rucken sw.v. I, einmal in Hs. Augsburg
HS 4 (10./11. Jh., bair.; vgl. Mayer 1974: 6:
rụchi . porrigat) und bei N: ‚bewegen, (sich)
fortbewegen, sich entfernen, fortschreiten, stei-
gen; desciscere, linquere, porrigere, provectus
[= giruckit], sublevare [= hôhôr rucken], trans-
ire‘, subst. rucken ‚Bewegung; mutatio‘ 〈Var.:
-(c)ch-〉. – Mhd. rücken, rucken sw.v. (ruchen,
rocken, prät. ruckete, ructe, ruhte [rohte],
rugte, part.prät. gerücket, -rucket, geruht) sw.v.
‚schiebend an einen anderen Ort bringen, drän-
gen, fortbewegen, rücken, zücken, unaufgehal-
ten den Ort verändern, sich fortbewegen‘, nhd.
rücken sw.v. ‚etw. (mit einem Ruck, ruckweise)
an einen anderen Platz, in eine andere Lage be-
wegen, etw. durch kurzes Schieben, Ziehen (hin
und her) bewegen, sich (mit einem Ruck, ruck-
weise) irgendwohin bewegen, sich (sitzend, mit
seiner Sitzgelegenheit) an einen anderen Platz
bewegen‘.
G. Kroonen, in Nielsen Whitehead u. a. 2012: 268 und
Scheungraber 2014: 149 sehen in der umlautlosen
mhd. Form rucken, Scheungraber, a. a. O. in mhd. ro-
cken Fortsetzer eines mit ae. roccian ‚wiegen, schau-
keln‘ vergleichbaren sw.v. II (s. u.). Bei rucken ist diese
Annahme aber nicht notwendig, da im Mhd. die Verbin-
dung -ck- im Obd. den Umlaut verhindert (vgl. Paul
2007: § L 36). Auch bei rocken kann das -o- eine sel-
tene Nebenform sein (vgl. dazu Weinhold 1863: § 24),
jedoch ist eine Vorform westgerm. *rukkōi̯e/a- sw.v. II
ebenfalls möglich.
G. Kroonen, a. a. O. leitet mhd. ruchen von urgerm.
*rukōi̯e/a- her. Diese ist nur in der Wiener Genesis 188
als 〈rucchen〉 belegt und zeigt dieselbe Graphie wie
〈stucchen〉 in der gleichen Zeile, das zu mhd. stücke
st./sw.n. ‚Teil, Stück‘ gehört; 〈cch〉 ist somit in beiden
Fällen eine Graphie für urgerm. *-kk-, -u- ist die übliche
mhd. obd. Form ohne Umlaut (s. o.). Auch 〈rucchen〉 geht
daher sicher auf urgerm. *rukkii̯e/a- zurück; für ein Re-
konstrukt urgerm. *rukōi̯e/a- fehlt jegliche Grundlage.
Ahd. Wb. 7, 1209 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 770; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rukken; Schützeichel⁷ 266; Schützeichel,
Glossenwortschatz 8, 17; Bergmann-Stricker, Katalog
Nr. 13; Graff 2, 433 f.; Lexer 2, 523 f.; Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 186 (desciscere). 377 (linquere). 420 (mutatio).
535 (provectus). 634 (sublevare). 674 (transire); Dt. Wb.
14, 1356 ff.; Kluge²¹ 611 (s. v. Ruck); Kluge²⁵ s. v. Ruck;
ePfeifer, Et. Wb. s. v. rücken. – Riecke 1996: 190 f.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. rücken, rucken sw.v. ‚sich bewegen, den
Standort wechseln, losgehen auf jmdn., etw. be-
wegen, verrücken, versetzen, eine Waffe zie-
hen, eine Situation, einen Zustand grundlegend
verändern‘; mndl. rucken sw.v. ‚rücken, pflü-
cken, mit Gewalt oder Kraft entfernen, mit
Kraft bewegen‘, nndl. rukken sw.v. ‚sich fort-
bewegen, gehen, rücken, mitschleppen, sich be-
wegen, sich losreißen‘; aisl. rykkja sw.v. ‚rü-
cken, werfen, eilen‘, nisl. rykkja sw.v. ‚raffen,
reißen‘, fär. rykkja sw.v. ‚zupfen, ziehen‘,
adän., ält. ndän., ndän. rykke sw.v. ‚rücken, zu-
cken, ziehen, zupfen‘, nnorw. (bm.) rykke, (nn.)
rykka, rykke, rykkja, rykkje sw.v. ‚rücken, zie-
hen‘, aschwed. rykk(i)a sw.v., nschwed. rycka
sw.v. ‚reißen, zerren, zupfen, rupfen, zucken,
ziehen, rücken‘: < urgerm. *rukkii̯e/a-.
