rûna f. ō-St., in Gl. 1,210,20 (zwischen
820 und 830, bair.). 251,11 (1. Viertel des 9.
Jh.s, alem.[-bair.]) und 2,301,45 (um 1000 und
im 11. Jh., bair.): ‚Raunen, Geheimnis, Geflüs-
ter; introrsus [= in runa], mysterium, susur-
rium‘. Daneben erscheint das Wort auch als Be-
standteil in ahd. PN (vgl. Förstemann [1900–
16] 1966–68: 1, 1284 f.), der älteste Beleg auf
ahd. Boden ist vorahd.-run. PN (e. S.) aïlrun
(Gürtelschnalle von Pforzen, 567–600; vgl. N.
Wagner, in Bammesberger 1999: 93; Nedoma
2004: 167–171; für abweichende Lesungen vgl.
die Auflistung aller bisherigen Transliteratio-
nen der Inschrift bei Findell 2012: 446 f.); zur
lautgesetzlichen Endungslosigkeit im Nom.Sg.
von PN, die als KHG einen f. ō-St. enthalten,
vgl. Braune-Heidermanns 2018: § 207 Anm.
2.c. – Mhd. rûne st.f. ‚Geheimnis, das leise Spre-
chen, Geflüster, die geheime Beratung‘, frühnhd.
raune f. ‚Geflüster, geheime Stimmabgabe‘,
nhd. dial. schweiz. rūn f. ‚geheime Abstimmung‘,
vorarlb. †rune f. ‚geheime Beratung, geheime
Abstimmung, das Stimmgeben in das Ohr einer
vereidigten Magistratsperson‘.
In der Forschung ist umstritten, ob das gleich-
lautende Lexem mit der Bed. ‚Rune, germani-
sches Schriftzeichen‘ hiermit identisch oder da-
von zu trennen ist (s. u.). Dieses Wort ist als
vorahd.-run. akk.sg./pl. (e. S.) runa auf der Bü-
gelfibel von Frei-Laubersheim (520–560), dem
Stab von Neudingen-Baar (532–535), dem Ein-
fassungsring von Pforzen (ca. 600) und ahd. als
KVG in rûnstab m. ‚Eulogie, Schrift(stück)‘
(s. d.) belegt. Das im Dt. in dieser Bed. mit der
Sache selbst schon früh untergegangene Wort
wird im 17. Jh. als Rune aus dem Nordgerm. neu
entlehnt (in gelehrter Sprache), zuerst im Sinne
von ‚germanischer Sänger‘; ab Anfang des 18.
Jh.s setzt sich die Bed. ‚germanisches Schrift-
zeichen‘ durch, später kommt noch die Bed.
‚Lied der älteren finnischen Volksdichtung‘
nach finn. runo ‚Gedicht, Poesie‘ hinzu.
Zur Verwendung der Runenschrift als Geheimschrift in
ahd. Griffelglossen vgl. Nievergelt 2009: 29–75 (mit
dem auf S. 40 in Runenschrift geschriebenen Komp.
girûni n. ‚Geheimnis‘ [s. d.]).
Ahd. Wb. 7, 1224; Splett, Ahd. Wb. 1, 771; eKöbler, Ahd.
Wb. s. vv. runa, rūna; Schützeichel⁷ 266; Starck-Wells
496; Schützeichel, Glossenwortschatz 8, 20; Bergmann-
Stricker, Katalog Nr. 298 (I). 665. 895; Seebold,
ChWdW8 243 f. (s. vv. runa, rūna) 430. 458; ders.,
ChWdW9 689; Graff 2, 523 ff.; Lexer 2, 538; Götze
[1920] 1971: 174; Dt. Wb. 14, 294. 1518 f.; Kluge²¹
614 f.; Kluge²⁵ s. vv. raunen, Rune; ePfeifer, Et. Wb. s. v.
Rune. – Schweiz. Id. 6, 1016 f.; Stalder, Versuch eines
schweiz. Id. 2, 264; Jutz, Vorarlberg. Wb. 2, 790 f. –
DRW 11, 202. – Findell 2012 passim.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
lat.-germ. r(h)una f. ‚Rune‘ (am wichtigsten
das Zeugnis bei Venantius Fortunatus carm.
