. u.) oder es
sich um zwei verschiedene Verben handelt (so
z. B. Seebold, Germ. st. Verben 565 f.; ders.,
ChWdW9 676 f.) ist vorläufig nicht entscheid-
bar (s. u.).
Ahd. Wb. 7, 954 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 747; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rīhan; Schützeichel⁷ 260; Starck-Wells
483; Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 403; Bergmann-
Stricker, Katalog Nr. 296; Seebold, ChWdW9 677
(rīhan²); Graff 2, 429; Lexer 2, 431; 3, Nachtr. 348; Dt.
Wb. 14, 651 ff.; Kluge²⁵ s. v. Reihen²; ePfeifer, Et. Wb.
s. v. Reihe.
Exakte außerdt. Anschlüsse in der Bed. ‚win-
den‘ fehlen für den Ansatz urgerm. *u̯rīχ-e/a-.
Im Dt. sind noch urgerm. *u̯rīχ-an- > ahd. rîho
‚Wade‘ (s. d.) und urgerm. *u̯riχ-sti- > mhd. rist
st.m./n., riste st.n./.f. ‚Fuß-, Handgelenk‘, nhd.
Rist m. ‚Fußrücken, Spann‘ zugehörig (letzteres
auch mit außerdt. Verwandten [Lexer 2, 461;
Dt. Wb. 14, 1043 f.; Kluge²¹ 602; Kluge²⁵ s. v.
Rist; ePfeifer, Et. Wb. s. v. Rist]).
Eine phonologisch exakte Entsprechung zu
ahd. rîhan, aber mit der Bed. ‚hüllen‘, liegt in
ae. wrīon/wrēon st.v. I (> II [in einzelnen For-
men]; wrāh/wrēah, wrigon, wrigun) ‚einhül-
len, bedecken‘ vor. Die doppelte Bed. ‚ver-
hüllen‘ neben ‚drehen, winden‘ ist bereits
vorurgerm. (s. u.).
In den anderen germ. Sprachen gibt es mögli-
cherweise von der schwundstufigen Wz. gebil-
dete Verbalformen als Fortsetzer von urgerm.
*u̯rǥ-ō-i̯e/a-, die morphologisch ahd. rigôn ‚um-
kränzen‘ (s. d.) entsprechen: mndl. wri(j)gen
sw.v. ‚winden, drehen, sich neigen, unterstützen‘,
afries. wrigian sw.v. ‚sich beugen, schwankend
gehen‘; ae. wrgian sw.v. ‚sich wenden, dre-
hen‘, me. wrīen ‚(sich) (weg-)drehen, sich
schwankend bewegen‘, ne. obs. wry ‚sich be-
wegen, beugen, verbiegen, schwankend gehen‘
sowie möglicherweise (falls nicht zu einer
Wz. vorurgerm. *rei̯k- ‚strecken‘) aisl. reigjast
sw.v. ‚den Körper aufrichten, den Kopf zurück-
werfen‘, nisl. reigja ‚zurückbeugen‘, nnorw.
(nn.) reigja ‚leicht schaukeln‘, auch reia <
kaus. urgerm. *u̯rai̯ǥ-ii̯e/a-.
Weiter zugehörig sind als Intens., wohl aus
urgerm. *u̯rǥ-ne/a-, mndd. vorwricken ‚ver-
drehen, verrenken‘, nndl. wrikken ‚rütteln‘,
me. wricken ‚schwanken(d gehen), wackeln‘,
ne. obs. wrick ‚dss.‘, ndän. vrikke ‚dss.‘, nnorw.
(nn.) (v)rikka ‚schwanken‘, nschwed. vricka
‚dss.‘, wozu mit analogischem oder expressi-
vem Konsonantismus auch me. wriggen ‚schüt-
teln, wackeln‘, ne. wrig ‚schütteln, biegen‘,
nnorw. rigga ‚verbinden, umwickeln‘ und mit
iterativem l-Suff. (s. -ilôn) auch mndd. wrig-
geln ‚schütteln‘, nndl. wriggelen ‚dss.‘, nwest-
fries. wriggelje ‚schwanken, schütteln‘, me.
wryggle, ne. wriggle ‚biegen, beugen, schüt-
teln‘, nnorw. (v)rigla ‚schwanken, wackeln‘
gehören.
