sehan st.v. V (prät.sg. sah, prät.pl. sâhun,
part.prät. gisewan), seit dem 8. Jh. in Gl. und
im T, OT, MH, B, GB, G, O, L, Prs B/C,
BaGB/WeGB, WRs, NBo, NCat, Ni, NMC, Ns,
Nm, Npg, WH, Ph: ‚sehen, sehen auf, hinsehen,
(an-)blicken, erblicken, wahrnehmen, bemer-
ken, sich beziehen, zurückfallen auf, verbunden
sein, (be-)achten, achtgeben, sorgen für, hüten,
Rücksicht nehmen, verschieden sein von; as-
picere, cernere, cognoscere, comprehendere,
considerare, conspicere, contemplari, contuēri,
decernere, dignoscere, eccum, inspicere, inten-
dere, intuēri, intuitum deflectere, invenire,
oculi esse, perspicere, referre, respicere, sen-
tire, spectare, suspicere, tuēri, vidēre, visere,
visibilis esse, visionem habēre, vultu petere‘,
sehant n! ‚seht!; ecce‘, sehe! ‚sieh!; ecce‘, se-
het dara! ‚seht!; ecce‘, daz man sehan mag
‚Sichtbares; visibilia‘, daz man sehan inti grîfan
mag ‚was den Sinnen zugänglich ist; quod patet
sensibus‘, diu man sehan inti hôren mag ‚den
Sinneskräften unterliegend; sensibus subiec-
tum‘, ni sehan ‚verschmähen; spernere‘, ni
sehan (an) ‚keinen Blick werfen (auf); corri-
gere oculos suos‘, sehan mugan ‚erkennen kön-
nen; perspicuum esse‘, zi helfa sehan ‚für Hilfe
sorgen; in adiutorium intendere‘, zi erda sehan
‚den Blick zu Boden richten; visum defigere‘,
sehan fona ‚das Gesicht abwenden, wegbli-
cken; faciem avertere‘, sehan fona erda ‚den
Blick von der Erde nach oben richten; terras
despicere‘, sehan zi ‚den Blick richten auf;
oculum figere in‘, ginôto sehan ‚genau beurtei-
len; iudicare‘, sehan wara ‚sich worauf bezie-
hen; dici ad aliquid‘, bîtan zi sehanne ‚sehn-
suchtsvoll erwarten; expectare‘, (ioman) lusten
(eddewaz) zi sehanne ‚den Blick reizen/anzie-
hen; oculos illicere/trahere‘, unzîtîg wesan zi
sehanne ‚noch nicht das natürliche Sehvermö-
gen besitzen; nondum naturam ad videndum
habēre‘, sehanti gituon ‚den Blick schärfen;
intuitum illuminare‘, drôlîcho sehanti ‚mit
finsterem Blick blitzend, inflammatus torvis
luminibus; bedrohlich aussehend, ex torvitate
luminum‘, duruhnohto sehanti ‚eindringlich
blickend; perspicax‘, framhald sehanti ‚nach
vorn sehend; cernuus‘, sehanto ‚mittels des
Sehsinnes; in sensu‘, (der) sehanto ‚Betrachter;
spectator‘ 〈Var.: -hh, -ch-; sean〉. Das st. V.
sehan zeigt im Ahd. noch grammatischen
Wechsel in Formen wie gisewan (Braune-
Heidermanns 2018: § 343 Anm. 4b), so z. B.
auch in ae. sewen (s. u.). – Mhd. sëhen st.v.,
auch kontrahiert sên ‚sehen, schauen, erblicken,
ansehen, besuchen‘, mit Gen. ‚sich an einen in
Bezug auf etwas halten‘, mit refl. Dat. ‚ausse-
hen‘, nhd. sehen st.v. ‚mit dem Gesichtssinn
wahrnehmen, erblicken, erkennen, bemerken,
erfahren, auffassen, jmdn. treffen, eine Lage
mit Blick in eine bestimmte Richtung haben‘,
in der älteren Sprache auch ‚aussehen‘.