7,18,19 f.: barbara fraxineis pingatur rhuna ta-
bellis, / quodque papyrus agit uirgula plana
ualet ‚die barbarische Rune werde getrost auf
eschene Tafeln geschrieben: was der Papyrus
vermag, tut der geglättete Zweig‘); as. rūna f.
‚(vertrauliche) Beratung, (geheime) Bespre-
chung‘, mndd. (mit unklarem Genuswechsel)
rûn, rûm m. ‚heimliche Mitteilung, Gerücht‘
(auch in der Formel rûn unde/efte rât ‚geheime
Beratung, Mitwissen und Beteiligung an Vor-
bereitung und Ausführung einer Handlung, ei-
nes Vergehens‘; mndl. rune (ruun, ruen) (f.)
‚Geflüster, geheime Beratung/Besprechung‘
(nur in der Formel in [met] runen [rune, ruen]
ende in [met, mit] rade ‚das im Geheimen
Schmieden eines Plans, das Planen eines An-
schlags und die heimliche Mitwirkung an des-
sen Ausführung‘); ae. rūn f. ‚Geheimnis, Rat,
Beratung, Rune, Schrift‘, me. rǒun(e) (neben
rọ̄n[e], nordme., frühme. rūn[e]) ‚Geheimnis,
Rat, Beratung, Gespräch, Schrei, Buchstabe,
Rune‘; run. (nur die ausgeschriebenen Belege
aus den Inschriften im älteren Futhark) dat.sg.
(e. S.) ronu (Stein von Björketorp, ca. 520/30–
700), akk.sg. (e. S.) runo (Stein von Einang, ca.
350–375/400; Stein von Noleby, ca. 460/70–
560/70), akk.pl. (e. S.) runoz (Spange von Eike-
land, 525–560/70; Stein von Järsberg, ca.
520/30–560/70; Brakteat von Tjurkö 1, ca.
375/400–520/30), (e. S.) ronoz (Stein von Sten-
toften, ca. 520/30–700), (e. S.) runAz (Stein von
Björketorp; Stein von Istaby, ca. 520/30–
560/70 ?), gen.pl. (e. S.) runo (Stein von Björ-
ketorp), (e. S.) runono (Stein von Stentoften),
aisl. rún f. (zumeist im Pl. rúnar) ‚Geheimnis,
Gelehrsamkeit, Dichtkunst, Geraune, Zauber-
zeichen, Rune, Buchstabe‘, nisl. rún f. ‚Rune,
altgermanisches Schriftzeichen, Wissenschaft,
Weisheit, Geheimnis‘, fär. rún f. ‚Rune, runi-
scher Buchstabe, Zauberei‘, adän. rune ‚Rune‘,
ält. ndän. rune ‚Runen als Zaubermittel‘ (in
Volksliedern im Pl. als roner, raaner), nnorw.
dial. runa ‚altes Formular‘, aschwed. (pl.) runir,
runor f. ‚Runen, Runenschrift‘; got. runa f. ‚Ge-
heimnis, Beschluss, Beratschlagung; μυστήριον,
βουλή, συμβούλιον‘: < urgerm. *rūnō-.
In der Bed. ‚Beratschlagung‘ kommt got. runa nur einmal
in Mt. 27, 1 im Cod. Argenteus vor; in der Parallelüber-
lieferung in der Hs. Ambrosianus C steht an der entspre-
chenden Stelle das dem ahd. girûni n. ‚Geheimnis‘ (s. d.)
entsprechende Komp. garuni n. ‚Beratung‘.
Aus älteren Schriften wurde das Wort mit der
Bed. ‚Rune, germanisches Schriftzeichen‘ in
ndän. rune, nnorw. (nn.) rune, nschwed. runa
wiederaufgenommen. Aus dem Nordgerm. ge-
langte es ins Nhd., woraus nndl. rune (f.) ‚ger-
manisches Schriftzeichen‘ und (über das
Ndl. ?) nwestfries. rune m./f. ‚dss.‘ stammen,
und ins Ne. als rune ‚dss.‘.
