ruofan st.v. VII (prät. riof, riofun,
part.prät. –), seit dem Ende des 8. Jh.s (? s. u.)
in Gl. und in I, MF, PT, T, OT, bei O, in MPs,
OG, WH: ‚(aus-)rufen, anrufen, schreien, spre-
chen, sagen, beten; appellare, clamare, clamor
[= hruofanti] (? s. u.), exclamare, interpellare,
vocare‘ 〈Var.: hr-; -ua-, -oa-; -ff-〉. Die Zuord-
nung der Gl.belege zum st.v. ruofan oder zum
sw.v. ruofen (s. d.) ist im Einzelfall schwierig
(vgl. etwa die unterschiedlichen Angaben in
Starck-Wells 498 und Schützeichel, Glossen-
wortschatz 8, 30). In den literarischen Denkmä-
lern findet sich das st.v. nur im Frk., während
im Obd. allein das sw.v. belegt ist (vgl. Riecke
1996: 167).
Für den Beleg Gl. 1,169,32 (Abr) hroafandi . clamor
wird in den Wb. teils ein Subst. ruofantî f. īn-St. ‚Ruf,
Geschrei‘ angesetzt (vgl. eKöbler, Ahd. Wb. s. v.
ruofantī; Starck-Wells 498). Dafür gibt es keinen Grund,
da die Form problemlos als Part.Präs. eingeordnet wer-
den kann (vgl. Splett 1976: 244). Es ist aber nicht sicher,
ob diese Form zum st.v. ruofan (so etwa Seebold,
ChWdW8 244) oder zum sw.v. ruofen (so etwa Wiss-
mann 1938: 46 Anm. 2) zu stellen ist. Da der Beleg nur
in Kb als Zusatzglosse steht und Kb zahlreiche frk. Merk-
male zeigt, bleibt die Einordnung der Form zu ruofan
oder ruofen letztendlich offen; als obd. Form würde sie
zu ruofen, als frk. Form dagegen zu ruofan gehören
(vgl. Splett a. a. O.); daher findet sich der Beleg bei
Schützeichel, Glossenwortschatz 8, 30. 31 zutreffend
unter beiden Verben.
Mhd. ruofen (md. rûfen, rôfen) (prät. rief, riefen,
part.prät. geruofen) st.v. (im Obd. auch sw.v.
[s. o.]) ‚schreien, rufen, singend rufen oder be-
ten‘ (Paul 2007: §§ M 84. M 85 Anm. 1), nhd.
rufen (prät. rief, riefen, part.prät. gerufen) st.v.
‚sich durch einen Ruf bemerkbar machen, einen
Ruf ertönen lassen, mit lauter Stimme äußern,
ausrufen, rufend nach jmdm./etw. verlangen,
(durch Rufen) zu etw. auffordern, mit einem be-
stimmten Namen nennen, (veraltend) (mit sei-
nem Namen) anreden, telefonisch oder über
Funk mit jmdm. die Verbindung aufnehmen‘.
Ahd. Wb. 7, 1245 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 773; eKöbler,
Ahd. Wb. s. v. ruofan; Schützeichel⁷ 267; Starck-Wells
498; Schützeichel, Glossenwortschatz 8, 30. 31; Seebold,
ChWdW8 244. 430; ders., ChWdW9 690. 1103; Graff 4,
1132 ff.; Heffner 1961: 80; Lexer 2, 547; Diefenbach,
Gl. lat.-germ. 125 (clamare). 627 (vocare); Götz, Lat.-
ahd.-nhd. Wb. 107 (clamare). 236 (exclamare); Dt. Wb.
14, 1397 ff.; Kluge²¹ 612 (s. v. Ruf); Kluge²⁵ s. v. rufen;
ePfeifer, Et. Wb. s. v. rufen. – Braune-Heidermanns 2018:
§§ 48 Anm. 2. 132 Anm. 1. 353 (und Anm. 2).
