rûh
Volume VII, Column 705
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rûh adj. a-St., seit dem Anfang des 9.
Jh.s in Gl. und in B, GB, bei N, in WH: ‚sta-
chelig, grob, borstig, struppig, zottig, uneben,
dick, rau; asper, cristatus, drustus [= durus ?],
hirsutus, hirtus, hispidus, pilosus, saetiger,
scaber, villosus‘ 〈Var.: -uu-, -uo-; -ch〉. – Mhd.
rûch (rouch [rauch], rûhe, rûwe, , gen. rûhes
[rûches, rauches], rûwes) adj. ‚haarig, struppig,
zottig, rau, hart, streng, wirsch, ungebildet‘,
frühnhd. rauch adj. ‚rau, schroff‘, nhd. rau adj.
‚auf der Oberfläche kleine Unebenheiten, Risse
o. Ä. aufweisend, sich nicht glatt anfühlend,
nicht mild, sondern unangenehm kalt, (von ei-
ner Landschaft o. Ä.) nicht lieblich anmutend,
unwirtlich, (von der Stimme o. Ä.) nicht volltö-
nend, heiser, kratzig, (vom Hals) entzündet und
deshalb eine unangenehm kratzende Empfin-
dung hervorrufend, im Umgang mit anderen
Feingefühl vermissen lassend, (landschaftlich)
roh‘ neben veralt. rauch adj. ‚behaart, haarig,
mit Haaren bewachsen‘, das heute nur noch in
den Komp. Rauchwerk n. ‚Pelzwerk‘ und
Rauchware f. ‚Pelzware‘ fortlebt.
Die Formen rau und rauch sind das Resultat
einer Paradigmenspaltung: rauch setzt die un-
flektierte Form mhd. rûch, rau die flektierte
Form mhd. rûher fort.

Ahd. Wb. 7, 1204 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 769; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. rūh; Schützeichel⁷ 266; Starck-Wells 496;
Schützeichel, Glossenwortschatz 8, 16 f.; Seebold,
ChWdW9 688. 1100; Graff 2, 438 f.; Heffner 1961: 123;
Lexer 2, 519 f.; Götze [1920] 1971: 173; Diefenbach, Gl.
lat.-germ. 54 (asper). 278 (hirsutum). 435 (pilosus).
514 f. (scaber). 531 (setiger). 619 (villosus); Götz, Lat.-
ahd.-nhd. Wb. 57 (asper); Dt. Wb. 14, 241. 262 ff.;
Kluge²¹ 586 f.; Kluge²⁵ s. vv. rau, Rauchwerk; ePfeifer,
Et. Wb. s. v. rauh.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. (ruͤ, rûw, ruv; flektiert -, ruh-,
rûw-), rûch (rugh, flektiert rûg-), rouw (row)
adj. ‚behaart, gefiedert, stachlig, flockig, wol-
lig, bewachsen, unbearbeitet, aus Fell gefertigt,
grob (gewebt), schlicht, einfach, uneben, unan-
genehm, ungeordnet, wild, ungebändigt, unge-
sittet‘; andfrk. (nur in ON) adj. ‚rau, bewach-
sen‘, frühmndl. ru (ro[u]w-, ru[u], ruw-, rv[v])
adj. ‚behaart, dicht bewachsen, grob, uneben,
blutrünstig‘, ruuch adj. ‚borstig‘, mndl. ru (ruw,
rouw) adj. ‚haarig, behaart, bewachsen, uneben,
grob, wild, blutrünstig, gefühllos, unfreundlich,
hart‘, ruuch (ruych, riech) adj. ‚rau, haarig, be-
haart, grob, roh, beleidigend, hart‘, nndl. ruw
adj., dial. rouw adj. ‚haarig, behaart, bewach-
sen, uneben, rau, heiser, wüst, hart, streng, un-
freundlich, ungesittet, roh‘, ruig adj. ‚haarig,
behaart, stoppelig, bewachsen, grob, uneben,
hart, wüst, unbearbeitet, unfertig, ungenau,
ohne Manieren, roh, wild‘; afries. rūch adj.
‚rau, von rauem Bewuchs‘, frühnwestfries.
ruwg adj. ‚rau‘, nwestfries. rûch adj. ‚behaart,
struppig, haarig, grob, roh, bewachsen, uneben,
unordentlich, oberflächlich, ungesittet, unbear-
beitet, unbehandelt‘, saterfries., wang. ruuch
adj. ‚rau‘, fa. rüch, röög adj. ‚rau, struppig, be-
haart, mit dichtem Gras bewachsen, unrasiert,
unbearbeitet, roh (Holz), unordentlich, grob im
Umgang, verschwenderisch (mit Geld und Ma-
terial)‘, helg. rich adj. ‚rau‘, sylt. rüch adj. ‚rau,
behaart, zottig‘, bök. rüch, röög adj. ‚rau, nicht
glatt, unfreundlich, grob, roh, unordentlich,
verschwenderisch‘, hall. ruch adj. ‚rau, strup-
pig‘, karrh. rüch, röög adj. ‚rau, zottig, lang be-
haart, mit langem, dichtem Grase bewachsen‘,
mgos. rüch adj. ‚rau, zottig, lang behaart, mit
langem, dichtem Grase bewachsen‘, ält. ngos.
rüch adj., ngos. rüch adj. ‚rau, zottig‘, sgos.
rüch adj. ‚rau, struppig, mit langem Gras be-
wachsen‘, wied. rüch adj. ‚rau, nicht glatt, un-
gekämmt, roh, unzivilisiert‘; ae. rūh (rūg [mit
inversem g; vgl. Brunner 1965: § 223 Anm. 1];
flektiert -, rūh-, rūw-) adj. ‚rau, grob, haarig,
unbereitet, ungezähmt‘, me. rough(e) (rought,
rouȝh, rouȝ[e], rouh[e], rou[e], rouwe, ru[ȝh],
ruȝghe, ruȝ[e], rogh[e], roght, roch, rugh[e],
rught, rohu, routh, raue, ruch, rug, ruth, roȝ[e],
ruȝhȝ[e], [frühme.] ruh[e], ruchȝe, ruwe, ruwa)
adj. ‚uneben, nicht glatt, wüst, wild, haarig, be-
haart, wild, mächtig, roh‘, ne. rough adj. ‚rau,
derb, spröde, hart, ruppig, uneben, stürmisch,
bewegt, kratzig, rüde, herb, grob, bäurisch‘:
< urgerm. *rūǥa- : *rūχa-.
Aus dem Mndd. ist das Wort in ndän. ru adj.
‚rau‘, nnorw. ru adj. ‚dss.‘, nschwed. rug adj.
‚dss.‘ entlehnt.

