senên sw.v. III, nur in Gl. 3,417,27
(wohl um 1175, alem.): ‚matt sein; marcēre,
languēre‘. – Mhd. senen sw.v. ‚sich sehnen,
sich härmen, Verlangen empfinden‘, frühnhd.
(sich) sehnen ‚sich sorgen, bekümmert sein,
verlangen‘‚ nhd. (herbei-)sehnen, sich sehnen
‚herbeiwünschen, verlangen, schmerzlich ver-
missen‘.
Zur Bedeutungsentwicklung des Wortes s. St.
Müller und C. Wich-Reif, FS Schmid 2018:
147–158.
Splett, Ahd. Wb. 1, 1232; eKöbler, Ahd. Wb. s. v. senēn*;
Schützeichel⁷ 277; Starck-Wells 516; Schützeichel,
Glossenwortschatz 8, 162; Bergmann-Stricker, Katalog
Nr. 855; Graff 6, 239; Lexer 2, 878; Diefenbach, Gl. lat.-
germ. 317 (languere); Dt. Wb. 16, 151 ff.; Kluge²¹ 698;
Kluge²⁵ s. v. sehnen; ePfeifer, Et. Wb. s. v. sehnen.
Das sw. V. hat keine direkten Entsprechungen
in den anderen germ. Sprachen. Zwar ist an-
scheinend eine Ableitung in dem Adv. mndd.
senentlīken ‚sehnsüchtig‘ bezeugt, doch bleibt
der einzige Beleg isoliert.
Wenn die Wörter ahd. senên, mhd. senen weiter
mit dem sw. V. mhd. seinen ‚verspäten, versäu-
men, aufschieben, aufhalten, hindern‘ und dem
Adj. mhd. seine ‚langsam, träge, gering‘ ver-
wandt sind, ergeben sich weitere Anknüpfungs-
möglichkeiten: ahd. senên kann eine schwund-
stufige Wz.form *sin- fortsetzen, neben der o-
stufiges *sain- in mhd. seinen und seine stand.
Dann gehören weiter auch die Adj. hierher, die
mhd. seine entsprechen, nämlich ae. sǣne
‚träge, zögernd, langsam‘, aisl. seinn, seinni
,langsam, saumselig, verspätet‘, nisl. seinn
‚langsam, spät‘, fär. seinur ‚spät‘, adän. sēn
‚langsam, spät‘, ndän. sen ‚dss.‘, nnorw. sein
‚langsam, träge, spät‘, aschwed. sēn ‚dss.‘,
nschwed. sen ‚dss.‘. Im Got. ist nur das sw. V.
I sainjan ‚zögern, säumen‘ bezeugt, das von
dem Adj. abgeleitet ist. Auch das Ae. kennt in
ā-sānian ‚schwach werden, schwinden‘ ein sol-
ches deadj. Verb, im Aisl. ist es als seina ,ver-
zögern, versäumen‘, im Aschwed. als sena
‚dss.‘ fortgesetzt.
Lediglich moderne nordgerm. Sprachen bewah-
ren auch Verben mit e-Vollstufe: das st. V.
norw. dial. sina (sein, sini) ‚langsam gleiten,
herab sinken, schwer werden‘ und die sw. V. II
norw. dial. sina ‚gelt werden, versiegen‚ aufhö-
ren Milch zu geben‘ und schwed. sina ‚aufhö-
ren Milch zu geben‘. Semantisch ergibt sich ei-
nerseits eine Verbindung von ahd. senên ‚matt
sein‘ mit mhd. seine ‚träge, langsam‘, anderer-
seits mit den Verben norw. dial. sina ‚schwer
werden‘ und ‚versiegen‘. Eine eingeengte Ver-
wendung liegt der spezifischen Bed. von norw.
dial. und schwed. sina ‚aufhören Milch zu ge-
ben‘ zugrunde.
Die Formen weisen auf eine ablautende Wz. ur-
germ. *sei̯n-, *sai̯n-, *sin-.
