bilîban st.v. I (prät. bileib, bilibun,
part.prät. biliban), in Gl. 1,736,23 (Ende des
8. Jh.s, alem.); 2,308,59 (Ende des 8./Anfang
des 9. Jh.s, alem.), in der Sam (1,113,24) und
weiteren Gl., I, T, OT, B, GB, MH, O, Oh,
Os, L, TC und MGB: ‚bleiben, zurückblei-
ben, verharren, übrig bleiben, aufhören, ein
Ende haben, wegbleiben, fehlen, sterben;
cessare, deesse, deficere, desistere, destitere
[= desistere], occumbere, remanēre, residē-
re‘, part.prät. ‚zurückgeblieben; residuus‘,
biliban wesan ‚tot sein‘ 〈Var.: präs. pi-, pl-,
be-; -lip-, -lib-, -leib-, -liu-; prät.sg. -leip,
-leiph, pl. -lip-〉. Bereits im 9. oder 10. Jh.
finden sich erste Fälle für die Elision des
unbetonten Präfixvokals (Gl. 1,622,40: part.
prät. nom.sg.m. blibenar). — Mhd. belîben,
blîben st.v. ‚bleiben, verharren, unterbleiben,
unterlassen werden‘, belîben lâzen ‚unter-
lassen‘, frühnhd. beleiben, bleiben ‚sich auf-
halten, verweilen, verharren, beharren, fort-
dauern, übrig bleiben‘, phras. etw. bleiben
lassen ‚etw. unterlassen‘, nhd. bleiben st.v.
‚einen Ort nicht verlassen, verharren, einen
Zustand beibehalten, etw. nicht ändern, übrig
sein‘, in präp. Funktionsverbgefügen wie in
Verbindung bleiben.
Ahd. Wb. 5, 885 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 531; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 96; Schützeichel⁷ 199; Starck-Wells
372. 851; Schützeichel, Glossenwortschatz 6, 67;
Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 296 (II). 777. 895;
Seebold, ChWdW8 189; ders., ChWdW9 509; Graff 2,
47; Lexer 1, 172 f.; Frühnhd. Wb. 4, 581 ff.; Diefen-
bach, Gl. lat.-germ. 491 (remanere). 494 (residere);
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 100 (cessare). 175 (deesse).
176 (deficere). 565 (remanēre); Dt. Wb. 2, 90 ff.; Klu-
ge²¹ 83; Kluge²⁵ s. v. bleiben; Pfeifer, Et. Wb.² 148.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
as. bilīvan st.v. I ‚bleiben‘, negiert ‚ausblei-
ben, unterbleiben‘ (Hel), mndd. blīven, be-
līven (prät. blē[i]f, blēven, part.prät. [ge-]
blēven) ‚bleiben, verbleiben, übrig bleiben,
werden‘, dōt blīven ‚sterben‘; andfrk. bilīvan
st.v. I ‚bleiben, verbleiben‘ (a. 901—1000),
frühmndl., mndl. bliven ‚bleiben, ausbleiben,
übrig bleiben, sterben‘, nndl. blijven ‚weiter
bestehen, ausharren, durchhalten‘; afries. bi-
līva, blīva st.v. I ‚bleiben, übrig bleiben, be-
stehen bleiben, sterben‘, nwestfries. bliuwe
st.v. ‚bleiben, weiter bestehen, einen Zustand
beibehalten, übrig bleiben, sterben‘, sater-
fries. blieuwe ‚bleiben‘, nnordfries. blüuwe
‚bleiben‘; ae. belīfan (prät. bilāf [daneben
irreguläres bilæf, bileaf vielleicht durch den
Einfluss des vom st. Verb abgeleiteten Kau-
sativs belǣfan ‚zurücklassen, zurückbleiben‘],
bilifon, part.prät. bilifen) st.v. I ‚bleiben, fort-
bestehen, übrig bleiben‘, me. bilīven ‚dss.‘: <
urgerm. *i-līe/a- ‚bleiben‘, eigtl. ‚haften,
kleben‘, wohl mit Verallgemeinerung der
Form mit grammatischem Wechsel.