Fick 3 (Germ.)⁴ 417 f.; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 596
(s. v. *wrhan-); Seebold, Germ. st. Verben 566; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2, 977; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 5, 512; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 9,
2870 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 806; Suppl. 199;
Vries, Ndls. et. wb. 850. 851; Et. wb. Ndl. S-Z 642; WNT
s. vv. wriggelen, wrijgen, wrikken; Hofmann-Popkema,
Afries. Wb. 601; Richthofen, Afries. Wb. 1161; eFryske
wb. s. vv. wriggelje, wrikke; Dijkstra, Friesch Wb. 3,
478 f.; Holthausen, Ae. et. Wb. 408; Bosworth-Toller, AS
Dict. 1274. 1275; Suppl. 750; eMED s. vv. wrau adj.,
wrīen v.², wriggen v., wrikken v.; Klein, Compr. et. dict.
of the Engl. lang. 2, 1754. 1755; eOED s. vv. †wrick n.¹,
wrig v., wriggle v., wry v.²; Vries, Anord. et. Wb.² 438;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 701; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog 3, 63; ONP s. v. reigja; Holthausen, Vgl.
Wb. d. Awestnord. 225; Magnússon, Ísl. Orðsb. 749;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 2, 1397. 1579; Nielsen,
Dansk et. ordb. 502; Ordb. o. d. danske sprog 27,
562 ff.; Bjorvand, Våre arveord² 1336; Torp, Nynorsk
et. ordb. 522. 530. 531; NOB s. vv. (nn.) rigga,
(bm./nn.) rigge, (nn.) rigla, (nn.) rigle, (nn.) rikka,
(bm./nn.) rikke, (nn.) vrikka, (bm./nn.) vrikke; NOBFM
s. vv. reia¹, reigja; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 1368. –
Schaffner 2001: 573 f.
Urgerm. *u̯rīχ-e/a- geht auf vorurgerm. *u̯rei̯k̂-
e/o- zurück. Dass es sich bei der zugrunde lie-
genden Wz. uridg. *u̯rei̯k̂- ‚drehen, einhüllen‘
um eine Erweiterung der Wz. uridg. *u̯er- ‚dre-
hen, wenden‘ handelt, ist möglich, aber nicht zu
beweisen. Außergerm. verbale Anschlüsse
finden sich im Iran. in jav. uruuisiieiti ‚dreht
sich, wendet sich‘ (< uridg. *u̯rik̂-i̯e/o-), kaus.
uruuaesaiieiti ‚dreht, wendet‘ (< uridg. *u̯roi̯k̂-
ei̯e/o-) und im Balt.; vgl. lit. raišýti ‚binden
(iterativ), anklagen‘, lett. ràisît ‚binden, reißen,
auflösen‘ (< vorurbalt. *u̯roi̯k̂-ī/ā-), lit. rìšti,
rìša, rìšo/ė ‚binden‘, lett. rist, ris(t)u, risu ‚bin-
den, trennen‘ (< vorurbalt. *u̯rik̂-e/o-), apreuß.
part.prät.pass. senrists ‚verbunden‘, inf. perrēist
‚verbinden‘.
Gr. ῥοικός adj. ‚gekrümmt, gebogen, krumm-
beinig‘ (daneben gr. ῥικνός adj. ‚dss.‘) setzt
o-stufiges uridg. *u̯roi̯k̂-ó- fort, ebenso wie lit.
ráišas adj. ‚lahm‘ (daneben raĩš[t]as m. ‚Band‘),
me. wrau adj. ‚entgegengesetzt, pervers, wü-
tend, zornig‘ und schwed. dial. vrå ‚widerbors-
tig, halsstarrig‘.
Lat. rīca f. ‚Kopftuch‘ (< uridg. *u̯rei̯k̂-eh₂-)
entspricht lautlich möglicherweise genau lit.
ríeša f. neben lit. ríešas m. ‚Rist, Handgelenk,
Knöchel‘ (< vorurbalt. *u̯re/oi̯k̂-o/eh₂- mit un-
klarem Akut), eine nominale Ableitung von der
vollstufigen Wz.
Walde-Pokorny 1, 278 f.; Pokorny 1158 f.; LIV² 699;
Bartholomae, Airan. Wb.² 1533 f.; Frisk, Gr. et. Wb. 2,
656; Chantraine, Dict. ét. gr.² 939 f. 1350; Beekes, Et.
dict. of Gr. 2, 1285 f.; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 2,
433; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 573; de Vaan, Et.
dict. of Lat. 522; Derksen, Et. dict. of Balt. 375. 382.
383; Fraenkel, Lit. et. Wb. 2, 690. 730 f. 738;
Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.² 1108 f. 1156 f.; ALEW 2,
838. 868 f.; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3,
470 f. 531 f.; 6, 351. 374; Karulis, Latv. et. vārd. 734 f.;
Trautmann, Apreuß. Spr.denkm. 396. 425; Mažiulis,
Apreuß. et. Wb.² 702 f. 842; Smoczyński, Lex. d. apreuß.
Verb. 310 f.
HB