rîsan st.v. I (prät.sg. reis, prät.pl. rirun,
part.prät. giriran), in verbalen Präfixbildungen
bereits im Abr (s. girîsan, irrîsan u. a.), als
Simplex ab Mitte des 9. Jh.s in Gl. und bei N:
‚(ab-)fallen, niederfallen, herabtropfen; abire,
defluere, incidere, labi, necesse esse ?, pluere,
stillare‘, part.präs. rîsanti ‚hinfällig; deciduus,
ruinatus‘, substantiviert ‚Untergang, Verfall;
ruinatus, -ūs‘ 〈Var.: hr-; -i-〉. Das Ahd. zeigt im
Prät.Pl. und Part.Prät. noch den zu erwartenden
grammatischen Wechsel -s- : -r- (< urgerm.
*-s- : *-z-); ab mhd. Zeit werden diese For-
men dann nach dem Präs. und dem Prät.Sg.
zu -s- ausgeglichen. – Mhd. rîsen st.v. I (prät.sg.
reis, prät.pl. rirn neben risen, part.prät. gerirn
neben gerisen) ‚steigen, fallen‘, frühnhd. riesen
‚fallen, sich senken‘. Daneben findet sich ält.
nhd. reisen st.v. ‚niederfallen, niedersinken, auf-
brechen‘, dial. noch schweiz. rīsen st.v. ‚fallen‘,
bad. risen ‚fallen‘ (neben ‚auf der Holzrutsche
talwärts befördern‘), lothr. risen ‚fein regnen/
schneien, vereinzelt niederfallen, abfallen‘.
Frühnhd. reisen sw.v. ‚ins Feld ziehen‘, nhd.
reisen sw.v. ‚eine Fahrt machen‘ ist kein Fort-
setzer des ahd. st.V., sondern beruht auf einer
denominalen Ableitung urgerm. *rai̯s-ōi̯e/a-
(> reisôn sw.v. II [s. d.]) von urgerm. *rai̯sō- >
ahd. reisa st.f. ‚Aufbruch‘ (s. d.) > mhd. reis(e)
st./sw.f. > nhd. Reise f. ‚Fahrt, Ausflug‘. Eine
iterativ-dimin. Ableitung von der schwundstu-
figen Wz. ist wohl westgerm. *ris-ilō-i̯e/a- >
spätmhd. riselen sw.v. ‚rieseln‘ > nhd. rieseln
sw.v. ‚langsam oder in kleinen Tropfen herab-
fallen, sacht fließen, rinnen‘. Das Bed.element
‚Bewegung nach unten‘ ist auch in nhd. Riese f.
‚Holzrutschbahn an Berghängen‘ < mhd. rise
st.f. ‚dss.‘ < ahd. *risa f. (dazu auch bair. ris
‚Fallen, Niedersinken, Untergehen [der Sonne]‘)
und dem dial. obd. verbreiteten zugehörigen
denominalen Verb riesen ‚Holz auf der Holz-
rutsche talwärts bewegen‘ (schweiz. risen, vor-
arlb. riesen, tirol. rîsn, bad. risen, schwäb. risen)
bewahrt.
Ahd. Wb. 7, 1075 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 756 ff.; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rīsan; Schützeichel⁷ 262; Starck-Wells
488; Schützeichel, Glossenwortschatz 7, 440 f.; Seebold,
ChWdW8 241; ders., ChWdW9 682; Graff 2, 536; Lexer
2, 458. 459; 3, Nachtr. 349; Götze [1920] 1971: 176. 178;
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 178 (defluere). 580 (ruinatus).
628 (stillare); Dt. Wb. 14, 731 ff. 934 f. 936 ff. 940;
Kluge²¹ 594 (s. v. Reise). 600; Kluge²⁵ s. vv. Reise,
Riese², rieseln; ePfeifer, Et. Wb. s. vv. Reise, rieseln. –
Schweiz. Id. 6, 1335 ff. 1368 f.; Ochs, Bad. Wb. 4, 307;
Fischer, Schwäb. Wb. 5, 371; Jutz, Vorarlberg. Wb. 2,
729; Schmeller, Bayer. Wb.² 2, 147; Schatz, Wb. d. tirol.
