sinnan
Band VII, Spalte 1258
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sinnan st.v. III (prät. sann, sunnun,
part.prät. ), bei O, N: ‚streben, verlangen, ge-
hen, kommen; appetere, approximare, exire,
gaudēre, venire‘. – Mhd. sinnen st.v. (prät.
sann, part.prät. gesonnen) ‚gehen, reisen, wahr-
nehmen, merken, verstehen, Gedanken/Begier-
den richten auf‘, nhd. sinnen st.v. (prät. sann,
part.prät. gesonnen) ‚nachdenken, überlegen‘;
dazu die zunächst (19. Jh.) ugs. Ableitung sin-
nieren sw.v. ‚lange nachdenken, grübeln‘.

Splett, Ahd. Wb. 1, 817; eKöbler, Ahd. Wb. s. v. sinnan;
Schützeichel⁷ 282; Seebold, ChWdW9 728; Graff 6, 227;
Lexer 2, 928; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 47 (appetere).
48 (approximare). 285 (gaudēre). 700 (venire); Dt. Wb.
16, 1157 ff.; Kluge²¹ 709 (s. v. Sinn); Kluge²⁵ s. vv. Sinn,
sinnieren; ePfeifer, Et. Wb. s. v. sinnen.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
as. -sinnan st.v. (prät. –, –, part.prät. –; nur in
farsinnan ‚sich besinnen, wieder zur Besinnung
kommen‘), mndd. sinnen st./sw.v. ‚erstreben, er-
bitten, ersuchen, begehren, verlangen, fordern,
streben nach, trachten, gesinnt sein, denken,
glauben, vermuten, nachsinnen‘; frühmndl. sin-
nen st.v. ‚sich (vor Gericht) entschuldigen las-
sen‘, mndl. sinnen, zinnen st./sw.v. (prät. sonn,
part.prät. gesonnen) ‚versuchen, verlangen, er-
streben, denken, nachsinnen‘, (in einigen Bed.
aus dem Nhd. entlehnt bzw. beeinflusst) nndl.
zinnen st./sw.v. ‚sich vor Gericht entschuldigen
(lassen), wahrnehmen, fühlen, meinen, den-
ken‘; afries. (-)sinna st.v. (prät. –, part.prät. –)
‚sinnen, denken an, beabsichtigen‘, nwestfries.
sinne sw.v. ‚denken, bedenken, nachdenken‘,
saterfries. sinne st./sw.v. (prät. son/sinde, sonnen/
sinden, part.prät. sonnen/sind) ‚nachdenken, grü-
beln‘; ae. sinnan st.v. (prät. sann, sunnon, part.
prät. sunnen) ‚sinnen, nachdenken, sorgen um,
aufhören‘; aisl. sinna sw.v. ‚reisen, fahren, zie-
hen, jmdm. folgen, sich halten an, achten auf,
sich kümmern um, sinnen‘ (die drei letztgenann-
ten Bed. hat das Verb wohl unter mndd. Einfluss
angenommen), nisl. sinna sw.v. ‚dss.‘, fär. sinna
seg sw.v. ‚achten auf‘, aschwed., schwed. sinna
‚nachdenken, denken‘ (Lehnwort aus dem
Mndd.): < urgerm. *sen(þ)ne/a-.
Zum zugehörigen Kaus. urgerm. *sanđie/a- s.
senten.

