sêla f. ō(n)-St., im Abr und weiteren
Glossen sowie in MH, I, B, GB, WK, MF,
MPs, APs, M, O, T, OT, Ps, TC, WH, N,
Npg: ‚Seele, Herz, Leben, Geist; anima, ani-
mus, mens, spiritus, umbra, vīta‘ 〈Var.:
-ae-, -ę̄̆-, -ēu-; -u〉. – Mhd. sêle st./sw.f. ‚See-
le‘, frühnhd. sele f. ‚Seele‘, nhd. Seele f. ‚kör-
perlose Identität des Menschen, die sein Den-
ken, Fühlen und Empfinden bestimmt und
auch vor sowie bes. nach dem physischen
Leben existieren kann, Psyche, innerstes We-
sen‘, in technischer Verwendung: ‚das Innere
des Laufs oder Rohrs einer Feuerwaffe, inne-
rer Strang von Kabeln, Seilen o.dgl. einer
Maschine‘.
Splett, Ahd. Wb. 1, 803; eKöbler, Ahd. Wb. s. v. sēla;
Schützeichel⁷ 275; Starck-Wells 514; Schützeichel,
Glossenwortschatz 8, 146 f.; Seebold, ChWdW8 251.
436. 510; ders., ChWdW9 715 f. 1109; Graff 6, 183 f.;
Heffner 1961: 129 f.; Lexer 2, 863; Diefenbach, Gl.
lat.-germ. 35 (anima). 547 (spiritus); Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 41 (anima). 42 (animus). 400 (mens). 624
(spiritus). 685 (umbra). 715 (vita); Dt. Wb. 15, 2851 ff.;
Kluge²¹ 697; Kluge²⁵ s. v. Seele; ePfeifer, Et. Wb. s. v.
Seele.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen: as.
seola, siale f. ‚Seele, Leben‘, mndd. sêle, seile,
siele f. ‚Lebenskraft, Seele‘; andfrk. sēla, siele
st.f. ‚Seele‘, frühmndl. siele f. ‚dss.‘, mndl. siele
f. ‚dss.‘, nndl. ziel ‚Seele, Geist, Person, Inners-
tes‘; afries. sēle f. ‚Seele, Seelenheil, beim ei-
genen Seelenheil geschworener Eid‘, nwest-
fries. siel, siele m./f. ‚Seele, Innerstes, Person‘,
saterfries. sele f. ‚Seele‘; ae. sāwl, sāwol, sāwel
f. ‚Seele, Leben, Geist, lebendes Wesen‘, me.
soule, sawel, souel ‚Seele, Lebenskraft, Per-
son‘, ne. soul ‚Seele, geistige, emotionale und
spirituelle Identität eines Lebewesens, Lebens-
kraft, inneres Wesen‘; got. saiwala f. ‚Seele;
ψυχή‘: < urgerm. *sai̯u̯alō-.
Das Wort ist im Ost- und Westgerm. in der Be-
deutung ‚Seele‘ in christlicher Verwendung be-
legt. Die nordgerm. Formen run.-schwed.
dat.sg. salu ‚Seele‘, aisl. sál, sála f. ‚Seele‘,
nisl. sál, fär. sál ‚dss.‘ sind aus dem Ae. ent-
lehnt; nnorw. sjel f., (nn.) sjæl ‚Seele‘, adän.
sial ‚Seele‘, ndän. sjæl, aschwed. sial, nschwed.
själ ‚dss.‘ stammen aus as. siala.
Zum Bedeutungsspektrum des Wortes auch in
Abgrenzung zu ‚Geist‘ u.ä. im Ahd. und As. s.
Becker 1964; zur germ. Seelenvorstellung vgl.
RGA² 28, 35–41.
Fick 3 (Germ.)⁴ 422 f.; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 423;
Tiefenbach, As. Handwb. 330; Sehrt, Wb. z. Hel.² 458 f.;
Berr, Et. Gl. to Hel. 336; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm.