Das Wort ist in der agerm. PNgebung zwar
nicht weit verbreitet, aber überall vorhanden;
vgl. u. a.: vandal. Guiliaruna (Reichert 1987–
90: 1, 393; Francovich Onesti 2002: 160 f.
191), ostgot. Rūnilō (Wrede 1891: 152), west-
got. -rona (in Gunderona, Leoverona und
*Teuderona; vgl. Piel-Kremer 1976: 167. 194.
264. 317), as. Rūn-, -rūn (Schlaug 1955: 147.
239; ders. 1962: 149. 191), ae. -rūn (etwa in
Ælfrūn), aisl. -rún (etwa in Alfrún), langob.
Theoderuna (Francovich Onesti 2000: 217.
231); eine allgemeine Zusammenstellung bietet
Nedoma 2004: 170.
Auch ist das Wort vermutlich in lat.-got.
-runnas in (konjiziertem) Haliurunnas ‚Zaube-
rinnen; mulieres magas‘ belegt, die bei Iordanes,
get. 121 genannt sind: Filimer rex Gothorum …
repperit in populo suo quasdam magas mulie-
res, quas patrio sermone Haliurunnas is ipse
cognominat ‚Filimer, der König der Goten …
fand in seinem Volk einige Zauberinnen, die er
selbst mit dem heimischen Begriff Haliurunnas
bezeichnete‘; Haliurunnas ist dabei (metony-
misch für die Ausführenden) mit ahd. hellirûna
f. ‚Zauberei, Magie, Beschwörung‘ (s. d.) und
ae. hellerūne f. ‚Wahrsagerin‘ (mit der gleichen
Übertragung wie im Got.) gleichzusetzen
(Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 240; N. Wagner,
BNF 18 [1983], 90 f. [und Fn. 27]; Reichert
1987–90: 1, 418; E. C. Polomé, in Bergmann
1987: 2, 1106 f.; RGA² 28, 115).
Die von Scardigli 1973: 70 f. vorgeschlagene und von
Lehmann, Gothic Et. Dict. H-30 übernommene Deutung
von -runnas in Haliurunnas als eine Bildung zu got.
rinnan* ‚rennen‘ (also im Sinne von ‚Höllenrennerin-
nen‘) ist in Anbetracht der ahd. und ae. Entsprechungen
wenig überzeugend.
Der bei Tacitus, germ. 8,2 in den meisten Ausgaben er-
scheinende PN Albrunam gehört nicht hierher. Die Form
Albrunam beruht auf einer Konjektur der in einigen Hss.
stehenden Lautung Albriniam. Aber auch Albriniam ist
nicht die urspr. Namenform, sondern stellt eine gelehrt-
humanistische Verbesserung der urspr. Namenform
Auriniam dar (vgl. zum hs. Befund R. Schuhmann, BNF
34 [1999], 132–134). Die bei R. Schuhmann, a. a. O.
134–136 vorgeschlagene Deutung als lat.-kelt. Misch-
name ist wohl aufzugeben; der Name ist mit N. Wagner,
BNF 40 (2005), 331 eher eine Ableitung mit dem Suffix
urgerm. *-ini̯ō- von urgerm. *au̯ra- ‚Glanz‘, das sich u. a.
aus dem got. PN Aurgais sichern lässt (vgl. zu diesem
Element und weiteres zugehöriges Material N. Wagner,
BNF 36 [2001], 294–296; vgl. zum Namen noch etwa
L. Peterson, FS Alhaug 2002: 148–152; G. Schramm, in
van Nahl u. a. 2004: 577–582).
Finn. runo, dial. runoi ‚Gesang, Lied, Gedicht,
Vortragende(r)‘, karel. runo ‚(Volks-)Lied, Ge-
dicht, Musikinstrument‘ sind wohl aus urgerm.
*rūnō- übernommen; wegen der nur westskand.
Verbreitung ist die Annahme einer Entlehnung
aus urgerm. *runōn- ‚Reihe‘ (so W. Krause,
FUF 37 [1969], 91–97) weniger wahrschein-
lich. Aus dem Finn. stammt estn. runo ‚altes
finnisches oder estnisches Lied‘.