Dazu gehört vielleicht auch me. richen (rich[e],
ric[h]chen, ruchen) sw.v. ‚ordnen, fertig ma-
chen, reparieren, verbessern, ziehen, reißen,
rennen, bewegen‘. Die teilweise abweichende
Semantik erklärt eOED s. v. †rich v.² durch
Einfluss von me. recchen sw.v. ‚sprechen, ge-
hen‘ (s. recken).
Daneben steht urgerm. *rukkōi̯e/a- sw.v. II, das
(außer möglicherweise in mhd. rocken [s. o.]) in
mndl. rocken sw.v. ‚rücken, pflücken, mit Ge-
walt oder Kraft entfernen, mit Kraft bewegen‘,
nndl. dial. rokken sw.v. ‚sich fortbewegen, ge-
hen, rücken, mitschleppen, sich bewegen, sich
losreißen‘, ae. roccian sw.v. ‚wiegen, schau-
keln‘, me. rokken (rok[ke], rokki, rocke[n], ro-
cki, rke[n]) sw.v. ‚wiegen, schaukeln, gehen‘,
ne. rock sw.v. ‚schaukeln, erschüttern, (sich)
wiegen, schütteln, mitreißen, schwanken, rüt-
teln‘ und ndän., nnorw. rokke sw.v. ‚wackeln,
schwanken, (sich) wiegen‘, nschwed. rucka,
dial. auch rocka sw.v. ‚dss.‘ fortgesetzt ist.
Mndl. rocken ist vielleicht wie mhd. rocken (s. o.) eben-
falls eine Form mit seltenem -o- neben -u- (zu einem sol-
chen Nebeneinander vgl. Franck 1910: § 72 mit u. a.
brogge für übliches brugge ‚Brücke‘).
Neben urgerm. *rukkii̯e/a- und *rukkōi̯e/a- liegen
im Mndd. und im Nordgerm. auch Formen mit
*-ǥǥ- vor: mndd. rüggen sw.v. ‚sich bewegen,
den Standort wechseln, losgehen auf jmdn.,
etw. bewegen, verrücken, versetzen, eine Waffe
ziehen, eine Situation/einen Zustand grundle-
gend verändern‘; aisl. rugga sw.v. ‚schütteln,
schaukeln, wiegen‘, nisl. rugga sw.v. ‚wiegen,
schaukeln, schlingern‘, fär. rugga sw.v. ‚schau-
keln, wiegen, schwanken‘, adän. rygge sw.v.
‚bewegen‘, ndän. rygge sw.v. ‚dss.‘, nnorw.
rugge sw.v. ‚wiegen, schaukeln, schwanken‘,
nschwed. rugga sw.v., dial. rogga sw.v. ‚wie-
gen, schaukeln, schwanken‘.
Aus dem Skand. sind me. ruggen (rug[ge],
rog[ge(n)]) sw.v. ‚ziehen, reißen, schütteln, zit-
tern, wackeln‘, ne. rug sw.v. ‚ziehen, reißen‘
entlehnt.
Zur prinzipiell unterschiedlichen Erklärung des Nebenei-
nanders der Formen mit Doppeltenues und Doppel-
medien vgl. einerseits etwa Wissmann 1932 passim und
Lühr 1988: 350 (zuletzt dies., ABäG 71 [2014], 257 f.),
die die Formen mit Doppelmedien als Lautsymbolismus
ansehen, andererseits etwa G. Kroonen, in Nielsen
Whitehead u. a. 2012 passim und Scheungraber 2014
passim, die analogische Vorgänge annehmen.
Kroonen, Et. dict. of Pgm. 417; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. 2, 2, 2319 ff.; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6,
1579. 1688; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 564; Suppl. 141;
Vries, Ndls. et. wb. 596; Et. wb. Ndl. Ke-R 692 f.; WNT
s. vv. rokken³, rukken; Holthausen, Ae. et. Wb. 262;
Bosworth-Toller, AS Dict. Suppl. 2, 52; eMED s. vv.
richen v.¹, rokken v., ruggen v.; Klein, Compr. et. dict. of
the Engl. lang. 2, 1353; eOED s. vv. †rich v.², rock v.¹,
rug v.¹; Vries, Anord. et. Wb.² 452. 455; Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 715; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 124.
141 f.; ONP s. vv. rugga², rykkja; Holthausen, Vgl. Wb.
d. Awestnord. 232. 233; Magnússon, Ísl. Orðsb. 777.
783; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 2, 910. 918. 926. 927;
Nielsen, Dansk et. ordb. 348 (rokke²). 353; Ordb. o. d.
danske sprog 17, 1215 ff. (rokke³); 18, 31 f. (rygge¹).
51 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 547 (rugga¹). 556
(rykkja¹); NOB s. vv. rokke², rugge², (bm.) rykke, (nn.)
rykka, rykke, rykkja, rykkje; Hellquist, Svensk et. ordb.³
2, 849. 850. 857; Svenska akad. ordb. s. vv. rugga v.¹,
rucka v.¹, rycka v.¹. – Björkman [1900–02] 1973: 2, 252;
Wissmann 1932: 176.