Ob auch got. bilaif (got. Kalender: gaminþi
marwtre þize bi Werekan papan jah Batwin
bilaif ‚Gedächtnis der Märtyrer um Wereka,
den Presbyter und Batwins?‘) hierhergestellt
werden kann, ist unwahrscheinlich. Nach
dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ist die
Form nicht sicher als verbale oder nominale
Form bestimmbar (nach E. A. Ebbinghaus,
JEGPh 77 [1978], 187; S. Suzuki, HS 106
[1993], 134; Lühr 2000: 145 u. a. handelt es
sich bei bilaif um die 3.sg.prät. zu einem Inf.
*bileiban ‚übrig bleiben‘, nach Braune-Hei-
dermanns 2004: §§ 56 Anm. 1. 172 u. a. *bi-
leifan; Nominalform nach von der Gabe-
lentz-Loebe 1843: XVIII. 64; H. Schmeja,
PBB 120 [1998], 355—367: akk.sg. bilaif für
*bi-hlaif als Nebenform zu ga-hlaifs*, ga-
hlaiba* ‚Genosse‘, eigtl. ‚der das Brot mit
einem anderen gemeinsam hat‘ [Possessiv-
komp.], Bammesberger 1990: 98; Casaretto
2004: 90 u. a.: vielleicht Rückbildung zum
sw.v. I bilaibjan* ‚übrig lassen‘).
Aus dem Mndd. wurde das Verb ins Nord-
germ. entlehnt: aisl. blífa ‚bleiben, werden‘,
adän. bliffue ‚bleiben, werden, ertrinken, um-
kommen‘, ndän. blive ‚bleiben, werden‘,
nnorw. bli ‚bleiben, werden, ertrinken, um-
kommen‘, aschwed. blīva, nschwed. bli,
bliva ‚bleiben, werden‘.
Wie die Belege in den Einzelsprachen zei-
gen, ist nur das mit *i- präfigierte Verb,
nicht aber ein Simplex urgerm. *līe/a- fort-
gesetzt.
Zu den hierher gehörigen Kausativbildungen
got. bi-laibjan ‚übrig lassen‘ usw. s. leiben.
Fick 3 (Germ.)⁴ 368; Seebold, Germ. st. Verben
326 f.; Tiefenbach, As. Handwb. 246; Sehrt, Wb. z.
Hel.² 334; Berr, Et. Gl. to Hel. 242; Lasch-Borchling,
Mndd. Handwb. 1, 1, 296; Schiller-Lübben, Mndd.
Wb. 1, 359; ONW s. v. bilīvan; VMNW s.v. bliven²;
Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 1, 1302 ff.; Franck, Et.
wb. d. ndl. taal² 71; Vries, Ndls. et. wb. 64 f.; Et. wb.
Ndl. A-E 327; Boutkan, OFris. et. dict. 244; Hof-
mann-Popkema, Afries. Wb. 51; Richthofen, Afries.
Wb. 640; Fryske wb. 2, 379 ff.; Dijkstra, Friesch Wb.
1, 197 f.; Fort, Saterfries. Wb. 81; Sjölin, Et. Handwb.
d. Festlnordfries. XXVIII; Holthausen, Ae. et. Wb.
202; Bosworth-Toller, AS Dict. 82; Suppl. 76; ME
Dict. s.v. bilīven v.; OED² s. v. †belive v.¹; Jóhannes-
son, Isl. et. Wb. 954; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske
sprog 1, 156; Holthausen, Falk-Torp, Norw.-dän.
et. Wb. 83; Nielsen, Dansk et. ordb. 56; Ordb. o. d.
danske sprog 2, 820 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 30;
NOB s.vv. bli, blive; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 79;
Svenska akad. ordb. s. v. blifva; Feist, Vgl. Wb. d. got.
Spr. 91; Lehmann, Gothic Et. Dict. B-56. 58. — Mar-
key 1969 (ausführlich zum Nordgerm., synchrone und
diachrone Beschreibung des Lehnworts bliva, zum
Vorkommen des Verbs in den germ. Sprachen).