Im As. ist das Adj. trotz gegenteiliger Angabe in eOED
s. v. rough adj. (and int.) nicht belegt.

Von dem Adj. sind u. a. folgende Subst. abge-
leitet: as. rūwī f. ‚Struppigkeit, raues Fell‘ < ur-
germ. *rū(ǥ)ī(n)-; aschwed. ryghia f. ‚grobe
Decke aus Haar‘ < urgerm. *rūǥiō(n)-; as. rūgī
f. ‚raues Fell, grobe Decke‘, aschwed. ryge f.
‚grobe Decke aus Haar‘ < urgerm. *rūǥī(n)-;
ahd. rûhî f. ‚das Borstige‘ (s. d.; auch zu weite-
ren Verwandten im Nordgerm.) < rūχīn-; ae.
angl. ryhae f., ae. rēo(we) f. ‚Decke Mantel‘,
aschwed. ryja f. ‚grobe Decke aus Haar‘ < ur-
germ. *rūχiōn- (für die aschwed. Formen vgl.
Söderwall 1884 ff.: 2, 1, 271).

Die Lemmaansätze as. rūhi (anstelle von rūwī) und rūhia
(anstelle von rūgī) bei Tiefenbach, As. Handwb. 318 sind
wohl nicht richtig.
Heidermanns, Et. Wb. d. germ. Primäradj. 454 f. (und
nach ihm auch eOED s. v. rough adj. [and int.]) nimmt
als Vorform urgerm. *rūχa- an: Die einzelsprachlichen
Formen mit -w- seien das Resultat eines Gleitlauts nach
Schwund von *χ. Dagegen sprechen jedoch die oben ge-
nannten Ableitungen des Adj., die auch eine Varianz
zwischen -h- und -w(, g)- zeigen (vgl. Schaffner 2001:
310); die Ableitungen stammen sicherlich aus der Zeit
vor dem Schwund vom *χ.

Fick 3 (Germ.)⁴ 350; Heidermanns, Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 454 f.; Tiefenbach, As. Handwb. 318;
Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 216; Lasch-Borchling,
Mndd. Handwb. 2, 2, 2290 ff.; Schiller-Lübben, Mndd.
Wb. 3, 517 f.; ONW s. v. ; VMNW s. vv. ru¹, ruuch;
Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6, 1665 ff. 1728 f.; Franck,
Et. wb. d. ndl. taal² 562. 566; Vries, Ndls. et. wb. 594.
598; Et. wb. Ndl. Ke-R 689. 695; WNT s. vv. rouw², ruig¹,
ruw; Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 409; Fryske wb. 18,
173 ff.; Dijkstra, Friesch Wb. 3, 45; Fort, Saterfries. Wb
504; Sjölin, Et. Handwb. d. Festlnordfries. XXXIV. 168;
Faltings, Et. Wb. d. fries. Adj. 437 f.; Holthausen, Ae. et.
Wb. 257. 258. 264. 265; Bosworth-Toller, AS Dict. 792.
803. 805; Suppl. 686. 690; Suppl. 2, 53; eMED s. v.
rough(e) adj.; Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2,
1359; eOED s. v. rough adj. (and int.); Falk-Torp, Norw.-
dän. et. Wb. 2, 915; Nielsen, Dansk et. ordb. 349; Ordb.
o. d. danske sprog 17, 1317 f.; NOB s. v. ru adj.; Svenska
akad. ordb. s. v. rug adj. – Schaffner 2001: 309–314.