Fick 3 (Germ.)⁴ 348; Tiefenbach, As. Handwb. 318;
Sehrt, Wb. z. Hel.² 441; Berr, Et. Gl. to Hel. 324; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2, 2341; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 3, 531 (mit falscher Genusangabe); Verwijs-
Verdam, Mndl. wb. 6, 1700 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal²
565; Suppl. 141; Vries, Ndls. et. wb. 597; Et. wb. Ndl. Ke-R
693 f.; WNT s. v. rune; Fryske wb. 18, 191; Holthausen,
Ae. et. Wb. 264; Bosworth-Toller, AS Dict. 804; Suppl.
691; eMED s. v. rǒun(e) n.²; Klein, Compr. et. dict. of the
Engl. lang. 2, 1365; eOED s. v. rune n.²; Vries, Anord. et.
Wb.² 453 f.; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 705; Fritzner, Ordb.
o. d. g. norske sprog 3, 138; ONP s. v. rún; Jónsson, Lex.
poet. 473; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 233;
Magnússon, Ísl. Orðsb. 779 (rún¹); Falk-Torp, Norw.-
dän. et. Wb. 2, 921. 1535; Nielsen, Dansk et. ordb. 351;
Ordb. o. d. danske sprog 17, 1444 ff.; Bjorvand, Våre
arveord² 897 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 549; NOB s. v.
(nn.) rune; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 852; Svenska
akad. ordb. s. v. runa subst.¹; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr.
401; Lehmann, Gothic Et. Dict. R-32; Bruckner, Spr. d.
Langob. 301; Kylstra, Lehnwörter 3, 178. – Buti 1982:
97 f.; Bammesberger 1990: 115; Imer 2015: 17. 55. 56.
138. 139. 191. 264. 284.
Urgerm. *rūnō- hat nur im Kelt. eine Entspre-
chung: lep. (PN) Runa, Runatis, Runelos (wohl
Kurzformen zu zweigliedrigen PN), gall.
(PN) -runus, -runa (u. a. in Cobrunus, Cobruna
[< *kom-rūno/ā- ‚eingeweiht‘], vielleicht auch
Sacruna [falls < *sakro-rūnā- ‚ein heiliges/
göttliches Geheimnis habend‘]), air. rún f.
‚Geheimnis, Absicht, Kenntnis‘, mkymr. rin
m./f. ‚Geheimnis, Zauber‘, nkymr. rhin f.
‚dss.‘, abret. rin ‚Geheimnis; secretum‘ (Bauer
2008: 178), mbret., nbret. rin m. ‚Geheimnis,
Kenntnis‘, korn. (PN) Rin- (in Rinduran) <
urkelt. *rūnā-; mit den gall. PN Cobrunus,
Cobruna stimmen air. comrún n. ‚gemeinsames
Geheimnis, Vertraulichkeit‘, kymr. cyfrin adj.
‚eingeweiht, geheim‘, mbret. queffrin, nbret.
kevrin m., adj. ‚Geheimnis, geheim‘ überein.
Ob das Wort im lusit. GN Trebaruna* (so etwa
Delamarre, Dict. gaul.³ 123) vorliegt, bleibt un-
sicher, da der Name auch anders analysiert wer-
den kann, etwa als Treb-aruna im Sinne von
‚die zu einem Wasserfluss bei einem Dorf Ge-
hörende‘ (vgl. B. M. Prósper, Veleia 11 [1994],
187–196; vgl. dies., TPS 97 [1999], 165–168)
oder als Substantivierung des Adj. *treb-ro-
‚klug‘ > air. trebar adj. ‚dss.‘ (vgl. B. M. Prósper,
in Häussler-King 2017: 223).
In der Forschung ist es umstritten, ob die kelt. und germ.
Wörter ein gemeinsames (sakralsprachliches) Erbe sind
(so etwa Delamarre, Dict. gaul.³ 123; Liberman 2016:
364; J. A. Harðarson, Kratylos 54 [2009], 19; R. Lipp, FS
Lühr 2016: 240) oder ob das germ. Wort aus dem Kelt.
entlehnt ist (so etwa C. Marstrander, NTS 1 [1928], 175–
177; Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. R-53; abwägend B.