Fick 3 (Germ.)⁴ 430; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 437;
Seebold, Germ. st. Verben 394 f.; Tiefenbach, As. Hand-
wb. 335 (farsinnan); Lasch-Borchling, Mndd. Handwb.
3, 238 f.; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 4, 213; VMNW
s. v. sinnen; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 7, 1158; Franck,
Et. wb. d. ndl. taal² 823; Suppl. 203; Vries, Ndls. et. wb.
867; Et. wb. Ndl. S-Z 668 (s. v. zin); WNT s. vv. zin, zin-
nen¹, zinnen², zinnen³; Hofmann-Popkema, Afries. Wb.
58 (bisinna). 552 (ūrsinna); Richthofen, Afries. Wb.
1017; eFryske wb. s. v. sinne²; Dijkstra, Friesch Wb. 3,
78; Fort, Saterfries. Wb.² 518; Holthausen, Ae. et. Wb. 295;
Bosworth-Toller, AS Dict. 877; Vries, Anord. et. Wb
477; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 786 f. 1154; Fritzner,
Ordb. o. d. g. norske sprog 3, 248; ONP s. vv. sinna³,
sinna⁴, sinna⁵; Jónsson, Lex. poet. 496; Holthausen, Vgl.
Wb. d. Awestnord. 245; Magnússon, Ísl. Orðsb. 818 (s. vv.
sinn, sinna); Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 2, 967 f. (s. v.
sind); Nielsen, Dansk et. ordb. 366 (s. v. sind); Ordb. o.
d. danske sprog 18, 1440 (sinde⁴); Bjorvand, Våre arve-
ord² 951 ff. (s. v. -sinne); Torp, Nynorsk et. ordb. 580 f.
(s. v. sinn²). 1539 f.; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 11 f.
(s. v. sinne); Svenska akad. ordb. s. v. sinna. – Lühr
2000: 210.

Letztlich können in urgerm. *sen(þ)ne/a- zwei
Bildungen zusammengefallen sein; einmal das
auch traditionell meist angesetzte (morpholo-
gisch eher auffällige) Nasalsuffixpräs. frühur-
germ. *senþ-ne/a- zur Wz. uridg. *sent- ‚gehen‘
und ‚bemerken, wahrnehmen‘ (wobei nicht ge-
klärt ist, ob es sich dabei um eine Wz. handelt,
die eine Bedeutungserweiterung erfahren hat
[‚dem Wild‘ nachgehen‘ > ‚nachspüren‘ > ‚be-
merken‘ > ‚fühlen‘], oder um urspr. zwei ver-
schiedene) und andererseits (wie in neuerer Li-
teratur üblich; vgl. z. B. LIV² 532 f.; Kloekhorst,
Et. dict. of Hitt. 720) eine Ableitung von der
Wz. uridg. *senh₂- ‚erlangen, erwischen‘ (uridg.
*senh₂-e/o- > urgerm. *senne/a-), vielleicht mit
Bed.verschiebung ‚(mit dem Verstand) zu er-
langen (versuchen)‘ > ‚nachdenken‘. Für einen
Zusammenfall zweier Bildungen könnte auch
sprechen, dass das zugehörige Kaus. urgerm.
*sanđie/a- (s. senten) im Germ. immer nur
die Bed. ‚senden, schicken‘, nie ‚nachdenken/
wahrnehmen machen/lassen‘ o. ä. hat, also se-
mantisch gegenüber dem zugehörigen Grund-
verb eingeschränkt zu sein scheint: Es gäbe also
einerseits ein Paar (früh-)urgerm. *sen(þ)ne/a- :
*sanđie/a-, aber nur uridg. *senh₂-e/o- > ur-
germ. *senne/a- (und kein urgerm. *sannie/a-).
Sichere verbale Anschlüsse an diese Wz. finden
sich im It. und Balt., vormals für möglich ge-
haltene im Slaw.; sichere nominale dann auch
im Kelt. (zu diesen s. sind).
Im It. gehört dazu die Sippe von lat. sentiō
‚fühle, nehme wahr, meine‘ (< [vor-]urit. *st-
e/o-); fortgesetzt im Rom. in rum. simţì ‚füh-
len, wahrnehmen‘, vegliot. senter ‚dss.‘, log.
sentire ‚dss.‘, engad. sentir ‚dss.‘, friaul. sintí
‚dss.‘, italien. sentire ‚fühlen, wahrnehmen, hö-
ren‘, frz. sentir ‚fühlen, wahrnehmen, riechen‘,
prov., katal., span., port. sentir ‚fühlen, wahr-
nehmen‘, im Balt. lit. sių̃sti, siunčiù ‚schicken,
senden‘ (mit nur schwer zu erklärender Lautge-
stalt der Wz.), lett. sūtīt [sùtît] ‚schicken, sen-
den‘. Der Anlaut des lit. Verbs ist problema-
tisch, das lett. Verb dürfte die urspr. Form urbalt.
*sunt- wiedergeben, während das lit. Verb wohl
analogisch verändert ist. Öfter in diesem Zusam-
menhang zitiertes alit. „suntù wird ohne Belege
in der Sekundärliteratur angeführt“ (ALEW 2,
916) und könnte ein Ghostword sein; ebenda
genanntes (und auch sonst in der Literatur bis-
weilen so angesetztes) „ahd. sint“ ist in ahd.
sind (s. d.) zu korrigieren. Weiter angebunden
wird lit. dial. (žem.) sintti, sinčiù ‚denken, sich
entschließen‘ (mit dem Reflex urbalt. *-- >
lit. -in- in derselben Lautumgebung, in der in
den anderen balt. Wortformen -un- entsteht).

