rîm m. a-St., im Abr und anderen Gl. ab
dem 8. Jh., bei O: ‚Zahl, Berechnung, Reihe;
numerus, series, summa‘ 〈Var.: hr-, hŕ-; -i-, -í-〉.
Bei den Schreibungen mit 〈h-〉 handelt es sich
um Hyperkorrekturen nach Fällen von etym.
berechtigtem 〈hr-〉, in denen das [h] bereits so
schwach artikuliert wurde, dass Unsicherheiten
bei der Setzung des Buchstabens entstanden
waren (Braune-Heidermanns 2018: § 153 Anm.
1, besonders b.δ [S. 201 f.]). – Mhd. rîm st.m.
‚Reim, Vers(zeile), Verspaar‘, frühnhd. reim(en)
m. ‚Vers‘, nhd. Reim m. ‚Gleichklang einer oder
mehrerer Silben mit einer oder mehreren an-
deren bei verschiedenem Silbenanlaut, beson-
ders am Ende einer Verszeile, kleines Ge-
dicht, Vers‘.
Die Bed. von mhd. rîm beruht entweder auf
Übernahme von afrz., nfrz. rime f. ‚gebundene
Rede, Reim‘ oder auf Bed.verschiebung des er-
erbten germ. Worts durch den Einfluss des frz.
Worts, wobei dieses selbst letztlich ein Lehn-
wort aus einer westgerm. Sprache ist (s. u.).
Ahd. Wb. 7, 1015; Splett, Ahd. Wb. 1, 749; eKöbler, Ahd.
Wb. s. v. rīm¹; Schützeichel⁷ 261 (rīm¹); Starck-Wells
485 (rīm¹); Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 413;
Seebold, ChWdW8 240. 429. 505; ders., ChWdW9 678.
1101; Graff 2, 506; Lexer 2, 437; 3, Nachtr. 348; Götze
[1920] 1971: 175; Dt. Wb. 14, 663 ff.; Kluge²¹ 593;
Kluge²⁵ s. v. Reim; ePfeifer, Et. Wb. s. v. Reim.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
as. -rīm in unrīm m./n.? ‚Unzahl‘, mndd. rīm
st.m. ‚Anzahl, Verszeile, Gedicht‘; andfrk.
*rīm m. (wird wohl durch afrz. rime f. ‚gebun-
dene Rede, Reim‘ [s. u.] vorausgesetzt), früh-
mndl. rime m./f. ‚Vers, Verszeile, Gedicht‘,
mndl. rime f., rijm m. ‚Verszeile, Versmaß,
Klanggleichheit, Reim‘, nndl. rijm n./f. ‚Reim,
Rhythmus, Versmaß, Gedicht‘; afries. rīm m./n.
‚(zumindest teilweise gereimte) Erzählung‘,
nwestfries. rym n. ‚Vers, Reim, Gedicht‘, sater-
fries. riem m. ‚Reim, Vers‘; ae. rīm m./n. ‚Zahl,
Zählung, Rechnung‘, me. rime, ryme ‚Anzahl,
Metrum, Verszeile‘, ne. rhyme ‚Reim, Ge-
dicht‘; aisl. rím n. ‚Rechnung, Berechnung,
Zählung, Kalender, Vers‘ (auch, nach Vorbild
des Mndd., ‚Reim, Gedicht‘), nisl. rím n. ‚Zeit-
rechnung, Almanach, Reim‘, ndän. rim ‚Reim‘,
nnorw. rim n. ‚Reim‘, aschwed. ri(i)m m.
‚Reim, Vers, Gedicht‘, nschwed. rim ‚Reim,
Vers, Gedicht‘: < urgerm. *rei̯ma-/*rīma-.
Für das (Früh-)Mndl. gilt wie für das Mhd.,
dass entweder das aus dem Afrz. entlehnte oder
das ererbte germ. Wort semantisch beeinflusst
wurde. Auch die Bed. ‚Vers‘ von aisl. rím etc.
dürfte letzlich über mndd. bzw. mndl. Vermitt-
lung auf das Afrz. zurückzuführen sein. Ne.
rhyme (und wohl auch schon me. ryme) sind in
der Orthographie an lat. rhythmus m. ‚Takt‘ (zu
Weiterem s. ritmus) angeglichen; lautlich setzt
das ne. Wort wohl einerseits urgerm. *rei̯ma-,
westgerm. *rīma- fort, unterlag aber anderer-
seits dem Einfluss von afrz., mfrz., anglonorm.
ryme, rime ‚Reim, Vers, Gedicht‘ (s. u.) bzw.
wurde aus diesem entlehnt.