Splett, Ahd. Wb. 2, 798; eKöbler, Ahd. Wb. s. v. sehan¹;
Schützeichel⁷ 274; Starck-Wells 512; Schützeichel,
Glossenwortschatz 8, 132; Seebold, ChWdW8 250 f.;
ders., ChWdW9 711 ff.; Graff 6, 110 ff.; Heffner 1961:
129; Lexer 2, 851 f.; 3, Nachtr. 363; Götze [1920] 1971:
199; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 114 (cernere). 144 (con-
spicere). 148 (contueri). 167 (decernere). 176 (despicere).
194 (ecce, eccum). 494 (respicere). 545 (spectare). 601
(tueri). 618 (videre). 623 (visere, visibilis); Götz, Lat.-
ahd.-nhd. Wb. 15 (s. v. adiutorium). 57 (aspicere). 67
(s. v. avertere). 99 (cernere, cernuus). 112 (cognoscere).
123 (comprehendere). 138 (considerare). 140 (con-
spicere). 144 (contemplari). 149 (contuēri). 155 (s. v.
corrigere). 177 (s. vv. defigere, deflectere). 188 (s. v. de-
spicere). 194 (s. v. dicere). 197 (dignoscere). 216 (ecce).
229. (s. v. esse). 245 (expectare). 264 (s. v. figere). 298
(s. v. habēre). 314 (s. v. illicere). 315 (s. v. illuminare).
336 (s. v. inflammare). 344 (inspicere). 347 (intendere).
352 (intuēri). 353 (invenire). 359 (iudicare). 432 (s. v.
nondum). 446 (s. v. oculus). 468 (s. v. patēre). 484
(perspicax, perspicere). 485 (s. v. perspicuus). 488 (s. v.
petere). 561 (referre). 572 (respicere). 603 (sentire). 621
(spectare, spectator). 622 (spernere). 633 (s. v. subiec-
tus). 649 (suspicere). 669 (s. vv. torvitas, torvus). 671
(s. v. trahere). 680 (tuēri). 708 (vidēre). 715 (s. v. visibi-
lis); Dt. Wb. 16, 129 ff.; Kluge²¹ 697 f.; Kluge²⁵ s. v. se-
hen; ePfeifer, Et. Wb. s. v. sehen.
Das ahd. Verb hat Entsprechungen in allen
germ. Sprachen: as. sehan st.v. V ‚sehen, an-
schauen, achten auf, sich kümmern um‘, mndd.
sēn st.v. ‚sehen, erkennen, aussehen, zusehen
(dass)‘; andfrk. sian st.v. ‚sehen, erkennen,
schauen‘, frühmndl. sien st.v. ‚sehen‘, mndl. sien
st.v. ‚sehen, betrachten, bemerken, schauen‘,
nndl. zien st.v. ‚dss.‘; afries. sian, sia st.v. ‚se-
hen‘, nwestfries. sjen st.v. ‚sehen‘, saterfries.
sjo st.v. ‚sehen, beobachten‘, nnordfries. säie
st.v. ‚sehen‘; ae. sēon st.v. ‚sehen, erkennen, er-
fahren, jmdn. treffen‘, me. sẹ̄en, seon, sien st.v.
‚sehen, betrachten, erblicken, bemerken, erken-
nen, jmdn. treffen, sich kümmern um‘, ne. see
st.v. ‚sehen, erkennen, erfahren, jmdn. treffen‘;
aisl. séa, sjá st.v. ‚sehen‘, nisl. sjá ‚dss.‘, fär.
síggja st.v. ‚sehen‘, ndän. se st.v. ‚sehen‘,
nnorw. se st.v. ‚sehen, erblicken, jmdn. treffen,
sich kümmern um‘, (nn.) sjå st.v. ‚sehen, erken-
nen, jmdn. treffen‘, norn see ‚sehen, betrach-
ten‘, nschwed. se st.v. ‚sehen‘; got. saiƕan st.v.
‚sehen; βλέπειν, ὁρᾶν‘: < urgerm. *seχu̯e/a- st.v.
V ‚sehen‘.
Fick 3 (Germ.)⁴ 425; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 431 f.;
Seebold, Germ. st. Verben 387 f.; Tiefenbach, As.
Handwb. 325; Sehrt, Wb. z. Hel.² 451 ff.; Berr, Et. Gl. to
Hel. 332 f.; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 217; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 3, 202; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 4, 187 f.; ONW s. v. sian; VMNW s. v. sien²;
Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 7, 1076 ff.; Franck, Et. wb.
d. ndl. taal² 819 f.; Vries, Ndls. et. wb. 864 f.; Et. wb. Ndl.