In der Literatur bisweilen (u. a. Walde-Pokorny 2, 497;
Pokorny 908; LIV² 533 Anm. 1; Smoczyński, Słow. et.
jęz. lit.² s. v. sių̃sti) erwähntes aksl. sęštь adj. ‚klug‘ (theo-
retisch < vorurslaw. *sent-o- oder *st-o-) ist ein Ghost-
word (ebenso wie dessen [altbulgarisierte?] Var. aksl.
sęštъ adj. bei Kroonen, Et. dict. of Pgm. 437, Derksen,
Et. dict. of Slav. 450, de Vaan, Et. dict. of Lat. 554). Das
Wort ist u. a. weder in Et. slov. jaz. staroslov. noch in
Aitzetmüller-Sadnik 1955 [1989], Kurz-Hauptová 1966–
97 [2006] oder weiteren Wörterbüchern des Aksl. aus
den letzten Jahrzehnten gebucht. Es findet sich aber u. a.
in Miklosich 1862–65: 975 und Miklosich 1886: 292.
Miklosichs Erstedition des Cod. Suprasliensis (Miklosich
1851: 242 Z. 20) ist die Quelle der dem Ghostword zu-
grunde liegenden Verlesung/Emendation. Aus den
Wörterbüchern Miklosich 1862–65 und Miklosich 1886
gelangte das Wort schließlich in Fick 3 (Germ.)⁴ 430
[1909] und Walde 1910: 699 f., Walde-Hofmann, Lat.
et. Wb. 2, 515 f., von dort weiter in Walde-Pokorny
und Pokorny, war damit endgültig kodifiziert - und
wurde nicht mehr geprüft. Die Autopsie eines Facsi-
miles der Handschrift des Cod. Suprasliensis
(http://suprasliensis.obdurodon.org/pages/supr165r.html;
15.03.2019) ergab an der Stelle (fol. 165r, 6) tatsächlich
eine Lesung aksl. sǫštęję, nom.sg.part.präs.akt.fem. zu
byti ‚sein‘ (vъ zlobi sǫštęję zmiję ‚der im Zorn seienden
Schlange‘ als Übersetzung von gr. τοῦ ἐν κακίᾳ φρονίμου
ὄφεως). Der Fehler kam dadurch zustande, dass das im
gr. Original vorhandene Attribut gr. φρόνιμος adj. ‚klug‘
nicht übersetzt worden war, aber im aksl. Text das prä-
positionale Attribut gr. ἐν κακίᾳ = vъ zlobi mit einem
Part.Präs. von ‚sein‘ mit seinem Bezugswort verbunden
werden musste. Aksl. sǫšt- wurde dann zu sęšt- verlesen
bzw. emendiert, obwohl die Schreibung des Ms. eindeu-
tig ist, und dem verlesenen Wort die Bed. von gr.
φρόνιμος adj. ‚klug‘ zugeschrieben, weil es an derselben
Stelle im Satz stand.