Mees, PBB 136 [2014], 530 mit Lit.; ohne Festlegung
Ringe 2006: 296). Theoretisch käme auch der umge-
kehrte Weg in Frage (so T. H. Wilbur, ScS 29 [1957], 16;
dagegen aber zu Recht R. Lipp, a. a. O. 241 f.). Da es für
die Annahme einer Entlehnung keine zwingenden
Gründe gibt, ist ein gemeinsames Erbe wahrscheinlich.
Die Etym. von urgerm. *rūnō- und urkelt.
rūnā- in der Bed. ‚Geheimnis‘ ist durch J. A.
Harðarson, a. a. O. 18 f. und R. Lipp, a. a. O. 239–
256 (wohl zuerst vorgeschlagen von Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 401; übernommen von Vries,
Anord. et. Wb.² 453) prinzipiell geklärt. Die
Wörter beruhen auf einem Koll. uridg. *h₁rúh₁-
neh₂- ‚das Erfragte, das Erforschte‘, das von ei-
nem Verbaladj. *h₁ruh₁-nó- ‚erfragt, erforscht‘
abgeleitet ist. Dieses gehört zur sekundären
Verbalwz. uridg. *h₁réh₁-u-/*h₁h₁-u- ‚erfra-
gen, erforschen‘ (zur lautgesetzlichen Meta-
these von *h₁h₁uC- > *h₁ruh₁C vgl. R. Lipp,
a. a. O. 248), die fortgesetzt ist in: gr. εἴρομαι
‚erfrage‘, gr. myk. (dat.sg. ?) e-re-u-te-re
(/ereu̯-tēr-es/) ‚Prüfer, Aufseher‘, kret. ἐρευταί
‚staatliche Eintreiber‘ und gr. ἐρευνάω ‚forsche
nach‘, ein Denominativum zu *ereu̯nā- < uridg.
*h₁réh₁u-nah₂- ‚Erforschung‘, dem aisl. raun f.
‚Erforschung, Untersuchung‘ < urgerm. *rau̯nō-
< uridg *h₁róh₁u-nah₂- entspricht; vgl. dazu
noch das Denominativum aisl. reyna < urgerm.
*rau̯nii̯e/a- ‚versuchen, erproben‘, von dem run.
(e. S.) raunija (Lanzenspitze von Øvre Stabu,
160–250/60; Imer 2015: 341), aisl. reynir m.
‚Erprober‘ < urgerm. *rau̯nii̯a- ‚Versucher, Er-
prober‘ abgeleitet sind.
Die ältere Interpretation des gr. Wortmaterials, nämlich
als Fortsetzer einer Wz. uridg. *h₁reu̯- ‚fragen‘, ist damit
hinfällig (vgl. R. Lipp, a. a. O. 247 f.).
Das in der älteren Literatur manchmal angeführte Wort
afries. rān ‚Untersuchung‘ ist wohl ein Ghostword, da es
sich nicht in Hofmann-Popkema, Afries. Wb. findet.
Die sekundäre Verbalwz. uridg. *h₁réh₁-u-/
*h₁h₁-u- beruht auf einem u-Präs.; zugrunde
liegt somit die Verbalwz. uridg. *h₁reh₁- ‚fragen,
nachforschen‘ (vgl. gr. ἤρετο ‚fragte‘ < uridg.
Aor. *h₁réh₁-/*h₁h₁-).
Ältere, abzulehnende Etym. sind:
1. Anbindung an die Verbalwz. uridg. *h₃reu̯H- ‚brüllen,
schreien‘ (LIV² 306) und damit an lat. rūmor m. ‚Ge-
schrei, Beifall‘ (so zuletzt u. a. Lühr 2000: 216 f. [als
Möglichkeit]; B. Mees, a. a. O. 534), da hiermit eine laute
Lärmäußerung im Gegensatz zur leisen, heimlichen in
urgerm. *rūnō- zum Ausdruck gebracht wird (vgl. R.
Lipp, a. a. O. 242).
2. Herleitung aus vorurgerm. *u̯runā- und Anbindung an
die Verbalwz. uridg. *u̯er- ‚(magisch) binden‘ (Dumézil
1939: 4 f. 24 Fn. 3); dies ist bereits aus lautlichen Grün-
den nicht möglich (vgl. R. Lipp, a. a. O. 243).