Fick 3 (Germ.)⁴ 439; Heidermanns, Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 462 f.; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 3,
203; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 4, 189; Holthausen, Ae.
et. Wb. 267 f.; Bosworth-Toller, AS Dict. 51 f. 811;
Suppl. 692; Suppl. 2, 757; Vries, Anord. et. Wb.² 469;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 769; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog 3, 200; ONP s. v. seinn; Jónsson, Lex.
poet. 488; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 239;
Magnússon, Ísl. Orðsb. 802; Falk-Torp, Norw.-dän. et.
Wb. 2, 957 f.; Nielsen, Dansk et. ordb. 364; Ordb. o.
d. danske sprog 18, 1080 ff. 1100; Suppl. s. v. sen;
Bjorvand, Våre arveord² 936; Torp, Nynorsk et. ordb.
572 (s. v. sein). 580 (s. v. sîna²); NOB s. vv. sina¹, sina²;
Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 900. 910; Svenska akad.
ordb. s. vv. sen adj., sina v.; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr.
405; Lehmann, Gothic Et. Dict. S-9.
Urgerm. *sei̯n- ist eine neue Wz., die im Germ.
wahrscheinlich aus einem vorurgerm. nasalinfi-
gierten Präsens entstand. Denn die Wz.struktur
*sei̯n- war im Uridg. nicht möglich. Vielmehr
lag zunächst eine schwundstufige Wz.form
*siH- vor, die Präsensformen mit Nasalinfix
wie 3.sg.akt. *si-ne-H-ti, pl. *si-n-H- hatte.
Durch Reanalyse des Präsens als *sin-V̄-ti
(mit -V̄- < *-eH-) fassten dann die Sprecher das
vormalige Infix *-n- als Bestandteil der Wz.
auf, und zu schwundstufigem *sin- wurden
die vollstufigen *sei̯n- und *soi̯n- (> urgerm.
*sai̯n-) hinzugebildet.
Wenn die uridg. Wz. *siH- genauer *sih₁- mit
*h₁ ist, vergleichen sich die Verben heth. šiēzzi
‚schießt‘, kluw. šāi ‚lässt los‘, lyk. ha- ‚lassen‘,
ved. ví syàti ‚macht los‘ und lat. sinere ‚lassen,
zulassen‘. Sie führen auf eine Vorform uridg.
*seh₁(i̯)- ‚loslassen‘ mit Schwundstufe *sh₁i-,
die durch Laryngalmetathese *sih₁- ergab. In
den verwandten Sprachen setzt auch lat. sinere
ein nasalinfigiertes Präsens *si-ne-h₁-ti fort,
wie oben für die Vorstufe von urgerm. *sin- an-
genommen. Zur semantischen Verbindung zwi-
schen ‚lassen, loslassen‘ und ‚matt, langsam‘ in
den germ. Fortsetzern vgl. z. B. ahd. lâzan ‚las-
sen‘, das mit Wörtern wie lat. lassus ‚müde‘
verwandt ist.
Andere für lat. sinere vorgeschlagene Anknüpfungen
erfordern Zusatzannahmen für die Bedeutungsent-
wicklung, s. de Vaan, Et. dict. of Lat. 566 f.; LIV² 518
verteidigt die Zusammenordnung der oben genannten
Verben unter dieser Wz.
Das Adj. mhd. seine und seine germ. Entsprechungen
werden in der früheren Literatur direkt mit dem Adj. lit.
atsainùs ‚(nach-)lässig‘ verglichen. Die innerbalt. Zuord-
nung des Wortes steht jedoch noch aus.
Walde-Pokorny 2, 462 f.; Pokorny 890 f.; LIV² 518;
Mayrhofer, KEWA 3, 549 f. 803; ders., EWAia 2, 186 (s. v.
prásiti-). 720 f. 725 (s. v. syaka-); Walde-Hofmann, Lat.
et. Wb. 2, 545 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 628 f.; de
Vaan, Et. dict. of Lat. 566 f.; Tischler, Heth. et. Gl. 2,
700 ff.; Kloekhorst, Et. dict. of Hitt. 694 f.; CHD Š-15 ff.;
Neumann, Gloss. d. Lyk. 88 f.; Melchert, Dict. Lyc. lang.
25; ders., Luv. lex. 183.
DSW