S-Z 664; WNT s. v. zien¹; Boutkan, OFris. et. dict. 338;
Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 423; Richthofen, Afries.
Wb. 1010; eFryske wb. s. v. sjen; Dijkstra, Friesch Wb. 3,
84; Fort, Saterfries. Wb.² 520; Sjölin, Et. Handwb. d.
Festlnordfries. XXXV; Holthausen, Ae. et. Wb. 290;
Bosworth-Toller, AS Dict. 864 f.; Suppl. 702; eMED
s. v. sẹ̄n; Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2,
1411; eOED s. v. see v.; Vries, Anord. et. Wb.² 477 f.;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 779 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog 3, 255 ff.; ONP s. v. sjá²; Holthausen, Vgl.
Wb. d. Awestnord. 245; Magnússon, Ísl. Orðsb. 821;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 2, 953; Nielsen, Dansk et.
ordb. 362; Ordb. o. d. danske sprog 18, 858 ff.; eSuppl.
s. v. se; Bjorvand, Våre arveord 763 ff.; Bjorvand, Våre
arveord² 928 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 583; NOB s. v.
se / NOBFM III sjå³; Jakobsen, Et. dict. of the Norn lang.
2, 746; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 894 f.; Svenska
akad. ordb. s. v. se; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 404 f.;
Lehmann, Gothic Et. Dict. S-8.
Im Germ. ist *seχu̯e/a- das unmarkierte Wahr-
nehmungsverb für ‚sehen‘. Formal lässt es sich
auf eine vorurgerm. Wz. *seku̯- ‚sehen‘ zurück-
führen, deren weitere Herkunft unterschiedlich
beurteilt wird (s. u.). Mit vergleichbarer Seman-
tik finden sich in den verwandten Sprachen die
Subst. heth. šākuwa n. nom.akk.pl. ‚Augen‘
und air. rosc n. o ‚Auge‘ (< vorurkelt. *pro-sku̯-
o-m). Zweifelhaft ist hingegen die Zugehörig-
keit der in der früheren Sekundärliteratur ver-
glichenen Verbalformen, alb. sheh ‚sieht,
schaut‘ und air. arsecha konj.präs. ‚möge se-
hen‘: alb. sheh ist lautlich nicht aus einer Vor-
form *seku̯- o. ä. erklärbar (Schumacher-
Matzinger, Verben des Altalb. 259 mit Fn. 36.
996). Air. arsecha ist nur in einem einzigen
Text bezeugt, seine Bedeutung ist aus der be-
gleitenden Gl. (dena ar soḟégad ‚er möge unser
gutes Betrachten tun‘) erschlossen; darüber hin-
aus kennt jedoch das Ir. ein Verb seichid (< äl-
terem *seku̯-e/o-) nur in der Bed. ‚sagen, ver-
künden‘, nicht in einer Bed. wie ‚sehen‘.
Fortsetzer eines uridg. Präsens *séku̯-e/o- sind
nun auch in weiteren Sprachzweigen Verba
dicendi; vgl. gr. ἐννέπω ‚erzähle, verkünde‘,
alat. imper. īn-seque ‚erzähle, verkünde!‘,
lit. sèkti, 1.sg.präs. sekù ‚erzählen‘, akymr.
3.sg.präs. hep ‚sagt‘, mkymr. heb ‚dss.‘, abret.
hep ‚dss.‘. Wie oft betont wurde, lassen sich die
Bedeutungen ‚sehen‘ und ‚sagen‘ unter einer
ursprünglicheren Wurzelbedeutung ‚bemerken‘
verbinden. Dabei wäre die Semantik der Wahr-
nehmung die ältere, die in belegten Formen auf
‚sehen‘ spezialisiert erscheint; außergerm. wäre
hingegen das Verb nur in seiner Sekundärbed.