In den anderen germ. Sprachen entsprechen: as.
hrōpan st.v. (prät. hriop, hriopun, part.prät. –)
‚(heraus-)schreien, rufen‘, mndd. rôpen, rpen
(roͤpen), rûpen, rôfen (royfen) st.v. (prät. rêp
[rep, reͤpp, reip, reyp]/rêpe/rîp [riep]/rêf, rêpen
[reipen], part.prät. [ge-]rôpen, gerûpen)
‚schreien, wehklagen, ausrufen, bekannt ma-
chen, verkünden, ankündigen, sich bemerkbar
machen, mahnen, beschuldigen, anklagen, laut
ansprechen, anrufen, herbeirufen, einladen,
vorladen, zu etw. auffordern, wegrufen, Laute
von sich geben‘; andfrk. ruopan st.v. (prät.
riep[h]/rief, –, part.prät. –) ‚rufen, schreien,
laut ansprechen, ausrufen‘, frühmndl. roepen
(rupen) st.v. (prät. ri[e]p, ri[e]pen, part.prät.
g[h]eroep[p]en/g[h]eropen, gheroupen [west-
fläm. jroepen, yroepen]) ‚rufen, laut sprechen,
schreien, zu sich rufen, bekannt machen, an-
kündigen‘, mndl. roepen (ro[i]pen, roupen,
ru[e]pen) st.v. (prät. riep, riepen, part.prät.
geroepen) ‚laut sprechen, schreien, anrufen,
bekannt machen, ankündigen, rufen‘, nndl.
roepen (dial. ropen) st.v. (prät. riep, riepen,
part.prät. geroepen [dial. geropen]) ‚rufen,
schreien, mit lauter Stimme verkünden, ankündi-
gen, ausrufen, bestimmen‘; afries. hrōpa, rōpa,
ropa st.v. (auch sw.v.) (prät. [h]rōp [-ē-], –,
part.prät. [h]rēpen [-ō-/-o-]) ‚rufen‘, nwest-
fries. roppe st.v. (prät. rôp, rôpen, part.prät.
roppen) ‚rufen, schreien, mit lauter Stimme
verkünden, bekannt machen, wach machen,
wecken, zu sich rufen, verlangen, fordern‘, sa-
terfries. roupe st.v. (prät. ruup, rupen, part.prät.
rúpen) ‚rufen, einen Ruf als Signal ertönen las-
sen, schreien, nennen‘; ae. hrōpan st.v. (prät. –,
hrēopon, part.prät. –) ‚rufen, schreien, heulen‘,
me. rọ̄pen (Konjugation als st.v. oder als sw.v
wegen der Überlieferung nicht ersichtlich)
‚schreien‘: < urgerm. *χrōpe/a-.
Zur Ableitung urgerm. *χrōpi/a- ‚Ruf‘ s. ruof,
zum denominalen oder deverbalen Verb (dazu
Darms 1978: 266 f. 501 Anm. 220) urgerm.
*χrōpii̯e/a- ‚rufen‘ s. ruofen.
In der Literatur findet sich gelegentlich die Bestimmung
des st.v. als altes -i̯e/o-Verb; dies ist jedoch nicht zutref-
fend (vgl. bereits Wissmann 1938: 46 f.).
Fick 3 (Germ.)⁴ 106; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 249;
Seebold, Germ. st. Verben 279 f.; Tiefenbach, As.
Handwb. 184; Sehrt, Wb. z. Hel.² 273 f.; Berr, Et. Gl. to
Hel. 202 f.; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 195; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 2, 2214 ff.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 3, 505; ONW s. v. ruopan; VMNW
s. v. roepen; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 6, 1526 ff.;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 554 (s. v. roep); Suppl.
138; Vries, Ndls. et. wb. 584; Et. wb. Ndl. Ke-R 674; WNT
s. v. roepen; Boutkan, OFris. et. dict. 183; Hofmann-
Popkema, Afries. Wb. 234; Richthofen, Afries. Wb. 829;
Fryske wb. 18, 154 f.; Dijkstra, Friesch Wb. 3, 41; Fort,
Saterfries. Wb.² 499; Holthausen, Ae. et. Wb. 176;
Bosworth-Toller, AS Dict. 563; Suppl. 568; Suppl. 2, 42;
eMED s. v. rọ̄pen v.²; eOED s. v. †rope v.¹. – Mailhammer
2007: 225.