Fick 3 (Germ.)⁴ 342; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 413;
Tiefenbach, As. Handwb. 429; Sehrt, Wb. z. Hel.² 629;
Berr, Et. Gl. to Hel. 420 (ohne Etym.); Lasch-Borchling,
Mndd. Handwb. 2, 2, 2137 f. (rîm¹); Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 3, 482; ONW s. v. *rīm¹; VMNW s. v. rime²;
Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6, 1417 ff.; Franck, Et. wb.
d. ndl. taal² 548 f. (rijm²); Suppl. 137 (rijm²); Vries, Ndls.
et. wb. 577 (rijm²); Et. wb. Ndl. Ke-R 666 f. (rijm¹);
WNT s. v. rijm²; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 404;
Richthofen, Afries. Wb. 994; eFryske wb. s. v. rym¹;
Dijkstra, Friesch Wb. 3, 25 (rym²); Fort, Saterfries. Wb.²
492; Holthausen, Ae. et. Wb. 260; Bosworth-Toller, AS
Dict. 799; Suppl. 689; eMED s. vv. rīm(e) n.³, rīme n.⁵;
Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2, 1345. 1349;
eOED s. vv. rhyme n., †rime n.²; Vries, Anord. et. Wb.²
446 (rím¹, rím²); Jóhannesson, Isl. et. Wb. 34. 1137;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 113 (rím³); ONP
s. v. rím¹; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 229;
Magnússon, Ísl. Orðsb. 762 (rím¹, rím²); Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 2, 900 (rim²). 1532 (rim²); Nielsen,
Dansk et. ordb. 346 (rim²); Ordb. o. d. danske sprog 17,
1053; Suppl. s. v. rim⁴; Torp, Nynorsk et. ordb. 531 (rim²);
NOB s. vv. (bm.) rim², (nn.) rim³; Hellquist, Svensk et. ordb.³
2, 836 (rim¹); Svenska akad. ordb. s. v. rim subst.².
Urgerm. *rei̯ma- beruht wohl auf einer nomina-
len mo-Ableitung zu einer erweiterten Wz.form
uridg. *h₂r-ei̯- zur Wz. uridg. *h₂er- ‚zusam-
menfügen‘. Die Bestimmung des anlautenden
Laryngals als uridg. *h₂- erlauben die zugehöri-
gen gr. Wörter mit anlautendem gr. ἀ- (s. u.).
Bisweilen nimmt man auch eine komplexe
Wz. uridg. *Hrei̯H- an, was dann einen Ansatz
urgerm. *rīma- (< uridg. *h₂riH-mó-) möglich
macht.
Ein der germ. Form bildungsgleiches Wort ist
außergerm. allenfalls im Kelt. bezeugt; vgl. air.
rím f. (ā-St.), jünger m. (u-St.) ‚Zahl, Zählen,
Erzählen, Metrum‘, mkymr. rif ‚Zahl, Menge,
Metrum‘, nkymr. rhif ‚Zahl, Menge, große An-
zahl, Wert, Ehre, Maß, Metrum‘, korn. pl.
ryvow ‚Zahlen‘, abret. ri[m] gl. summa, nbret.
riñv ‚Zahl‘. Da dieses Wort kaum vom Verb air.
renaid ‚zählt, verkauft, tauscht‘ (< urkelt. *ri-na-
ti < vorurkelt. *h₂ri-n-H-ti) zu trennen ist – es sei
denn, air. rím etc. beruhen auf Entlehnung aus
urgerm. *rīma- (so erwogen von Schrijver 1991:
22) – geht die kelt. Sippe wohl auf eine Wz.form
uridg. *h₂rei̯H- (: *h₂riH-mó-) zurück.