‚sagen‘ bewahrt. Eine Wz. *seku̯- mit medialem
thematischem Präs. ist darüber hinaus in der
Bed. ‚sich anschließen, folgen‘ gut bezeugt;
vgl. ved. sácate ‚begleitet‘, aav. hacaitē ‚folgt‘,
gr. ἕπομαι ‚folge‘, lat. sequī ‚folgen‘, air.
sechithir ‚folgt‘ und, unter Aufgabe der Medi-
alflexion, lit. sèkti, 1.sg. präs. sekù ‚folgen‘, lett.
sèkt ‚dss.‘. Eine Verbindung des germ. Verbs
mit dieser Wz. ist ausgehend von einer Verwen-
dung ‚mit den Augen folgen‘ erwogen worden.
Bereits Th. Aufrecht, ZVSp 1 (1852), 352,
schlug die Herleitung der Bed. ‚sehen‘, ‚folgen‘
und ‚sagen‘ aus ein und derselben Wz. vor. Als
dritte Anknüpfungsmöglichkeit wurde endlich
ein Zusammenhang mit der Wz. *h₃eku̯- ‚ins
Auge fassen, erblicken‘ in Betracht gezogen.
Diese Wz. ist einzelsprachlich überwiegend
in Wörtern für ‚Auge‘ fortgesetzt (s. ouga);
ein Anschluss von urgerm. *seχu̯e/a- sowie von
heth. sākuwa und air. rosc ist möglich, wenn ein
Anlaut mit s mobile postuliert wird. *h₃eku̯-
hätte damit eine Nebenform *sh₃eku̯-, die im
Vorurgerm. zunächst zu *soku̯- (> urgerm.
*saχu̯-) geführt hätte. Urgerm. *seχu̯e/a- könnte
dabei auf dem Präteritalstamm aufgebaut sein,
der als ursprüngliches Perf. die Bed. ‚im Auge
haben‘ (< ‚ins Auge gefasst haben‘) aufwies,
dann aber durch ein sekundär hinzugebildetes
e-vollstufiges Präs. als normales Prät. in das
System der germ. st. Verben integriert wurde.
Vgl. zugunsten dieser Zusammenstellung in
neuerer Zeit F. O. Lindeman, IF 108 (2003),
47 ff., wo freilich bereits im Aufsatztitel be-
wusst der Ausdruck ‚speculative‘ verwendet
wird. Von den genannten Vorschlägen erfordert
der erste, nämlich die Verbindung mit den
Verba dicendi in den verwandten Sprachen, am
wenigsten Zusatzannahmen.
Walde-Pokorny 2, 476 ff.; Pokorny 897 f.; LIV² 525 f.;
Mayrhofer, KEWA 3, 417 f.; ders., EWAia 2, 686 f.;
Rastorgueva-Ėdel’man, Et. dict. Iran. lang. 3, 338 f.;
Cheung, Et. dict. of Iran. verb 124 f.; Frisk, Gr. et. Wb.
1, 520. 544 f.; Chantraine, Dict. ét. gr.² 333. 345; Beekes,
Et. dict. of Gr. 1, 428. 447; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb.
1, 702 f.; 2, 519 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 318. 616;
de Vaan, Et. dict. of Lat. 555 f.; Demiraj, Alb. Et. 57;
Orel, Alb. et. dict. 425 f.; Schumacher-Matzinger, Verben
des Altalb. 259 mit Fn. 36. 996; Trautmann, Balt.-Slav.
Wb. 254 f.; Derksen, Et. dict. of Balt. 392; Fraenkel, Lit.
et. Wb. 2, 773; Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.² s. v. sèkti¹;
ALEW 2, 898 f. 900; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb.
3, 815; Karulis, Latv. et. vārd.² 802; Fick 2 (Kelt.)⁴ 230.
295 f.; Holder, Acelt. Spr. 2, 1229; Matasović, Et. dict. of
Proto-Celt. 328; Add. s. v. *sekw-o-; Schumacher, Kelt.
Primärverb. 564 ff.; Hessens Ir. Lex. 2, 223; Vendryes,
Lex. ét. de l’irl. anc. R-44; S-62 ff.; Kavanagh-Wodtko,
Lex. OIr. Gl. 764. 786; eDIL s. vv. asecha, arsecha,
rosc¹, seichid, seichithir; Dict. of Welsh 2, 1830;
Tischler, Heth. et. Gl. 2, 731 ff.; Kloekhorst, Et. dict. of
Hitt. 704 ff.; CHD Š 65 ff. – F. O. Lindeman, IF 108
(2003), 47 ff.
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