Urgerm. *-līe/a- < vorurgerm. *-léi̯pe/o-
hat die Wz. uridg. *lei̯p- ‚kleben, haften
bleiben‘ zur Grundlage; die urgerm. Form
erklärt sich durch Übertragung des -- aus
Formen, die Verners Gesetz unterlagen. Vor-
urgerm. *-léi̯pe/o- setzt ein in anderen idg.
Sprachen nicht bezeugtes vollstufiges the-
mat. Präs. fort. Die urspr. Präs.bildung des
Uridg. war nach Ausweis von ai. rimpáti
‚beschmieren, (an-)kleben, betrügen‘ und lit.
lìmpu, lìpti ‚kleben bleiben‘ ein n-Infix-Präs.
uridg. *li-né/n-p- (das Ai. zeigt die auch bei
einigen anderen urspr. athem. n-Infix-Bil-
dungen beobachtbare Thematisierung, z.B.
kṇtáti zur Wz. kart- ‚schneiden‘ oder inváti
neben inóti zur Wz. ²ay- ‚treiben, drängen‘).
Zur Kausativbildung uridg. *loi̯p-éi̯e- ‚kle-
ben lassen, liegen lassen, übrig lassen‘ s.
leiben.
Ausgehend von der urspr. Bed. haben sich in
anderen idg. Sprachen verschiedene Neben-
bed. entwickelt:
Der uridg. Ausgangsbed. ‚kleben, haften
bleiben‘ steht die Bed. ‚liegen bleiben, übrig
bleiben‘ nahe, die in ahd. bi-lîban sowie got.
bi-laif ‚blieb‘ (falls dazugehörig und so zu
interpretieren; s. o.), bi-laiban ‚bleiben‘, aisl.
lifa ‚übrig bleiben, leben‘, got. lifan ‚leben‘
und toch. B lipa ‚blieb übrig‘, lipetär ‚bleibt
übrig‘ bezeugt ist.
Die baltoslaw. Sprachen zeigen weitgehend
die urspr. Bed.: lit. limpù, lìpti, lett. lìpu, lipt
‚kleben bleiben, klebrig sein‘, aksl. pri-lьpe
(Aor.) ‚blieb kleben‘, pri-lěpiti ‚ankleben‘;
im Baltoslaw. erhält die Wz. teilweise die
übertragene Bed. ‚sich einschmeicheln, freund-
lich tun oder sein‘ wie in dt. sich an jmdn.
(her-)anschleimen ‚sich einschmeicheln, mit
jmdm. freundlich tun‘, z.B. in lit. lipštùs
‚klebrig, schleimig, freundlich, leutselig‘,
lett. lipu, lìpt ‚kleben, anhaften, sich an-
schmiegen, einschmeicheln‘, russ. l’nút’ ‚an
etw. kleben, sich einschmeicheln‘.
In den indoiran. Sprachen hat die Wz. eine
Bed.verschiebung von ‚klebrig sein‘ zu ‚dre-
ckig, schmierig, ölig sein‘ erfahren. Daneben
zeigt ai. rep-/rip- ‚schmieren, ölen, ankleben,
schmutzig sein‘ häufig die übertragene Bed.
‚betrügen‘ < *‚anschmieren‘ mit demselben
semantischen Wandel wie in dt. jmdn. an-
schmieren ‚jmdn. betrügen‘, z.B. in ai. ríp- f.
‚Betrug‘, ai. ripú- adj. ‚betrügerisch‘ (Werba
1997: 228). Diese übertragene Bed. hat sich
in den iran. Sprachen durchgesetzt: mpers.
frēftan, npers. fi-rēftan, osset. fæ-līvyn, fi-
levun ‚betrügen‘, npers. rēv ‚Betrug‘. Im Ai.
hat nur die r-Variante diese sekundäre Bed.;
die jüngere ai. Wz.form lep-/lip- (mit urspr.
dial. Anl. l-) samt ihren Ableitungen bedeu-
tet ausschließlich ‚ölen, schmieren, salben, an-
kleben, beschmieren, beschmutzen‘; in den
ai. Fortsetzern der Wz. liegt somit ein Fall
von sekundärer semantischer Spaltung vor.