Mdaa. 2, 487; Follmann, Wb. d. dt.-lothr. Mdaa. 1, 415.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen: as.
rīsan st.v. I (prät.sg. rēs, rās, prät.pl. –,
part.prät. –) ‚aufstehen, sich erheben‘, mndd.
rīsen st.v. (prät.sg. rē[i]s, prät.pl. rēsen,
part.prät. [ge-]rēsen; daneben sw.prät. rīsede)
‚sich erheben, steigen, aufkommen, entstehen,
mehr werden, sich steigern, sich abwärts bewe-
gen, fallen, sich bewegen, hervorkommen‘;
frühmndl. rīsen st.v. (prät.sg. rees, prät.pl. re-
sen, part.prät. gheresen) ‚aufkommen, entste-
hen, sich erheben, aufsteigen, sichtbar werden,
zunehmen, mehr werden‘, mndl. rīsen st.v.
(prät. rēs, part.prät. g[h]eresen) ‚kommen, an-
kommen, zuteil werden, sich erheben, steigen,
fallen, anstreben, fallen lassen‘, nndl. rijzen
(prät. rees, part.prät. gerezen) ‚steigen, sich er-
heben, aufgehen‘; afries. rīsa st.v. (prät. rēs-,
part.prät. -risen) ‚entstehen, herrühren, her-
stammen, erfolgen, ansteigen, sich vermehren‘,
nwestfries. rize st.v. ‚sich erheben, aufgehen,
erscheinen, sichtbar werden, anschwellen, zu-
nehmen, sich hervortun‘, saterfries. rieze st.v.
(prät.sg. rees, prät.pl. resen, part.prät. ríezen)
‚am Horizont erscheinen, aufgehen, gären (vom
Teig)‘‚ nnordfries. riise ‚sich aufrichten‘; ae.
rīsan st.v. (prät.sg. rās, prät.pl. rison, part.prät.
risen) ‚sich gehören, passen, aufgehen, sich er-
heben‘ (mit Übernahme der Bed. teils wohl aus
präfigiertem gerīsan), me. risen (auch ris[e],
risse[n], rice) st.v., auch sw.v. (prät.sg. rōs[e],
rosse, rois[e], rās[e], rasse, rais[e], sw. rsed,
rist[e], prät.pl. rōs, rose[e], rosse, risen,
risse[n], rẹ̄se[n], rẹ̄son, rẹ̄sun; sw. rīsed[en],
part.prät. [i]rise, risen, rison, risun, risse[e],
rẹ̄sen, ressen) ‚aufstehen, sich erheben, aufer-
stehen, auffliegen, hochgehoben werden, her-
auskommen, schlüpfen, sich hocharbeiten, ge-
langen zu, mehr werden, sich erregen,
revoltieren, entstehen, seinen Anfang nehmen,
geschehen, die Oberhand gewinnen‘, ne. rise
(prät. rose, part.prät. risen) ‚aufgehen, aufste-
hen, sich erheben, aufsteigen, wachsen, zuneh-
men, mehr werden, revoltieren‘; aisl. rísa st.v.
(prät.sg. reis, prät.pl. riso, part.prät. risen) ‚sich
erheben, entstehen, aufbrechen‘, nisl. rísa st.v.
‚sich aufrichten, aufstehen‘, fär. rísa st.v. ‚dss.‘,
ält. dän. risa st.v. ‚dss.‘, ndän. rise sw.v. ‚auf-
stellen‘ (mit Semantik des Kaus.), nnorw. risa,
rise ‚dss.‘, aschwed. rīsa st.v. ‚sich erheben‘,
nschwed. dial. risa ‚dss.‘; got. -reisan st.v.
(prät.sg. -reis, prät.pl. -risun, part.prät. -risans)
z.Β. in urreisan ‚sich erheben, aufstehen;
ἐγείρεσθαι‘: < urgerm. *rei̯s-e/a-.
Das zur Vorform von ahd. rîsan gehörige Kaus.
urgerm. *rai̯z-éi̯e/a- erscheint in ahd. anarêren
‚verschaffen, darbieten‘ und umbibirêren ‚er-
greifen, anfallen‘ (s. dd.) sowie deren Verwand-
ten in den anderen germ. Sprachen.