Urgerm. *χrōpe/a- hat in den anderen idg. Spra-
chen keine Entsprechungen. Aus diesem Grund
bleibt auch die weitere Etym. unsicher. Die un-
ter 1. und 2. vorgeschlagenen Etym. sind dabei
wahrscheinlicher als die unter 3.:
1. Analyse von urgerm. *χrōpe/a- als Basis
*χrō- mit suffixalem *-p-. Dabei wäre *χrō-
identisch mit *χrō- in urgerm. *χrōþi- f.
‚Ruhm‘ und urgerm. *χrōma- m./n. ‚Prahlerei‘
(zu beiden s. ruom) < uridg. *kreH- ‚rühmend
gedenken‘ (vgl. ai. kīrtí- f. ‚Gedenken, Erwäh-
nung, Kunde, Ruhm‘ < *kH-tí-; zu anderen zu-
gehörigen Wörtern s. ruom). Der Einwand von
Kroonen, Et. dict. of Pgm. 249, dass es kein
uridg. Suff. *-b- gäbe, ist nicht stichhaltig und
wird bei Kroonen, a. a. O. passim auch nicht kon-
sequent aufrecht erhalten (vgl. S. Neri, Kratylos
61 [2016], 8). Da in der Wortgruppe wohl Wör-
ter mit der Bed. ‚singen‘ vorkommen (vgl. etwa
ved. kārú- m. ‚Lobsänger, singender Priester,
Verkündiger, Dichter‘), wäre entweder eine se-
mantische Entwicklung von ‚singen‘ zu ‚rufen‘
eingetreten oder eine Entwicklung von ‚rüh-
mend gedenken‘ über ‚durch laute Äußerungen
rühmend gedenken‘ zu ‚rufen‘.
2. Bildung zu einer Wz. uridg. *(s)kreb-, die
von einer Schallwz. uridg. *ker- o. Ä. abgeleitet
ist, und innergerm. u. a. mit aisl. skrapa sw.v.
‚lärmen, schwätzen‘ (Vries, Anord. et. Wb.²
501), gr. κρέμβαλα n.pl. ‚Klapper, Kastagnet-
ten‘ und lit. skrebti ‚rauschen, rasseln, knis-
tern‘ zu verbinden sei (so u. a. K. F. Johansson,
PBB 15 [1891], 229; Noreen 1894: 206; F.
Holthausen, IF 39 [1921], 64). Jedoch bleibt die
Etym. des gr. Wortes letztendlich unklar. Das
lit. Wort (und damit wohl auch aisl. skrapa)
gehört besser zur Verbalwz. uridg. *skreb(h)-
‚schaben, kratzen‘ mit einer vermittelnden Bed.
‚ein schabendes Geräusch machen‘. Wenn man
urgerm. *χrōpe/a- hier anschließen will, wäre
ein weiterer Übergang von ‚lärmen‘ zu ‚rufen‘
anzunehmen.
3. Nach L. Bloomfield, PBB 37 (1912), 251
(u. a. übernommen von Franck, Et. wb. d. ndl.
taal² 554 [s. v. roep]): Reimbildung auf der
Basis einer Schallwz. *ker- o. Ä. zu urgerm.
*u̯ōp(i̯)e/a- ‚weinen‘ (s. wuofan), was letzt-
endlich spekulativ bleibt (zuletzt ähnlich
Kroonen, Et. dict. of Pgm. 249, aber ohne Er-
wähnung von *ker-).
Walde-Pokorny 1, 353 f.; Pokorny 530 f.; LIV² 353. 562;
Mayrhofer, KEWA 1, 216; ders., EWAia 1, 357; Frisk,
Gr. et. Wb. 2, 14; Chantraine, Dict. ét. gr.² 559; Beekes,
Et. dict. of Gr. 1, 775 f.; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 267;
Derksen, Et. dict. of Balt. 407; Fraenkel, Lit. et. Wb. 2,
815 f.; Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.² 1266.
RS