3. Anschluss an eine angebliche Wz. uridg. *h₃u̯er- ‚bin-
den, umschließen‘, erschlossen aus heth. hurtallii̯a- mit
einer angenommenen Bed. „chant a magical formula“
(E. C. Polomé, in Coetsem-Kufner 1972: 65); dessen
Bed. ist aber ‚vermengen, verwirren, durcheinander brin-
gen‘ (vgl. R. Lipp, a. a. O. 243).
4. Völlig ad hoc ist die Annahme von Matasović, Et. dict.
of Proto-Celt. 317, dass die kelt. und germ. Wörter aus
einer Substratsprache stammen.
Es ist letztendlich wohl nicht sicher entscheid-
bar, ob urgerm. *rūnō- ‚Geheimnis‘ dasselbe
Wort wie urgerm. *rūnō- ‚Rune‘ ist.
Falls es dasselbe Wort ist, wäre eine metony-
mische Bed.übertragung von ‚Geheimnis‘ auf
‚Symbolzeichen‘ im Sinne eines Deutezeichens
zur Erfragung eines göttlichen Geheimnisses
eingetreten, das nach der Einführung der Ru-
nenschrift auf das runische Schriftzeichen
überging (vgl. dazu R. Lipp, a. a. O. 249 f.). Der
erste Schritt sei dabei in Tacitus, germ. 10,1
greifbar: sortium consuetudo simplex. virgam
frugiferae arbori decisam in surculos ampu-
tant, eosque notis quibusdam discretos super
candidam vestem temere ac fortuitu spargunt.
mox, si publice consuletur, sacerdos civitatis,
sin privatim, ipse pater familias precatus deos
caelumque suspiciens ter singulos tollit, subla-
tos secundum impressam ante notam inter-
pretatur ‚das Losverfahren ist von einerlei Art.
Den von einem fruchttragenden Baum abge-
schnittenen Zweig schneiden sie in Stäbchen,
versehen sie mit bestimmten Unterscheidungs-
merkmalen und streuen sie aufs Geratewohl,
wie es sich trifft, auf ein rein weißes Tuch.
Hierauf nimmt, wenn man eine öffentliche
Losbefragung vornehmen will, der Priester
der Stammesgemeinschaft, wenn aber eine pri-
vate, der betreffende Hausvater nach einem
Gebet zu den Göttern dreimal nacheinander je
eines mit zum Himmel erhobenen Blick auf und
deutet die aufgehobenen Stäbchen dem vorher
eingekerbten Merkmal entsprechend‘ (zu Text-
herstellung und Interpretation vgl. Schuhmann
2006: 300–308; Übersetzung R. Schuhmann).
Der Bezug auf ‚Göttliches‘ ist in den Runenin-
schriften selbst durch die Verbindung (e. S.)
runo … raginakudo ‚eine Rune … eine von den
Ratern [= Göttern] stammende‘ auf dem Stein
von Noleby (460/70–560/70) belegt (vgl. die
parallele Formulierung auf dem Stein von Spar-
lösa [ca. 800]: (e. S.) runoʀ þaʀ raki-ukutu ‚die
Runen dort, die von den Ratern [= Göttern]
stammenden‘), während sich in der Edda meh-
rere Stellen finden, die auf die göttliche Her-
kunft der Runen weisen (vgl. dazu R. Lipp,
a. a. O. 244 f.).
Diese Argumentation ist jedoch nicht beweiskräf-
tig genug. Es bleibt nämlich einerseits völlig of-
fen, welcher Art die bei Tacitus genannten notae
waren; es sind gegen E. Seebold (in Brogyanyi-
Krömmelbein 1986: 555) wohl keine Runen-
zeichen, da notae in der Bed. ‚Schriftzeichen‘
zumeist zusammen mit litterarum verbunden ist;
noch nicht einmal eine Interpretation als Sinnes-
zeichen ist gesichert (vgl. dazu R. Schuhmann,
a. a. O. 302 f.), da auch reine Kerben möglich
sind (vgl. Cicero, div. 2,85 zu den pränestinischen
Losentscheiden: sortis … in robore insculptas
‚die Lose … mit Kerben im Eichenholz‘). Bei
der Annahme eines Übergangs von ‚Deutezei-
chen‘ auf Runen bleibt unklar, warum das Wort
nicht mehr für die weiterhin existierenden ge-
kennzeichneten Losstäbe verwendet worden
wäre (vgl. zu den Losstäben RGA² 22, 139–
141). Schließlich kann die Verbindung der
Runenschrift mit den Göttern sekundär sein,
wie sie sich auch bei den Griechen findet (vgl.