Sichere Fortsetzer von der Wz. uridg. *senh₂-
‚erlangen, erwischen‘ finden sich v. a. im Anat.,
Iiran., Gr. und wohl Kelt.; vgl. heth. ša(n)hzi
‚sucht‘, ai. sani- in sanóti ‚gewinnt, erlangt, ver-
schafft‘ (voruriiran. *s[h₂]-- mit Verallge-
meinerung einer laryngallosen Wz.form nach
solchen Formen, in denen der Laryngal antevo-
kalisch geschwunden war), aav. han- ‚erobern‘
(1.sg.konj.präs. hanānī), gr. ἀνύω, ἁνύω, ἄνω,
ἄνυμι ‚vollende, bringe zu Ende‘ (< urgr.
*hanu- < vorurgr. *s[h₂]-- ebenfalls mit
Verallgemeinerung einer laryngallosen Wz.form
[vgl. o. die ai. Form]), vielleicht der PN myk. a-
nu-to /Anuto-/ (KN, TH) und sicher der PN a₂-
nu-me-no /Hanumeno-/ (PY Jn 389.12) als sub-
stantiviertes Part.Präs.Med. zum vorgenannten
gr. Verb mit noch erhaltener Anlautaspiration.
Weiter dazu gestellt wird air. seinnid*, meist
präfigiert wie in air. do-seinn ‚verfolgt‘. Da
im Kelt. wie im Germ. ein Lautgesetz galt,
nach dem ein Dental zwischen zwei Nasalen
schwand, könnte in einigen Formen des air.
Verbs möglicherweise wie im Germ. auch die
Wz. uridg. *sent- fortgesetzt sein.
Die Zugehörigkeit verschiedener arm. Wörter
zu dieser Wz. ist umstritten; ein Zusammen-
hang wurde erwogen etwa für arm. ownim
‚habe‘, falls es aus einem Perf. uridg.
*(se-)sonh₂e ‚ich erlangte‘ umgestaltet ist; für
arm. hanem ‚herausnehmen, herausziehen,
wegnehmen, herausbringen, ergreifen‘. Doch
stellt sich dieses Verb möglicherweise zu heth.
āni-/an- ‚(Flüssigkeit) ziehen, schöpfen‘
(< uridg. *h₂en-).

Walde-Pokorny 2, 493 f. 496 f.; Pokorny 901 (s. v. sem-).
906. 908; LIV² 266. 532 f.; Mayrhofer, KEWA 2, 427 f.;
ders., EWAia 2, 696; Rastorgueva-Ėdel’man, Et. dict.
Iran. lang. 3, 360 (han-²); Bartholomae, Airan. Wb
1768; Cheung, Et. dict. of Iran. verb 128; Frisk, Gr. et.
Wb. 1, 115; Chantraine, Dict. ét. gr.² 90; Beekes, Et. dict.
of Gr. 1, 110; Aura Jorro-Adrados 1985 ff.: 1, 72. 128;
Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 2, 515 f.; Ernout-Meillet,
Dict. ét. lat.⁴ 614; de Vaan, Et. dict. of Lat. 554; Du
Cange² 7, 425; Körting, Lat.-rom. Wb.³ Nr. 8612; Meyer-
Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr. 7824; Wartburg, Frz. et. Wb.
11, 467 f.; Martirosyan, Et. dict. of Arm. 389. 636 f.;
Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 292; Derksen, Et. dict. of
Slav. 450; Derksen, Et. dict. of Balt. 399; Fraenkel, Lit.
et. Wb. 1, 789; Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.² s. v. sių̃sti;
ALEW 2, 916 f.; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3,
1135; Karulis, Latv. et. vārd.² 962 f.; Fick 2 (Kelt.)⁴ 323;
Schumacher, Kelt. Primärverb. 558 ff.; Vendryes, Lex.
ét. de l’irl. anc. S-86 f. (senn-²); eDIL s. v. do-seinn;
Kronasser, Etym. d. heth. Spr. 1, 98. 423. 513; Tischler,
Heth. et. Gl. 1, 144 f.; 2, 2, 818; Kloekhorst, Et. dict. of
Hitt. 281 f. 720 f. – R. Lühr, MSS 35 (1976), 80; Klingen-
schmitt 1982: 131 f.; Müller 2007: 290 f.

HB


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