217 f.; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 3, 194; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 4, 180; ONW s. v. siela; VMNW s. v.
siele; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 7, 1073 ff.; Franck, Et.
wb. d. ndl. taal² 819; Vries, Ndls. et. wb. 864; Et. wb. Ndl.
S-Z 663 f.; WNT s. v. ziel; Boutkan, OFris. et. dict. 331;
Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 418; Richthofen, Afries.
Wb. 1004; eFryske wb. s. v. siel; Dijkstra, Friesch Wb. 3,
69; Fort, Saterfries. Wb.² 513 f.; Holthausen, Ae. et. Wb.
270; Bosworth-Toller, AS Dict. 818; Suppl. 694; eMED
s. v. soul(e); Klein, Compr. et. dict. of the Engl. lang. 2,
1477; eOED³ s. v. soul¹; Vries, Anord. et. Wb.² 460;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 160 f.; ONP s. vv.
sál, sála¹; Jónsson, Lex. poet. 484; Holthausen, Vgl. Wb.
d. Awestnord. 236; Magnússon, Ísl. Orðsb. 793; Falk-
Torp, Norw.-dän. et. Wb. 2, 974; Nielsen, Dansk et. ordb.
367 f.; Ordb. o. d. danske sprog 3, 35 ff.; Suppl. s. v. sjæl;
Bjorvand, Våre arveord² 954 f.; Torp, Nynorsk et. ordb.
584; NOB s. v. sjel¹; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 917 f.;
Svenska akad. ordb. s. v. själ¹; Feist, Vgl. Wb. d. got.
Spr. 406; Lehmann, Gothic Et. Dict. S-11. – Casaretto
2004: 401.
Urgerm. *sai̯u̯alō- hat keine gesicherte Etymo-
logie. Da belegte Fortsetzer nur in christlichen
Kontexten erscheinen, ist das urspr. Benen-
nungsmotiv des Konzeptes nicht fassbar, und
Vergleiche mit anderen idg. Sprachen basieren
nur auf formalen Kriterien und allgemeiner
Plausibilität. Die morphologische Analyse von
urgerm. *sai̯u̯alō- ist schwierig, weil die Funk-
tion des l-Suff. unklar bleibt.
Frühere Vorschläge erwägen Anknüpfung an
das germ. Wort für ‚See‘ (s. sêo), an gr. αἷμa
n. ‚Blut‘ oder αἰόλος adj. ‚schnell, beweglich,
schillernd, bunt‘, myk. a₃-wo-ro und lat. saevus
adj. ‚wütend, tobend, grausam‘ oder an aksl.
sila f. ‚Kraft‘, lit. síela f. ‚Seele, Gewissen,
Sorge‘. F. O. Lindeman (in Bjorvand, Våre ar-
veord² 955) sieht in *sai̯u̯alō- eine Variante mit
s mobile zu dem uridg. Wort für ‚Lebenskraft‘,
das in ahd. êwa² (s. d.) fortlebt. Eine solche Va-
riante ist jedoch nirgends sonst vorhanden.
Zu Gunsten der Verbindung mit sêo ‚See‘ wies
J. Weisweiler, IF 57 (1940), 25–55, darauf hin,
dass Seelen von Ungeborenen oder Verstor-
benen als in Gewässern befindlich vorgestellt
werden können. Der Anschluss an gr. αἷμa
impliziert ‚Blut‘ als Sitz der Seele, die übrigen
Vergleichsformen haben die Vorstellung der
Kraftäußerung gemeinsam.
Andere Autoren führen urgerm. *sai̯u̯alō- auf
ein Komp. zurück. So denkt F. Mezger, ZVSp
82 (1968), 285–287, an eine Entwicklung aus
älterem *su̯ai-u̯alō- ‚eigenes Wählen‘. Dabei
sei *su̯ai̯- > *sai̯- dissimiliert.