dazu und zu einer möglichen Abhängigkeit
zwischen beiden Traditionen R. H. Bremmer, in
Bammesberger 1991: 409–419).
Daher ist auch eine Trennung beider Begriffe
gut denkbar – so in der Hauptsache von R. L.
Morris, PBB 107 (1985), 344–358 und V. F.
Faltings, NdW 34 (1994), 101–133, beson-
ders 121 f. vertreten. Beide sehen in urgerm.
*rūnō- in der Bed. ‚Schriftzeichen‘ eine Ablei-
tung zur Verbalwz. uridg. *reu̯H- ‚auf-, ausrei-
ßen‘, die verbal in aisl. rýja ‚Wolle ausreißen,
rupfen‘, lat. ruere ‚aufwühlen‘, aksl. ryti ‚gra-
ben, wühlen‘ und lit. ráuti ‚ausreißen‘ fortge-
setzt ist. Wie das zu dieser Wz. gehörige west-
germ. Wort *rūnan- ‚Verschnittener, Kastrat‘
zeigt, war im Germ. ein substantiviertes Adj.
*rūna-/-ō- ‚das Geritzte, das Eingeschnittene‘
(< vorurgerm. *rúH-no-) zu einem nicht fortge-
setzten Adj. urgerm. *runa- ‚geritzt, einge-
schnitten‘ (< vorurgerm. *ruH-nó-) vorhanden
(zum Bed.spektrum ‚reißen‘ : ‚einritzen‘ vgl.
urgerm. *u̯rei̯te/a- > ahd. rîzan ‚reißen, einrit-
zen, schreiben‘ [s. d.]). Es ist so durchaus mög-
lich, dass aus diesem Subst. auch das germ.
Wort mit der Bed. ‚Schriftzeichen‘ im Sinne
von ‚eingeschnittenes Zeichen‘ hervorgegan-
gen ist.
Die Ablehnung bei R. Lipp, a. a. O. 241 f. beruht jeden-
falls u. a. auf einem Missverständnis, da die zwei Wörter
*rūnō-¹ ‚Schriftzeichen‘ und *rūnō-² ‚Geheimnis‘ in dem
Fall eben nicht dieselbe Etym. haben (anders, aber sicher
abzulehnen Casaretto 2004: 318).
Walde-Pokorny 2, 350; Pokorny 867; LIV² 251. 510;
Frisk, Gr. et. Wb. 1, 467 f. 555 f.; Chantraine, Dict. ét.
gr.² 353; Beekes, Et. dict. of Gr. 1, 391 f. 455 f.; Aura
Jorro-Adrados 1985 ff.: 1, 243; Fick 2 (Kelt.)⁴ 236;
Holder, Acelt. Spr. 2, 1246; Matasović, Et. dict. of Proto-
Celt. 316 f.; Delamarre, Dict. gaul.³ 123. 264; Vendryes,
Lex. ét. de l’irl. anc. R-53 f.; Kavanagh-Wodtko, Lex.
OIr. Gl. 765 f.; eDIL s. v. rún¹; Dict. of Welsh 3, 3075;
Deshayes, Dict. ét. du bret. 628. – Schmidt 1957: 96 f.
263; Krause 1966: 1, 148–151; Evans 1967: 183 ff.;
Krause 1971: 157; Chr. E. Fell, in Bammesberger 1991:
195–229; de Bernardo Stempel 1999: 526; M. Pierce,
ABäG 58 (2003), 29–37; Stüber 2005: 92; Düwel 2008:
35 f. 114; B. Mees, PBB 136 (2014), 527–537; Imer
2015: 191.
RS