Eine Bed.verengung auf ‚klebrig sein, kle-
ben‘ und weiter zu ‚fett(ig) sein, vor Fett
glänzen‘ zeigen Fortsetzer dieser Wz. außer
im Germ. (s. lebara) nur noch im Gr.: Gr.
λιπαρός adj. ‚fett, fettig, schmierig, vor Fett
glänzend‘, λιπάω ‚glänze vor Fett oder Öl‘,
λιπαίνω ‚öle, schmiere, salbe‘ sind inner-
gr. Ableitungen (Schwyzer, Gr. Gramm.² 1,
480 f. 723 f. 732 f.) vom Adv. gr. λίπα ‚ölig,
fettglänzend‘ (seit Homer) < akk.sg. uridg.
*lip- oder Koll. uridg. *lip-h₂ (Meissner
2006: 63 f.) eines Wz.nomens, das in ai. rip-
f. ‚Schmutz, Betrug‘ (s. o.) bezeugt ist; ferner
gr. λίπος n. ‚Fett, Talg‘, λιπόω ‚glänze vor
Fett‘. Nach de Vaan (Et. dict. of Lat. 345)
u. a. gehört vielleicht noch lat. lippus Adj.
‚having watery or inflamed eyes; triefäu-
gig, mit tränenden Augen‘ (Bed.einengung
von *‚verschmiert‘ auf ‚verschmierte Augen
habend, triefäugig‘) mit unklarer Geminate
-pp- hierher (Walde-Hofmanns [Lat. et. Wb.
1, 434 f.] Herleitung aus urital. *lip-u̯o- ist
aus lautlichen Gründen nicht möglich; vgl.
Sommer-Pfister 1977: 168). Nach Meiser
[1998] 2010: § 88, 5 ist -pp- als „expressive
Geminate“ erklärbar.
Walde-Pokorny 2, 403 f.; Pokorny 670 f.; LIV² 408f.
(*lei̯p-); NIL 520 ff. (*lei̯p-); Mayrhofer, KEWA 3,
60 f. (rip-); ders., EWAia 2, 460 (rep); Cheung, Et.
dict. of Iran. verb 308 (*rai̯p); Horn, Grdr. d. npers.
Et. Nr. 643. 829; Hübschmann, Pers. Studien Nr. 829;
Frisk, Gr. et. Wb. 2, 126 f.; Chantraine, Dict. ét. gr.
642 (λίπα); Beekes, Et. dict. of Gr. 1, 864 (λίπα); Wal-
de-Hofmann, Lat. et. Wb. 1, 434 f. (lippus); Ernout-
Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 644 (lippus); de Vaan, Et. dict.
of Lat. 345 (lippus); Meyer-Lübke, Rom. et. Wb.³ Nr.
5075; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 161 f.; Berneker,
Slav. et. Wb. 1, 711 ff. 754 f.; Trubačëv, Ėt. slov. slav.
jaz. 14, 217 ff. (*lěpiti). 225 ff. (*lěpъjь); Derksen, Et.
dict. of Slav. 273 (*lěpiti, *lě̑pъ¹). 274 (*lě̑pъ¹). 297
(*lьnǫti); Et. slov. jaz. staroslov. 715; Vasmer, Russ.
et. Wb. 77; ders., Ėt. slov. russ. jaz. 2, 543; Fraenkel,
Lit. et. Wb. 375 (lìpti); Smoczyński, Słow. et. jęz. lit.
357 f. (lìpti¹); Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 2,
474 f.; Karulis, Latv. et. vārd. 1, 539; Windekens, Lex.
ét. tokh. 56; Adams, Dict. of Toch. B 555. — Lühr
2000: 145 f.; Sommer-Pfister 1977: 168.