Damit verbundenes lat. rītus m. ‚Gebrauch,
Sitte, Gewohnheit, Art‘ lässt auch einen Wz.an-
satz ultimae laryngalis (uridg. *h₂riH-tu-) zu;
allerdings wäre bei einem tu-St. eher eine voll-
stufige Wz. zu erwarten. Grundsätzlich wäre
auch Schwund des wz.schließenden Laryngals
nach der Wetter-Regel, also ein Ansatz eines
hysterokinetischen gen.sg. uridg. *h₂riH-tu̯-és
> *h₂ri-tu̯-és und sekundäre Verallgemeinerung
der laryngallosen Wz.form, denkbar; doch wäre
eine solche Wortbildung ungewöhnlich. Für lat.
rītus ist so der Ansatz uridg. *h₂rei̯-tu- (Wz.
uridg. *h₂r-ei̯-) am wahrscheinlichsten.
Zur Wz. uridg. *h₂r-ei̯- (ohne wz.schließenden
Laryngal) gehören wohl einige gr. Lexeme;
vgl. gr. ἀραρίσκειν ‚zusammenfügen, verferti-
gen‘, ἀριθμός m. ‚Reihe, Zahl, (Auf-)Zählung‘,
νήριτος adj. ‚zahllos, unendlich‘ (< urgr.
*nārito- < uridg. *-h₂ri-tó-). Aber auch hier
kann bei gr. ἀριθμός < uridg. *h₂riH-dhmó- die
Wetter-Regel gewirkt und sich ausgehend von
diesen Formen eine Wz.gestalt ohne auslauten-
den Laryngal innergr. verbreitet haben.
Den genannten Wörtern aus verschiedenen
Sprachfamilien können so eine oder doch zwei
verschiedene, aber semantisch sehr ähnliche
Wz. zugrunde liegen.
Aus einem westgerm. Dial., am ehesten dem
Andfrk., wurde westgerm. *rīma- als afrz. rime
f. ‚Reim, Vers‘ übernommen. Dass bereits das
Wort in der westgerm. Gebersprache diese Bed.
hatte, ist möglich. Über das Afrz. vermittelt
sind italien. rima f. ‚dss.‘, katal. rima f. ‚dss.‘,
span. rima f. ‚dss.‘, port. rima f. ‚dss.‘. Umstrit-
ten ist, ob die rom. Wörter auf lat. rhythmus m.
‚Rhythmus, Takt‘ (Weiteres s. ritmus) zurück-
gehen. Das Fehlen einer Form *ridma, *ritma
o. ä. in irgendeiner rom. Sprache spricht eher
dagegen. Eine Einwirkung auf Bed. und Schrei-
bung der rom. Wörter für ,Reim‘ durch lat.
rhythmus ist freilich möglich (vgl. auch oben
ne. rhyme).
Aus dem Mhd. gelangte das Wort auch in slaw.
Sprachen; vgl. atschech. (14. Jh.) rým m.
‚Reim‘, ntschech. rým m. ‚dss.‘, slowak. rým m.
‚dss.‘ (seit dem 18. Jh., wohl über tschech. Ver-
mittlung), poln. rym m. ‚dss.‘, ält. slowen. rīm
m. ‚Reim‘.
Dagegen ist aus dem Frz. oder eher noch aus
italien. rima f. slowen. rīma f. ‚Reim‘ über-
nommen.
Walde-Pokorny 2, 69 ff.; Pokorny 55 ff. 60 f.; LIV² 269 f.;
Add. s. v. 1. *h₂er-; Frisk, Gr. et. Wb. 1, 128 f. 139; 2,
316; Chantraine, Dict. ét. gr.² 97 f. 104. 724. 1273;
Beekes, Et. dict. of Gr. 1, 123. 131; 2, 1017 f.; Walde-
Hofmann, Lat. et. Wb. 2, 437; Ernout-Meillet, Dict. ét.
lat.⁴ 574; de Vaan, Et. dict. of Lat. 524; Du Cange² 7,
196; Wartburg, Frz. et. Wb. 16, 716 ff.; Bezlaj, Et. slov.
slov. jez. 3, 180 f.; Snoj, Slov. et. slov.³ 645; Fick 2
(Kelt.)⁴ 234; Matasović, Et. dict. of Proto-Celt. 313;
Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. R-19 f. R-30 f. (rím¹);
eDIL s. vv. renaid, rím¹; Dict. of Welsh 3, 3069 f. (rhif¹);
Deshayes, Dict. ét. du bret. 628. – Brückner [1927]
1993: 472; Schrijver 1991: 22; Machek 1997: 527;
Bańkowski 2000 ff.: 3, 1, 207; Newerkla 2011: 95. 211;
Králik 2015: 517; Rejzek 2015: 608.
HB