Das Adj. urgerm. *rūǥa- : *rūχa- hat in den
anderen idg. Sprachen keine Entsprechungen.
In der Regel werden die germ. Wörter als
wz.verwandt zu ai. rūkṣá- adj. ‚rau, trocken,
fettlos, mager‘, lūkṣá- adj. ‚rau‘, mi., ni., pāli
rukkha- ‚rau‘, lūkha- ‚rau, mager, arm‘, aav.
urusa- adj. ‚abgemagert, arm‘ (Y 29,7); lit.
raũkas m. ‚Falte‘, raũkti ‚falten, binden‘, rùkti
‚runzlig, faltig werden, verschrumpfen‘, lett.
ŗaũks m. ‚Schnur am ledernen Bauernschuh,
Schnur zum Flicken‘, ŗaũkt ‚enger machen,
zusammenziehen‘ gestellt. Dazu gehören
möglicherweise auch (mit unbestimmbarem
Guttural) toch. AB ruk- ‚abmagern‘ und mit si-
cher abweichendem Guttural noch lat. rūga f.
‚Runzel, Falte‘.
Die aav. Form weist auf ein Rekonstrukt mit
Palatal, die balt. Formen auf einen Velar. Im
Balt. kann eine nicht vollständige Palatalisie-
rung eingetreten sein. Das Lat. verlangt dage-
gen einen stimmhaften Guttural.
Dabei gibt es aber einige Schwierigkeiten.
Denn die Bed. im Germ. weist einhellig auf eine
Grundbed. ‚haarig, borstig‘ (vgl. Heidermanns,
Et. Wb. d. germ. Primäradj. 455), die sich in
den anderen Sprachen nicht findet. Entweder ist
im Germ. die ursprüngliche Bed. erhalten, die
sich in den anderen Sprachen über ‚rau‘ weiter
zu ‚trocken‘, ‚mager‘/‚runzlig‘ entwickelte oder
die Ausgangsbed. war ‚trocken‘, die einerseits
zu ‚haarig‘ (über ‚belegt‘?; vgl. ‚belegte Zunge‘ :
‚pelzige Zunge‘), andererseits zu ‚mager‘/
‚runzlig‘ wurde. Auch lautlich gibt es einige
Probleme. Denn die Formen mit -ū- weisen auf
eine Vorform mit Laryngal *-uH-, womit aber
lit. rùkti mit *-u- nicht kompatibel ist. Möglich
wäre, dass die Form sekundär auf lit. raũkti auf-
gebaut ist, wo der Laryngal nach dem Saussure
Effekt (*-oR/HC- > *-oR/C-) verloren ge-
gangen ist (zu diesem Gesetz im Balt. vgl. Y.
Yamazaki, JIES 37 [2009], 430–461; dagegen
aber T. Pronk, JIES 39 [2011], 176–193, zum
Balt. 180–184); es bleibt für das Balt. also un-
sicher, ob die Wz. *reK- oder *reHk- lautete.
Für das Nebeneinander von urgerm. *rūǥa- :
*rūχa- kann *-ū- nur in *rūχa- lautgesetzlich
sein (als Parallele eines der seltenen baryton be-
tonten Adj. mit dem Suff. *-o- vgl. uridg.
*ph₂-o- ‚erster, vorderer‘), da in einer Folge
VHKn der Laryngal schwindet (vgl. zum La-
ryngalschwund in dieser Konsonantenfolge
ausführlich Neri 2011: 244–280); eine Vorform
*ruHkó- hätte somit urgerm. **ruǥa- ergeben.
Hier muss daher *-ū- analogisch wieder einge-
führt worden sein.
Wegen der Bed. ‚struppiges Fell‘ kommt für
das Germ. auch eine Anbindung an die Ver-
balwz. uridg. *reH- ‚aufreißen‘ in Frage, da
hier Bildungen mit ähnlicher Bed. im Germ. in
aisl. rýja ‚Wolle abreißen‘ (< uridg. *ruH-é/ó-)
und rǫggr m. ‚langes Haar‘ (< urgerm. *raa-
< vorurgerm. *H-o-) belegt sind. Aber bei
diesem Anschluss muss einerseits eine sonst
nicht belegte Wz.erweiterung angenommen
werden, andererseits in urgerm. *rūǥa- das
*-ū- sekundär wieder eingeführt sein.
Möglich ist schließlich auch ein einzelsprach-
licher Zusammenfall der Wz. *reH- und
*re(H)K-.
Keine Etym. ist daher sicher.

Walde-Pokorny 2, 353; Pokorny 870; LIV² 510; Mayrhofer,
KEWA 3, 70; ders., EWAia 2, 455; Bartholomae, Airan.
Wb.² 1533; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 2, 448 f.;
Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 579; de Vaan, Et. dict. of
Lat. 528; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 240; Fraenkel, Lit.
et. Wb. 2, 706 f.; Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.² 1006 f.;
ALEW 2, 849. 878; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb.
3, 587; Karulis, Latv. et. vārd. 742; Adams, Dict. of Toch.
B² 583; Malzahn, Toch. Vb. Sys. 830.

RS

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