rôtilkîbino m. n-St., in Gl. 3,458,14/15
(2. Hälfte des 9. Jh.s oder Anfang des 10. Jh.s,
mfrk.): ‚Turmfalke; erodion [= herodius]‘
(Falco tinnunculus, Tinnunculus tinnunculus)
〈Var.: -del-; -u- (zu den mfrk. Schreibun-
gen -d- und -u- vgl. Braune-Heidermanns
2018: §§ 134. 163)〉. Das Wort ist ein Komp.
aus rôtil- und -kîbino, das als Simplex kîbino m.
n-St. ‚(Turm-)Falke; erodion [= herodius],
passerarius‘ in Gl. 3,458,10 (11. Jh., mfrk.,
〈kiuino〉). 11 (2. Hälfte des 9. Jh.s oder Anfang
des 10. Jh.s, mfrk., 〈kyuino〉). 14 (11. Jh., mfrk.,
〈Roder kiuino〉). 15 (1. Drittel des 11. Jh.s,
mfrk., 〈kuuno〉) belegt ist; das Simplex fehlt in
Band 5. Das KVG rôtil- ist mit dem Suf-
fix -il- von rôt ‚rot‘ abgeleitet (s. d.; beim
[Turm-]Falken wegen des rötlichen Rückenge-
fieders; vgl. auch rôtilwîo und von der Wortbil-
dung her rôtil [s. dd.]).
Tiefenbach, As. Handwb. 212 gibt den Beleg Gl.
3,458,15 als as. an; die Hs. wird heute aber als Mfrk.
angesehen.
Weder das Simplex noch das Komp. sind später
fortgesetzt.
Ahd. Wb. 5, 208; 7, 1123; Splett, Ahd. Wb. 1, 767; eKöbler,
Ahd. Wb. s. vv. kībino, rōtilkībino; Schützeichel⁷ 175.
265; Starck-Wells 329. 493; Schützeichel, Glossen-
wortschatz 5, 205; 7, 480. 484; Bergmann-Stricker,
Katalog Nr. 52. 877. 959. – Suolahti [1909] 2000: 342;
Neuß 1973: 111–115. 140 f.
In den anderen germ. Sprachen gibt es weder
zum Simplex noch zum Komp. unmittelbare
Entsprechungen.
Ahd. kîbino ist wahrscheinlich eine Nomen-
agentis-Bildung (zur Bildeweise vgl. skeffino
‚Schöffe‘ [s. d.]) zum Verb urgerm. *kei̯ƀe/a- >
*kīƀe/a- ‚schreiend streiten, keifen, zanken‘;
die Bez. bezieht sich dann auf das helle Ge-
schrei des (Turm-)Falken.
Urgerm. *kei̯ƀe/a- > *kīƀe/a- ist fortgesetzt
in: mhd. kîben sw.v. ‚scheltend zanken, keifen‘,
frühnhd. keiben unreg./sw.v. ‚mit Waffen oder
Worten streiten, zanken‘, das durch aus dem
Ndd. entlehntes mhd. kîven sw.v. ‚scheltend
zanken, keifen‘, frühnhd. keifen unreg./sw.v.
‚mit Waffen oder Worten streiten, zanken‘,
nhd. keifen sw.v. ‚laut und grob, mit schriller,
sich überschlagender Stimme schimpfen‘ ver-
drängt wurde (Lexer 1, 1566; 3, Nachtr. 270;
Götze [1920] 1971: 133; Frühnhd. Wb. 8, 754;
Dt. Wb. 11, 432 f. 442 ff.; Kluge²¹ 362; Kluge²⁵
s. v. keifen; ePfeifer, Et. Wb. s. v. keifen); mndd.
kîven (*kiefen, kiffen) st.v. ‚streiten, Streit ha-
ben, (sich) zanken, schimpfen, keifen, schmä-
hen, sich beschimpfen, sich schlagen, uneinig
sein, einen Rechtsstreit führen, kämpfen, Krieg
führen‘; mndl. kiven st./sw.v. ‚zanken, keifen,
streiten‘, nndl. kijven st./sw.v. ‚dss.‘; afries.
tzīvia, tziūwia, kīvia sw.v. ‚keifen, sich streiten,
sich widersprechen‘, saterfries. kieuwje sw.v.
‚keifen, sich zanken‘, nnordfries. kiuwe ‚schel-
ten‘ (die Formen mit k- stammen aus dem
Mndd./Mndl.); (wohl aus dem Mndd. entlehnt)
aisl. kífa sw.v. ‚streiten, zanken‘, nisl. kífa sw.v.
‚dss.‘, adän. kiffue sw.v., ält. ndän. kiffue(s) sw.v.,
ndän. kive sw.v. ‚dss.‘, nnorw. (bm.) kive sw.v.,
(nn.) kiva sw.v. ‚dss.‘, aschwed. kiva sw.v.,
nschwed. kiva sw.v. ‚dss.‘.
Nahestehend, aber anders gebildet ist mndd.
rôdelkippe f. ‚Turmfalke‘, das auf eine Bil-
dung west-/urgerm. *-kipp(i̯)ō- zurückgeht,
eine Ableitung vom Iterativ urgerm.
*kipp/bbōi̯e/a- ‚schreiend streiten, keifen, zan-
ken‘ (vgl. u. a. mndd. kibben sw.v. ‚zanken,
streiten‘).
Fick 3 (Germ.)⁴ 43; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 287. 288;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 556. 564 f.; 2, 2,
2179; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 460. 468; Verwijs-
Verdam, Mndl. wb. 3, 1450 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal²
307; Vries, Ndls. et. wb. 319; Et. wb. Ndl. Ke-R 58;
WNT s. v. kijven; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 519;
Richthofen, Afries. Wb. 871; Fort, Saterfries. Wb.² 309;
Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnordfries. XXXII. 96; Vries,
Anord. et. Wb.² 308; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 298;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 281; ONP s. v.
kífa²; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 152 (kīfa²);
Magnússon, Ísl. Orðsb. 459; Falk-Torp, Norw.-dän. et.
Wb. 1, 513; Nielsen, Dansk et. ordb. 221; Ordb. o. d.
danske sprog 10, 413; NOB s. vv. (bm.) kive, (nn.) kiva;
Hellquist, Svensk et. ordb.³ 1, 461; Svenska akad. ordb.
s. v. kiva.
Urgerm. *kei̯ƀe/a- hat keine Entsprechungen in
anderen idg. Sprachen. Daher bleibt auch die
weitere Etym. (etwa Wz.erweiterung *-bh- zu
uridg. *g[u̯]eH[i̯]- ‚singen‘ [vgl. LIV² 183] oder
zu uridg. *gei̯- ‚drehen, wenden‘ [s. kêren])
unsicher.
Walde-Pokorny 1, 545.
RS