Fick 3 (Germ.)⁴ 345 f.; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 414;
Seebold, Germ. st. Verben 371 f.; Tiefenbach, As.
Handwb. 315; Sehrt, Wb. z. Hel.² 439; Berr, Et. Gl. to
Hel. 320 f.; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2,
2164 f.; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 3, 489 f.; VMNW
s. v. risen²; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6, 1451 ff.;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 550; Suppl. 137; Vries, Ndls.
et. wb. 578; Et. wb. Ndl. Ke-R 668; WNT s. v. rijzen²;
Boutkan, OFris. et. dict. 320 f.; Hofmann-Popkema,
Afries. Wb. 405; Richthofen, Afries. Wb. 994; eFryske
wb. s. v. rize; Dijkstra, Friesch Wb. 3, 31; Fort, Saterfries.
Wb.² 494; Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnordfries. 165;
Holthausen, Ae. et. Wb. 261 (rīsan¹); Bosworth-Toller,
AS Dict. 800; Suppl. 689; Suppl. 2, 52; eMED s. v. rīsen
v.; Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2, 1350; eOED
s. v. rise v.; Vries, Anord. et. Wb.² 447; Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 66; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 115;
ONP s. v. rísa v.; Jónsson, Lex. poet. 469; Holthausen,
Vgl. Wb. d. Awestnord. 230; Magnússon, Ísl. Orðsb. 765;
Nielsen, Dansk et. ordb. 343 (s. v. reisje²); Ordb. o. d.
danske sprog 17, 1124 f. (rise²); Bjorvand, Våre arveord²
874 f. (s. v. reise¹); Torp, Nynorsk et. ordb. 534; NOB s. v.
(nn.) rise³; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 828 (s. v. resa¹);
Svenska akad. ordb. s. vv. resa v.², risa v.¹; Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 527 f.
Urgerm. *rei̯s-e/a- setzt vorurgerm. *(H)rei̯s-
e/o- fort. Ob dem Verbst. eine eigene, nur im
Germ. fortgesetzte Wz. uridg. *(H)rei̯s- zu-
grunde liegt oder eine nur im Germ. auftretende
s-Erweiterung (vielleicht abstrahiert aus einem
älteren Tempus- oder Modusst.) zu einer (mög-
licherweise auch sonst in der Indogermania be-
zeugten) i-haltigen Erweiterung zu uridg.
*h₃er- ‚sich in (Fort-)Bewegung setzen‘ (LIV²
299 f.), bleibt offen. Auf eine i-haltige Erweite-
rung könnten die gr. Etyma mit Fortsetzung von
urgr. *o- weisen (zum Ansatz der Wz. mit *h₁-
vgl. LIV² 306 Anm. 1). Möglich ist auch eine
Erweiterung zur Wz. uridg. *h₁er- ‚wohin gera-
ten, gelangen‘ (LIV² 238).
Die in ält. Literatur hierher gestellten Wortfor-
men ai. riṇti, ríṇvati ‚lässt strömen‘, gr. ὀρίνω,
lesb. ὀρίννω ‚wühle auf, wirble‘, air. rían m.
‚Meer‘, aksl. rinǫti ‚strömen, fließen‘, russ.
rínut’ ‚schnell fließen, sieden, strömen‘, slo-
wen. ríniti ‚eindringen, vorwärtsdringen‘, serb.,
kroat. rȉnuti ‚dss.‘ etc. werden nun auf eine Wz.
uridg. *h₃rei̯H- ‚wallen, wirbeln‘ (LIV² 305 f.)
zurückgeführt und entfallen damit wohl für den
Vergleich.
Das u. a. bei Kluge²⁵ s. v. Reise (und auch sonst
in ält. Literatur bisweilen) angeführte Verb lett.
riẽtêt ‚hervorbrechen, aufgehen‘ weist auf eine
Erweiterung *h₃rei̯-t- (neben o.a. uridg. *h₃rei̯-s-
und *h₃rei̯-H-).
Walde-Pokorny 1, 140; Pokorny 330 f.; LIV² 238. 299 ff.
305 f.; Add. s. vv. *h₁er, *h₃er; Mayrhofer, KEWA 3,
59 f.; ders., EWAia 1, 437 f.; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-
dt. Wb. 3, 549; Karulis, Latv. et. vārd.² 755.
HB