Urgerm. *rukk- < vorurgerm. *ruk-n´- ist eine
Bildung zur Verbalwz. uridg. *h₃reu̯k- ‚(aus-)gra-
ben, (aus-)rupfen‘.
Die Wz. uridg. *h₃reu̯k- ist u. a. fortgesetzt
in: ai. luñc- ‚rupfen‘ (vgl. kuluñcá- m. ‚Dieb‘),
lat. (denominal) runcāre ‚jäten‘ aus einem
n-Infix-Präs. uridg. *h₃ru-né/n-k-; gr. ὀρύσσω,
att. ὀρύττω ‚grabe, scharre‘ aus einem i̯e/o-Präs.
uridg. *h₃ruk-i̯é/ó- (nach Beekes, Et. dict. of Gr.
2, 1113 wegen zugehörigen Formen mit -χ-
als Fortsetzung von sekundärem, expressivem
*-gh-); lett. rukît (-u, -ĩju) ‚(die Erde mit den
Händen) aufwühlen (wie man es im Herbst beim
Kartoffelaufnehmen tut)‘ < uridg. *h₃ruk-éi̯e/o-
(zur Bildeweise dieser Verben vgl. Forssman
2001: 196); möglicherweise gehört auch air.
rucht ‚Schwein‘ < urkelt. *ruk-tu- (< vorurkelt.
*h₃rúk-tu-) dazu (vgl. auch zur Überlieferung
Irslinger 2002: 124).
Zur Bed.entwicklung von ‚rupfen‘ zu ‚fortbewe-
gen‘ vgl. etwa die Bed.spanne der Verben nhd.
ziehen oder nndl. trekken, die neben ‚ziehen‘
auch ,fortreisen, sich wohin begeben‘ bedeuten.
Das in der Literatur ebenfalls angeführte Verb lett. rũķêt
‚unermüdlich, fleißig arbeiten, geschäftig sein, wühlen,
schüren, scharren‘ (vgl. u. a. Et. wb. Ndl. Ke-R 692 f.;
Beekes, Et. dict. of Gr. 2, 1113) ist laut Mühlenbach-
Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3, 570 kein Erbwort, sondern
stammt teils aus mndd. rôken sw.v. ‚besorgt sein‘ (Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2, 2203), teils aus mndd.
rûken sw.v. ‚riechen‘ (Lasch-Borchling, Mndd. Handwb.
2, 2, 2317 f.).
G. Restelli, Istituto Lombardo 91 (1957), 475 führt alb.
rrah ‚Berg‘ auf uridg. *rou̯k-so- zurück und stellt das
Wort damit zu dieser Gruppe. Das ist jedoch unwahr-
scheinlich. Das Wort gehört mit Matzinger 2006: 255 f.
besser als postverbale Bildung zu alb. rreh ‚schlagen,
fällen‘ (zur Wz. uridg. *u̯reh₁ĝ- ‚brechen, reißen‘ [LIV²
698]; vgl. auch Demiraj, Alb. Et. 348; Orel, Alb. et. dict.
377); jetzt anders zu rreh Schumacher-Matzinger, Ver-
ben des Altalb. 994: Verbindung mit aalb. rā (dem supp-
letiven Aor. von bie ‚fallen, schlagen‘), also zu uridg.
*(h₁)reh₁s- ‚sich stürzen‘ (LIV² 501; Schumacher-
Matzinger, Verben des Altalb. 966).
Ob die Verben mit Doppeltenues zunächst auf Verbaldj.
mit *-nó- mit anschließender Verselbständigung des
Musters zur Wiedergabe von Intensiva und Iterativa be-
ruhen (so Wissmann 1932 passim; Lühr 1988: 347–350)
oder ob sie nahezu sämtlich auf neh₂-Verben zurückge-
hen (so G. Kroonen, in Nielsen Whitehead u. a. 2012 pas-
sim und Scheungraber 2014 passim), ist strittig.
Walde-Pokorny 2, 353. 361 f.; Pokorny 863. 869 f.; LIV²
307; Mayrhofer, KEWA 1, 241; 3, 105; ders., EWAia 1,
375 f.; 2, 479; Frisk, Gr. et. Wb. 2, 430 f.; Chantraine,
Dict. ét. gr.² 799; Beekes, Et. dict. of Gr. 2, 1113; Walde-
Hofmann, Lat. et. Wb. 2, 452; Ernout-Meillet, Dict. ét.
lat.⁴ 582; de Vaan, Et. dict. of Lat. 530; Mühlenbach-
Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3, 556; Fick 2 (Kelt.)⁴ 235; Vendryes,
Lex. ét. de l’irl. anc. R-50 (rucht³); eDIL s. v. rucht³.
RS