situ
Band VII, Spalte 1290
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situ m. u-St., im Abr und anderen Gl., in
I, B, GB, O, WB, N, Npg, Ph, WH: ‚Sitte, Ge-
wohnheit, Brauch, Ausübung, Maß, Maßgabe,
Weise, Art, Anlage, Verhalten(sweise), Le-
bensweise, Lebenswandel, Sittsamkeit; ars,
conditio, conspersio, consuetudo, habitus, in-
dicium?, indoles, ingenium, inordinatio, ius,
modus, moralitas, mos, motus, ritus, tractum,
usus‘, after situ ‚mit gebräuchlicher Bezeich-
nung; usitato vocabulo‘, ânu situ ‚maßlos‘, zi
demu selbin sitin ‚in gleicher Weise; huius-
modi‘, zi situ habên ‚gewohnt sein, pflegen;
solēre‘, situ wesan ‚dss.‘, situ tragan ‚(jmdm.)
willfahren; (alicui) morem gerere‘ 〈Var.: -d-,
-tt-; -e, -o〉. – Mhd. site st./sw.m. ‚Art und
Weise, wie man lebt, Volksbrauch, Gewohn-
heit‘, frühnhd. sit m. ‚Sitte, Brauch, Benehmen,
Vorgehen, Gewohnheit, Beschaffenheit, An-
stand‘, nhd. Sitte f. ‚auf Tradition und Gewohn-
heit beruhende, in einer bestimmten sozialen
Gruppe, Gemeinschaft übliche und für den ein-
zelnen oft als verbindlich geltende menschliche
Verhaltensform, Verhaltensregel, Gepflogen-
heit, Brauch, zum Bereich der Moral gehörende
Verhaltensregeln und Verhaltensweisen mit un-
terschiedlichem Klassencharakter‘.
Das m. Genus hält sich bis zum Ende des
Mhd. weitgehend, erste fem. Belege stammen
im Obd. aus dem 13. Jh.; danach, bis ins 17. Jh.,
setzt sich immer mehr das Fem. durch. Schar-
nierform für den Übergang war wohl die meist
im Pl. erfolgte Verwendung des Worts: sit(t)en.
In obd. Dial. hielt sich das m. Genus teilweise
noch bis mindestens ins 19. Jh.; vgl. schweiz.
sitte f. neben ält. sit(t) m. ‚Sitte, Brauch, Ge-
wohnheit‘, bair. sitt(en) m. ‚Sitte, Brauch‘, ti-
rol. sitt m. ‚Sitte, Gebärde, äußeres Betragen‘,
akk.sg. den sitten ‚die Art‘. Im Mndd. treten f.
Formen später als im Obd. auf.

Splett, Ahd. Wb. 1, 821 f.; eKöbler, Ahd. Wb. s. v. situ;
Schützeichel⁷ 283; Starck-Wells 528. XLVI; Schützeichel,
Glossenwortschatz 8, 250 f.; Seebold, ChWdW8 255.
437. 511; ders., ChWdW9 730. 1110; Graff 6, 159;
Lexer 2, 941 f.; Götze [1920] 1971: 202; Diefenbach,
Gl. lat.-germ. 369 (mos). 499 (ritus); Götz, Lat.-ahd.-
nhd. Wb. 142 (consuetudo). 288 (s. v. gerere). 307
(huiusmodi). 337 (ingenium). 412 (moralitas). 414
(mos). 578 (ritus). 616 (solēre). 690 (usus). 717 (s. v.
vocabulum); Dt. Wb. 16, 1238 ff.; Kluge²¹ 710;
Kluge²⁵ s. v. Sitte; ePfeifer, Et. Wb. s. v. Sitte. –
Schweiz. Id. 7, 1465 ff. bes. Anm. auf 1467; Stalder,
Versuch eines schweiz. Id. 2, 375; Schmeller, Bayer.
Wb.² 2, 338; Schöpf, Tirol. Id. 676; Schatz, Wb. d. tirol.
Mdaa. 2, 577.

In den anderen germ. Sprachen entsprechen: as.
sidu m. ‚Sitte, Weise‘, mndd. sēde, sedde m./f.
‚Angewohnheit, Gepflogenheit, Brauch, Ge-
wohnheit, Mode, Herkommen, Tradition, Ei-
genschaft, Eigentümlichkeit, Verhalten, Beneh-
men, Auftreten, Gesittetheit‘; andfrk. sido, sidu
m. ‚Gewohnheit, Sitte, Verhalten‘, frühmndl.
sede m./f. ‚Sitte, Gewohnheit, Brauch, Art, Ma-
nier, Charakter, Weise, Eigenschaft‘, mndl.
sēde m./f. ‚Sitte, Gewohnheit, Brauch, Art und
Weise, Handelsweise, Art, Geartetheit, Charak-
ter, Eigenheit, ruhige Gemütsstimmung‘, nndl.
zede f. ‚Sitte, Brauch, Gewohnheit, Manier‘;
afries. side, sid m./f. ‚Sitte‘, nwestfries. sede f.
‚Sitte, Gewohnheit‘, saterfries. síede m./f.
‚Sitte‘; ae. sidu, seodu, siodu m. ‚Sitte, Ge-
wohnheit, Brauch, Art und Weise, Sittlichkeit,
gute Sitte, Reinheit‘; aisl. siðr m. ‚Sitte,
Brauch, Zusammensein, Religion, Glaube‘,
nisl. siður m. ‚dss.‘, fär. siður m. ‚dss.‘, adän.
sith, seth ‚Sitte‘, ndän. sæd ‚dss.‘, nnorw. sed
m./f. ‚Sitte, Gewohnheit‘, aschwed. sither m.,
sedher m. ‚Sitte, Religion‘, nschwed. sed
‚Sitte‘; got. sidus m. ‚Sitte; τὰ ἔθη‘: < urgerm.
*siđu- m.