E. Seebold, in Kluge²⁵ s. v. Seele und P.-A.
Mumm, FS Ronneberger-Sibold 2018: 361–
383, nehmen ein Komp. mit KHG *-u̯alō- an,
das zu ahd. wal ‚Gemetzel‘, aisl. valr m. ‚die
Toten auf dem Schlachtfeld‘, lit. vel f. ‚Seele
eines Verstorbenen, Geist‘, lett. velis m. ‚dss.‘
gehöre (s. wal²). Das KVG ist nach Seebold
die Wz., die mit Suff. *-leh₂ auch aksl. sila f.
‚Kraft, Fähigkeit, Macht; δύναμις, ἰσχύς‘ und
lit. síela f. ‚Seele, Gemüt, Gewissen, Kummer,
Sorge‘ zugrunde liegt. Diese Wz. lässt sich zu-
nächst als *sei̯H- rekonstruieren, weiterer An-
schluss ist jedoch bisher nicht sicher ermittelt.
In Frage kommen z. B. die uridg. Wz. *seh₁(i̯)-
‚loslassen, entsenden‘, *seh₂(i̯)- ‚toben‘ oder
*sh₂ei- ‚binden‘ (LIV² 518. 521. 544).
Aksl. sila hat Verwandte gleicher Bed. in den meisten
slaw. Sprachen; vgl. z. B. russ. síla f. ‚Kraft, Stärke‘,
tschech. síla f. ‚dss.‘ (s. weitere Formen in Et. slov. jaz.
staroslov. 816 f.). Lit. síela hat keine Entsprechungen
im Lett., aus dem Apreuß. gehören hierher akk.sg. seilin
‚Fleiß‘, akk.pl. seilins ‚Sinne‘, noseilis ‚Geist‘, seilisku
‚Andacht‘, akk.sg. lāngiseiliskan ‚Einfältigkeit‘ und
akk.pl. lāngiseilingins ‚einfältigen‘ (ALEW 2, 910 f.).
Obwohl die balt. Wörter in Bedeutungen wie ‚Andacht‘
und ‚Seele‘ ausgeprägt christliche Konzepte bezeichnen,
können sie mit den slaw. Formen eine ursprünglichere
Semantik wie ‚innere Kraft‘ teilen.
P.-A. Mumm, FS Ronneberger-Sibold 2018:
370, sieht zwar wie E. Seebold in urgerm.
*sai̯u̯alō- ein urspr. Komp. mit zweitem Be-
standteil *-u̯alō-, doch erwägt er, dass das
Wort durch Haplologie auf älteres *sai̯u̯a-
u̯alō- zurückgehen könnte. Das KVG *sai̯u̯a-
entspräche dabei genau lat. saevus ‚wütend,
tobend, grausam‘ < uridg. *seh₂i-u̯o-. *sai̯u̯a-
u̯alō- hätte urspr. ‚wütende Wiedergängerin‘
bedeutet.
Ein uridg. Wort für ‚Seele‘ ist nicht rekonstruierbar. Viel-
mehr erscheinen in den idg. Einzelsprachen diverse Aus-
drücke, die zu bestimmten Zeiten unterschiedliche Vor-
stellungen spiegeln können. Zwar sind in mehreren
Sprachzweigen Ableitungen zur Wz. *h₂enh₁- ‚atmen‘ in
der Bed. ‚Seele‘ bezeugt, doch zeigen sie jeweils indivi-
duelle Suffixe; vgl. aav. ą̇nman- n. ‚Atem, Seele‘, lat.
anima f. ‚Luft, Atem, Seele‘, mkymr. eneid f. ‚Seele,
Geist‘, aisl. ǫnd f. ‚Seele, Atem‘ (NIL 307 ff.); ähnlich
sind aksl. duša f. ‚Seele‘, lit. dvãsas m. ‚Atem, Geist,
Seele‘ verschiedene Bildungen zur uridg. Wz. *dhu̯es-
‚(ein-, aus-)atmen‘ (LIV² 160). Dagegen ist heth.
ištanzan- c. ‚Seele‘ wohl eine Ableitung zur uridg. Wz.
*steh₂- ‚sich hinstellen‘ (LIV² 590 ff., s. Kloekhorst, Et.
dict. of Hitt. 414 f.).
LIV² 160. 590 ff.; NIL 307 ff.
DSW