rhen sw.v. I, einmal in Nps: ‚brüllen;
rugire‘. Ein zweiter Beleg des Verbs liegt nach
mehrheitlicher Auffassung auch in Gl. 4,18,26
(Jc): ruhin. leuuin . rugitus (2. Viertel des 9.
Jh.s, alem.) vor; ruhin sei ein subst. Inf. Da da-
bei jedoch die Schreibung mit i auffällig
bleibt, wurde einerseits eine Verschreibung für
ahd. ruhit ‚Gebrüll, Geschrei‘ (s. d.) vorge-
schlagen (Krotz 2002: 553; mit -in wohl unter
Einfluss von -in des nachfolgenden Wortes
leuuin), andererseits ein Subst. „〈ruhīn〉 st.
F.“ (Schützeichel, Glossenwortschatz 8, 17;
Schützeichel⁷ 266). Schützeichel nimmt an,
dass der Beleg ein Verbalabstraktum mit dem
Suffix urgerm. *-īni- (vgl. dazu Krahe-Meid
1969: 3, § 98, 2) zum Verb ruhen ist. Dies ist
wohl die einfachste Erklärung für 〈ruhin〉, da
in Jc die Nom.Sg.-Endung als 〈-in〉 für nor-
malahd. 〈-i〉 belegt ist (vgl. die Angabe in
Braune-Heidermanns 2018: § 228 Anm. 1;
vgl. etwa Gl. 4,11,33: nom.sg. feistin). Unsi-
cher bleibt die Länge des Wz.vokals -u- in den
beiden Wörtern, da auch ein Langvokal mög-
lich ist (s. u.).
Ahd. Wb. 7, 1244 (Ansatz ruoen); Splett, Ahd. Wb. 1,
769; eKöbler, Ahd. Wb. s. v. ruhen; Schützeichel⁷ 266;
Starck-Wells 496; Schützeichel, Glossenwortschatz 8,
17; Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 725 (II); Seebold,
ChWdW9 688; Graff 2, 431 f.; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb.
580 (rugire). – Riecke 1996: 579.
Bei einem Ansatz ahd. ruhen < westgerm.
*ruχi̯e/a- gibt es in den anderen germ. Sprachen
keine Entsprechungen. Eine Form mit Kurzvo-
kal wird aber durch die Gruppe um ahd. rohôn
‚brüllen‘ (s. d.) < *ruχōi̯e/a- vorausgesetzt.
Wenn die Form dagegen ahd. rūhen lautet,
stehen mhd. ruohen (md. rûhen) sw.v. ‚brül-
len, grunzen‘, frühnhd. ruhen sw.v. ‚brüllen,
schreien‘, mndd. rûjen (ruͤien, ruyen), rûgen
(-gg-), rûchen, rûwen, rûen sw.v. ‚lärmen,
brüllen, lärmend laufen, heftig drängen‘‚ ae.
rȳn sw.v. ‚brüllen‘ < westgerm. *rūχii̯e/a- am
nächsten.
Fick 3 (Germ.)⁴ 350; Lasch-Borchling, Mndd. Hand-
wb. 2, 2, 2316; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 3, 523;
Holthausen, Ae. et. Wb. 265; Bosworth-Toller, AS Dict.
805; Suppl. 691. – Lexer 2, 483; Dt. Wb. 14, 427. –
Schuldt 1905: 51; Wissmann 1932: 87 f.; Brunner 1965:
§ 408 Anm. 17.
Urgerm. *rχ(i)i̯e/a- hat Entsprechungen in
aksl. rykati ‚brüllen‘, aruss. rykati, ryčati,
nruss. rykát’, ryčát’ ‚brüllen, grunzen‘, uk-
rain. rýkáty, ryčáti ‚brüllen‘, wruss. rykáć
‚dss.‘, bulg. ríkam ‚brülle‘, serb., kroat. ríkati
‚brüllen‘, slowen. ríkati, rícati ‚dss.‘, tschech.
ryčet, rýkat ‚schreien, brüllen‘, slowak. ryčat’
‚brüllen, grunzen‘, poln. ryczeć, dial. rykać
‚brüllen‘, osorb. ryčeć ‚brüllen, rauschen,
schnarren‘, ndsorb. rycaś ‚brüllen, schreien,
röhren, heulen‘ (< gemeinslaw. *ryk/čati), slo-
wen. rúkati, rúčati ,brüllen‘, slowak. rúkat’,
ručat’ ‚brüllen‘, osorb. ručeć, rukać ‚dumpf
brüllen, röhren‘ (< gemeinslaw. *ruk/čati) und
lit. rkti ‚brüllen‘, lett. rūkt [rûkt] ‚brüllen,
brausen, sausen, brummen, knurren‘ (< urbalt.
*rūkti).
Während die einzelsprachlichen langvokali-
schen Formen auf uridg. *(H)ruHk- weisen,
sind die kurzvokalischen Formen erklärungsbe-
dürftig. Sie beruhen entweder als Neubildung
auf o-stufigen Formen mit regulärem Laryn-
galschwund nach dem de Saussure Effekt
*-oR/U̯HC- > *-oR/U̯C- oder auf Bildungen
mit nachfolgendem Halbvokal oder Resonant
mit Wirkung der Wetterregel VHKnR/U̯V >
VKnR/U̯V (zu dem de Saussure Effekt im Balt.
vgl. Y. Yamazaki, JIES 37 [2009], 430–461;
dagegen aber T. Pronk, JIES 39 [2011], 176–
193, zum Balt. 180–184; zur Wetterregel vgl.
Neri 2017 passim).
Bei einer Wurzelform uridg. *(H)ruHk- ist das
Verb wahrscheinlich eine Erweiterung mit *-k-
von uridg. *h₃reu̯H- ‚brüllen‘, das u. a. in ved.
(sekundär thematisiert) ruváti ‚brüllt‘, jav.
uruuatō part.präs.gen.sg. ‚des brüllenden‘ und
aksl. rjuti, ruti ‚brüllen‘ (< uridg. *h₃réu̯H-/
h₃ruH-) fortgesetzt ist. Der anlautende Laryn-
gal ist durch Komp. wie ved. tuvī-ráva- adj.
‚mächtig brüllend‘ gesichert.
Damit ist die Annahme einer onomatopoeti-
schen Bildung oder einer onomatopoetischen
Dehnung des Vokals hinfällig.
Walde-Pokorny 2, 349 f.; Pokorny 867 f.; LIV² 306;
Mayrhofer, KEWA 3, 82; ders., EWAia 2, 439; Bartholomae,
Airan. Wb.² 1535 (urvata-²); Cheung, Et. dict. of Iran.
verb 194 f.; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 247; Et. slov. jaz.
staroslov. 786 f.; Bezlaj, Et. slov. slov. jez. 3, 180. 206;
Snoj, Slov. et. slov.³ 645. 656; Vasmer, Russ. et. Wb. 2,
555; ders., Ėt. slov. russ. jaz. 3, 527 f.; Schuster-Šewc,
Hist.-et. Wb. d. Sorb. 1256; Fraenkel, Lit. et. Wb. 2, 747;
Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3, 569; Karulis,
Latv. et. vārd. 768. – Gotō 1987: 265–267; Rasmussen
1989: 229 f.
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