Fick 3 (Germ.)⁴ 428; Kroonen, Et. dict. of Pgm. 435;
Tiefenbach, As. Handwb. 332; Sehrt, Wb. z. Hel.² 461;
Berr, Et. Gl. to Hel. 339 f.; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm.
218; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 3, 174 (sēde¹);
Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 4, 162 f.; ONW s. v. sidu;
VMNW s. v. sede; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 7, 843 ff.;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 812; Vries, Ndls. et. wb. 856;
Et. wb. Ndl. S-Z 651; WNT s. v. zede¹; Hofmann-Popkema,
Afries. Wb. 425; Richthofen, Afries. Wb. 1012 (side²);
eFryske wb. s. v. sede; Dijkstra, Friesch Wb. 3, 60
(Komp. und Ableitungen mit VG sed[e]-); Fort, Sater-
fries. Wb.² 515 (síede⁴); Holthausen, Ae. et. Wb. 292
(sidu¹); Bosworth-Toller, AS Dict. 871; Vries, Anord. et.
Wb.² 472; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 767; Fritzner, Ordb.
o. d. g. norske sprog 3, 229; ONP s. v. siðr; Jónsson,
Lex. poet. 492; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 242;
Magnússon, Ísl. Orðsb. 810; Falk-Torp, Norw.-dän. et.
Wb. 2, 1230 (sæd¹). 1562; Nielsen, Dansk et. ordb. 441
(sæd²); Ordb. o. d. danske sprog 23, 55 ff. (sæd²);
Bjorvand, Våre arveord² 931 f.; Torp, Nynorsk et. ordb.
571; NOB s. v. sed; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 2, 895 f.;
Svenska akad. ordb. s. v. sed subst.; Feist, Vgl. Wb. d. got.
Spr. 418; Lehmann, Gothic Et. Dict. S-49.

Der Ansatz einer Vorform urgerm. *siđu- m. in
älteren Etymologika verdient gegenüber der
Rekonstruktion urgerm. *s()eđu- den Vorzug.
Der Ansatz *s()eđu- scheitert am Vokalismus
der aisl. und ae. Formen (so zuerst W. Wiss-
mann, MSS 6 [1955], 129 Anm. 28); damit ent-
fällt auch die ältere Herleitung von der Wz.
uridg. *se- ‚eigen, sein‘ (Weiteres zu dieser
Wz. s. u. sih, sîn²) und damit die Verbindung
mit ai. svadh- f. ‚Eigenheit, Eigenkraft, Cha-
rakter, gewohnte Art, Gewohnheit‘, gr. ἔθος n.
‚Gewohnheit, Brauch, Übung‘ etc.
Vielmehr handelt es sich wohl um eine Ablei-
tung von der Wz. uridg. *sh₂e- ‚fesseln, bin-
den‘. Zugrunde liegt ein proterodynamischer
tu-St. uridg. nom. *sh₂é-tu-s, gen. *sh₂i-té-s >
späturidg. nom. *sh₂á-tu-s, gen. *sih₂-té-s
(mit Laryngalmetathese). Dieses Paradigma
hätte zu urgerm. †saþuz, gen. †sīđez geführt.
Wahrscheinlich unterblieb die Laryngalmeta-
these analog zur Wz.gestalt der st. Kasus,
gleichzeitig wurde aber der Akzent der sw. Ka-
sus verallgemeinert (der den germ. Formen aus
vorurgerm. *sh₂i-tú- zugrunde lag); somit ergab
sich urgerm. *siđu-.
Grundbed. war in etwa ‚Verbindung, das Ver-
bindende‘ > ‚(gemeinsame) Art‘ > ‚Eigenheit,
Sitte‘.
Der tu-St. findet sich sonst nur im Iiran. fortge-
setzt als ai. sétu- m. ‚Band, Fessel, Damm, Brü-
cke‘, mi., pālī setu- m. ‚Brücke‘, jav. haētu- m.
‚Damm‘, khotansak. hī ‚Brücke‘, osset. xīd/xed
‚Brücke‘.
Zu weiteren Ableitungen von der Wz. uridg.
*sh₂e- ‚fesseln, binden‘ s. die u. a. Literatur.

Walde-Pokorny 2, 455. 456 f.; Pokorny 882 ff. 891 f.;
LIV² 544; Mayrhofer, KEWA 3, 501; ders., EWAia 2, 745;
Rastorgueva-Ėdel’man, Et. dict. Iran. lang. 3, 399 f.;
Bartholomae, Airan. Wb.² 1728. – Abaev 1958–89: 4,
199; Bammesberger 1990: 159; Neri 2003: 328–330.

HB

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