vesperaAWB f. ō-, ōn-St., Gl. 1, 265, 2 (K; uespe-
rū gen.sg.) und Reichen. Beichte (9./10. Jh.):
‚Abend(zeit), Abendmesse, Vesper, vespera‘. —
Mhd. vesper st.f. ‚die vorletzte kanonische
Stunde (6 Uhr abends) und der betreffende
Horagesang‘, nhd. Vesper.
Ahd. Wb. III, 763; Splett, Ahd. Wb. I, 1215; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 258; Schützeichel⁵ 132; Starck-Wells
808; Schützeichel, Glossenwortschatz III, 127; Graff
III, 706; Schade 191; Lexer III, 325; Benecke III, 304;
Diefenbach, Gl. lat-germ. 615 (vespera); Dt. Wb. XII,
2, 5 ff.; Kluge²¹ 820; Kluge²⁴ 959; Pfeifer, Et. Wb.²
1513 f.; Splett, Abrogans-Studien 400 f.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
mndd. vesper; mndl. vesper(e), nndl. vesper ‚die
vorletzte kanonische Stunde (6 Uhr abends)
und der betreffende Horagesang‘; me., ne. ves-
per; dän. vesper ‚dss.; auch der Planet Venus
(als Abendstern)‘, schwed. vesper ‚Abend(mes-
se)‘.
Die germ. Wörter sind Entlehnungen aus lat.
vespera f. ‚Abend(zeit)‘ (die von Pfeifer, Et.
Wb.² 1514 und Burckhardt, Gr. u. lat.-rom.
Lehnw. im Andd. 62 vorgeschlagene Entleh-
nungsbasis mlat. vespera kommt nicht in Frage,
da im Mlat. lediglich vesper und vesperae be-
zeugt sind [Du Cange² VIII, 290]).
Sowohl ins Engl. wie vielleicht auch ins Dän.,
wo sich ebenfalls die Bedeutung ‚der Planet Ve-
nus (als Abendstern)‘ findet, wurden zwei unter-
schiedliche lat. Wörter entlehnt, die dann zu ei-
nem Paradigma verschmolzen: lat. vesper
‚Abendstern; Abend(zeit)‘, das ne. vesper
‚Abendstern, Abend(zeit)‘ ergab, und lat. ves-
peras (akk.pl. von vespera ‚Abendzeit‘ [gebildet
nach lat. mātūtīnās ‚Mette‘]), das als ne. (pl.)
vespers ‚die vorletzte kanonische Stunde (6 Uhr
abends) und der betreffende Horagesang‘ ent-
lehnt wurde. Hierzu wurde ein neuer Sg. vesper
gebildet, der mit vesper < lat. vesper zusam-
menfiel.
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. I, 1, 709; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. V, 246; Verdam, Mndl. handwb.
710; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 739; Vries, Ndls. et.
wb. 780; ME Dict. U-V, 591 f.; Oxf. Dict. of Engl. Et.
977; OED² XIX, 572; Ordb. o. d. danske sprog XXVI,
1250 f.; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 1333.
Auch im Roman. sind beide lat. Formen fortge-
setzt: lat. vesper als afrz. vespre, nfrz. vêpre,
prov. vespre, span. víspera, port. vespera ‚(Vor-)
Abend‘, italien. vespro ‚Abendzeit‘ (in der Ver-
bindung mit preghiera ‚Abendandacht‘), vespero
‚Abendstern‘ und lat. vesperas als nfrz. vêpres,
prov. vespras, span. vísperas, port. vesperas ‚die
vorletzte kanonische Stunde (6 Uhr abends)
und der betreffende Horagesang‘. Lat. vesper
führt zusammen mit gr. ἕσπερος auf uridg. *u̯es-
pero- zurück, woneben lit. vâkaras, lett. vakars
‚Abend‘, aksl. večerъ ‚am Abend‘ (< *u̯eku̯ero-)
stehen. Beide Formen können nicht miteinander
in Einklang gebracht werden, wodurch auch ein
weiterer Anschluß nicht möglich ist.
Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. II, 770 f.; Körting,
Lat.-rom. Wb.³ Nr. 10114; Meyer-Lübke, Rom. et.
Wb.³ Nr. 9273; Wartburg, Frz. et. Wb. XIV, 345 ff.;
Gamillscheg, Et. Wb. d. frz. Spr.² 888; G. Gröber,
Arch. f. lat. Lex. VI (1889), 141.
Es handelt sich um relativ späte kirchensprachli-
che Entlehnungen (etwa zur gleichen Zeit wie
die Begriffe Mette und None), wie der Anlaut
v- zeigt, da bei früheren Lehnwörtern im An-
laut für lat. v- in den germ. Sprachen w- einge-
treten ist (vgl. ahd. wîn < lat. vinum). Im Kir-
chenlat. verengte sich die Bedeutung ‚Abendzeit‘
auf ‚die vorletzte kanonische Stunde (6 Uhr
abends)‘. Durch den hl. Benedikt wurde die
Vesper auf den Nachmittag gelegt; dadurch ver-
schob sich die Zeitbestimmung auf ‚drei Uhr
nachmittags‘.
So wie die Horen im allgemeinen war auch die
Vesper im täglichen Leben eine wichtige zeitli-
che Orientierung, da sie durch Glocken einge-
läutet wurde (vgl. Reichen. Beichte [9./10. Jh.]:
ih gihu gode almahtigen, daz ih ... noh mine ues-
pera noh mina metdina noh mina messa nigilose-
da). Aus der Zeitpunktangabe ‚Zeit, in der die
Vesper gefeiert wird‘ wurde eine Zeitraumanga-
be ‚Zeit zwischen Mittag und Abend‘. Die Zeit-
raumangabe wurde schon im 15. Jh. auf die in
dieser Zeit eingenommene Speise übertragen
und bezeichnete auch ‚die Zwischenmahlzeit am
Nachmittag‘. In dieser Bedeutung kann das
Wort in vielfacher Weise verdeutlicht werden,
u. a. als Vesperbrot, Vierervesper oder Vesperkaf-
fee.
Franz, Lat.-rom. El. im Ahd. 20. 39; K. Galling, Die
Religion in Geschichte und Gegenwart VI (Tübingen,
1986), 1390 f.; Kretschmer, Wortgeographie² 548—553;
Wünschmann, Tageszeiten 30—32. 45—54; H. Frenzel,
in Norm. d. dt. Lit.spr. 3, 185—196.